Als er zum ersten Mal nach Somalia zurückreiste, verlor Bashir Dahir bei einem Terroranschlag einen Arm. Jetzt hat er Schaffhausen zum zweiten Mal verlassen. Doch er träumt bereits wieder von einer Rückkehr in die Schweiz.
«Hoi Marlon. Wie geht es dir?» Bashir Dahir klingt wie immer, als er mir am 22. März 2023 eine Nachricht schreibt. Doch diesmal kommt die Nachricht nicht aus dem Durchgangszentrum für Asylsuchende in Buch, dem Wohnheim in Neunkirch oder der kleinen Wohnung in Neuhausen, den Orten, an denen Bashir in den vergangenen Jahren gewohnt hat. Er schreibt, er sei wieder ausgereist aus der Schweiz und lebe jetzt in Mogadischu, der Hauptstadt Somalias. Aber es gehe ihm schlecht. Die ewigen Bomben, mit denen islamistische Milizen die Stadt terrorisieren, machten ihn verrückt. Ich solle nach Afrika kommen, um den zweiten Teil seiner Geschichte zu erzählen. Und um ihm zu helfen, wieder in die Schweiz zu kommen – zum dritten Mal.
Als ich anfange, über Videocalls in Bashirs neues Leben einzutauchen, merke ich bald: Es geht ihm tatsächlich nicht gut. Aber mit Bomben haben seine Probleme nur am Rande zu tun.
Auf einen Fleischkäse mit Thomas Hurter
Vor einigen Jahren habe ich schon einmal über Bashir Dahir geschrieben, einen charismatischen jungen Mann aus Somalia mit einer überwältigenden Energie. Bashir war 2005 im Alter von 21 Jahren nach Schaffhausen gekommen und hatte sich hier ein Leben aufgebaut, das ihn für viele andere Migranten zum Vorbild machte. Vordergründig hatte er sich blendend integriert, er war gern gesehen in der alternativen Kulturszene, ass aber auch Fleischkäse mit SVP-Nationalrat Thomas Hurter und sagte, an der Schweiz schätze er drei Dinge: Sicherheit, Sauberkeit und Pünktlichkeit. Bashir lernte Deutsch, arbeitete als Maurer, bekam den B-Ausweis, eine reguläre Aufenthaltsbewilligung. Auf Bildern in den sozialen Medien sah man ihn strahlend und gut angezogen mit Schweizer Freunden am Montreux Jazz Festival.
Bashirs Geschichte zeigte aber auch, wie schwer es in der Schweiz ist, als Migrant tatsächlich Fuss zu fassen. Die Schweizer Mentalität war eine Herausforderung für den herzlichen, aber auch aufbrausenden Mann. Sein Umgang mit Geld war für hiesige Verhältnisse leichtsinnig. Wenn er im Winter warme Kleider erhielt, warf er sie im Frühling wieder weg, anstatt sie im Estrich zu verstauen. Im nächsten Winter ärgerte er sich darüber, dass er keine neuen bekam. Er wollte eine Familie gründen, doch das klappte nicht. Wenn er Anstellungen hatte, waren sie meist temporär und der Lohn war tief. Bashir sagte zu mir, er habe immer wieder «Stress» gehabt mit anderen Leuten.
Als 2017 sein Vater in Somalia starb, fiel Bashir in eine Depression. Er wollte den Vater beerdigen, doch das Ersparte reichte dafür nicht aus. Der Frust wuchs, und als ein Bekannter aus Kanada am Horn von Afrika ein gemeinnütziges Landwirtschaftsprojekt aufbauen wollte, überlegte sich Bashir mitzugehen. Er habe auf einem Spargelhof in Ramsen gelernt, wie Schweizer Landwirtschaft funktioniere, sagte er zu mir, und bei der sozialen Einrichtung Altra habe er gesehen, wie man ein Beschäftigungsprogramm aufziehe. Dieses Wissen, dachte Bashir, könnte man in Afrika gut gebrauchen.
Zwei Tonnen Sprengstoff
Am 11. August 2017 überwies die Ausgleichskasse 13 576 Franken auf ein Konto der Salaam African Bank in Djibouti, Bashirs Pensionskassenvermögen. Mit der Summe hätte er in Somalia eine Existenz aufbauen können, doch zwei Monate nach der Überweisung zerfielen die Pläne zu Staub. Am 14. Oktober 2017 wollte Bashir in der Hauptstadt Mogadischu ein paar Besorgungen machen, als unweit von ihm ein anderer junger Mann seinen Lastwagen mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch die Strassen der Innenstadt jagte. Der Mann war ein Anhänger der Al-Shabaab-Miliz, im Inneren seines LKW lagen zwei Tonnen Sprengstoff. Der 14. Oktober 2017 sollte zur Chiffre für den islamistischen Terror in Somalia werden. An diesem Tag ereignete sich das blutigste Attentat in der Geschichte des Landes, 600 Menschen starben, hunderte wurden verletzt.
Einer von ihnen war Bashir Dahir.
Da der türkische Präsident Erdogan die Katastrophe nutzen wollte, um seinen Einfluss in Somalia auszubauen, liess er einige Schwerverletzte medienwirksam ausfliegen. Kurze Zeit später beugten sich Ärzte in einem Spital in Istanbul über Bashirs Körper, nahmen ihm den rechten Arm ab und versuchten, seiner versengten linken Hand wieder Kontur zu geben.
Was danach geschah, lässt sich nicht zweifellos nachvollziehen. Fakt ist: Weil sich Bashir Dahir ordnungsgemäss in der Schweiz abgemeldet hatte, war sein B-Status erloschen, eine Rückkehr in die Schweiz also theoretisch unmöglich. Dank der Hilfe von Freunden in Schaffhausen, Ärzten in Istanbul, dem Schweizer Generalkonsulat und einem türkischen Rechtsanwalt sass Bashir Dahir dennoch eines Tages in einem Flugzeug nach Zürich. Ein optisch noch halbwegs gültiger Reisepass und nachlässige (oder gnädige) türkische Zollbeamte dürften ihr Übriges getan haben.
Zwölf Jahre nach seiner ersten Ankunft in Schaffhausen war Bashir wieder auf Feld eins: Durchgangszentrum Friedeck in Buch, Asylstatus F, «vorläufig aufgenommen».
Gefangen in einem zerstörten Körper
Als ich Bashir Dahir 2018 kennenlernte, wunderte ich mich über die Vehemenz dieses Mannes, der gerade einen Arm verloren hatte und den verbleibenden nur noch eingeschränkt benutzen konnte. Ich sprach mit Bashirs Arzt, der ihm eine «erstaunliche Resilienz» attestierte, und mit Freunden von früher, die sagten, es sei beeindruckend, wie wenig er sich verändert habe seit dem Attentat. Ich hörte, im Spital in Istanbul habe er andere Amputierte getröstet und aufgemuntert. Bashir selber sagte zu mir, er wolle sich umschulen lassen, Dolmetscher werden, Journalist, Sozialarbeiter, ein Vorbild sein für andere Geflüchtete. Stundenlang sprudelte es aus ihm heraus. Doch während seiner Monologe konnte er urplötzlich in tiefe Trauer und Hoffnungslosigkeit verfallen. Ich schrieb danach, Bashir sei «ein Luftibus, gefangen in einem zerstörten Körper».
Dann verloren wir uns aus den Augen. Bis sich Bashir im Februar 2020 wieder bei mir meldete. Er sagte, ich solle ihm helfen, er habe Bussen bekommen, weil er schwarz gefahren sei, nun habe er Angst, dass er ins Gefängnis müsse, weil er sie nicht bezahlen könne. Von anderen Leuten hörte ich, er habe Ärger bekommen, nachdem er in einem Laden eine Kassiererin attackiert habe. Einige Monate später, im Oktober 2020, las ich in einer Polizeimeldung, ein 36-jähriger psychisch auffälliger Mann aus Somalia habe bei Dörflingen in einem Bus randaliert und den Buschauffeur bedroht. Schliesslich habe er die Frontscheibe zertrümmert und sei verhaftet worden. Da Bashir die Busse von 1300 Franken nicht bezahlen konnte, musste er die Strafe absitzen, 42 Tage im Schaffhauser Untersuchungsgefängnis, so steht es im Strafbefehl der Staatsanwaltschaft.
Die Episode mit dem Buschauffeur steht sinnbildlich für eine Entwicklung. Spricht man heute mit Bashir und mit Menschen, die mit ihm in dieser Zeit zu tun hatten, Menschen aus der Kulturszene, Behördevertretern, medizinischen Fachpersonen, Bashirs Freunden, dann entsteht das Bild eines Mannes in einer Spirale der Ohnmacht. Bashir war nicht nur gefangen in einem zerstörten Körper, er sass auch in einem Land, das nicht mehr bereit war, ihn zu tragen.
Früher, mit zwei starken Armen, konnte er auf dem Bau bis zu 4000 Franken pro Monat verdienen, jetzt, mit den verbleibenden drei Fingern, hatte Bashir einen gesetzlichen Anspruch auf 443 Franken und 70 Rappen pro Monat vom Sozialamt (Wohnkosten, Krankenkasse und Gesundheitskosten wurden direkt vom Sozialamt bezahlt). Wäre er in der Schweiz Opfer eines Attentats geworden, hätte er Anspruch auf eine IV-Rente und umfangreiche Integrationsmassnahmen. Da er sich bei Eintritt der Invalidität aber nicht ununterbrochen während zehn Jahren in der Schweiz aufgehalten hatte, hat Bashir als vorläufig aufgenommener Ausländer keinen IV-Anspruch.
Die Bürokratie der Versicherungen
Das Sozialamt hat immer wieder seinen Ermessensspielraum ausgeschöpft, um angemessen auf die tragischen Umstände zu reagieren und Bashir zu unterstützen. Es hat ihm eine Prothese anfertigen lassen, es hat versucht, ihn mit bürokratischen Winkelzügen in einem Wohnheim unterzubringen, für ihn einen Ausbildungsplatz bei der Altra zu organisieren, ihm eine eigene Wohnung zu verschaffen, seine Beiträge zu erhöhen. Doch immer wieder scheiterten die Versuche. Mal war Bashir unzuverlässig, mal war er wütend und aggressiv. Er wurde aus seiner Wohnung geworfen, weil er immer wieder zu laut ferngesehen und Musik gehört hatte. Dass sein Verhalten auch damit zu tun hatte, dass er seit der Bombenexplosion einen schweren Hörschaden hat und eigentlich ein Hörgerät bräuchte, wurde dabei ausgeblendet.
Bashirs Frust über die Ungleichbehandlung war gross. Und er wurde noch grösser, als ukrainische Geflüchtete in Schaffhausen ankamen und sofort den neu geschaffenen Asylstatus S erhielten, während er, der schon vor 18 Jahren nach Schaffhausen gekommen war, stagnierte. Er sprach die Ukrainerinnen direkt an, liess seinen Frust an ihnen aus. Aber auch an seinen Nächsten, die ihm helfen wollten. Er habe in dieser Zeit viel verbrannte Erde hinterlassen, sagt ein ehemaliger Freund.
Bashir selber sagt heute, er sei in dieser Zeit den ganzen Tag in seinem Zimmer rumgesessen, geplagt von Schmerzen in seiner kaputten Hand. Für ein soziales Leben habe er kein Geld gehabt. Um ins TapTab oder ins Orient zu gehen und dort etwas zu trinken, hätte er Leute anbetteln müssen. «Ich bin von oben nach ganz unten gefallen, Bruder!». Manchmal schickt mir Bashir in der tiefen Nacht lange und wütende Nachrichten, in denen er über die «Rassisten» in der Schweiz herzieht.
Dann, im Herbst 2022, wurde seine wöchentliche Ergotherapiestunde völlig unerwartet gestrichen. Trotz zwei Wiedererwägungsgesuchen durch den Hausarzt und die Ergotherapeutin hielt die Krankenkasse an ihrem Entscheid fest. Sie argumentierte, die Therapie sei zwar hilfreich, es sei jedoch «keine funktionelle Verbesserung ersichtlich». Die Unfallversicherung, die in solchen Fällen eigentlich zahlen müsste, übernahm den Fall nicht, weil Bashir zur Zeit des Anschlags nicht mehr in der Schweiz versichert war. Bashirs Ergotherapeutin spricht von einer «Lücke im Gesundheitssystem» und sagt, die Krankenkasse könne in derartigen Fällen offensichtlich «willkürlich entscheiden».
Am Abend des 21. Dezember 2022 bestieg der mittlerweile 38-jährige Bashir Dahir in Zürich ein Flugzeug der Ethiopian Airlines. Die finanzielle Rückkehrhilfe des Bundes, die ihm zugestanden wären, hatte er nicht in Anspruch genommen. Ein Freund sagt, Bashir habe sich bei seiner Abreise in einem Zustand befunden, in dem er keine vernünftigen Entscheidungen habe treffen können. Am Morgen des nächsten Tages war er wieder in Mogadischu.
Ein Neustart in Afrika?
Somalia ist einer der gefährlichsten Orte der Welt. Erst kürzlich besuchte der UN-Generalsekretär António Guterres das Land, um auf den anhaltenden Terror und eine der schlimmsten Dürren seit Jahrzehnten aufmerksam zu machen. Gemäss UN-Angaben leben 70 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Millionen Menschen sind auf der Flucht.
Seit 1991 herrschen in Somalia bürgerkriegsähnliche Zustände. 2011 mussten sich die radikalislamistischen Al-Shabaab-Milizen aus der Hauptstadt Mogadischu zurückziehen, doch seither übersäen sie die Millionenstadt mit Attentaten. Die Menschen leiden stark unter der ständigen Angst vor den Bomben. 2019 schrieb die NZZ am Sonntag, gemäss der Weltgesundheitsorganisation weise Somalia eine der höchsten Dichten an psychischen Krankheiten weltweit auf. Die Rede war von Psychosen, Schizophrenie, bipolaren Störungen, Paranoia, Depressionen, posttraumatischen Belastungsstörungen. Jede dritte Person sei davon betroffen. Ein somalischer Arzt sagte zur Schweizer Zeitung: «Viele merken nicht, dass sie Schaden nehmen. Sie überleben eine Bombe und freuen sich. Erst Jahre später gehen sie daran kaputt.»
Wie ich all das lese, denke ich an Bashir.
Als ich ihn im März 2023 zum ersten Mal über den Bildschirm sehe, ist das Bild verruckelt und der Ton schlecht. Bashir sitzt in einer dunklen Wohnung, man hört Stimmen, das Hupen von Autos. Die Geschichte, die er erzählt, ist trostlos. Er lebe hier mit seiner Mutter, die seit dem Tod ihres Mannes depressiv sei, und mit der Familie seines verstorbenen Bruders. Bashir sagt, er müsse jetzt der Vater für die vier Kinder werden. Sein jüngerer Bruder sei zwar auch noch da, aber der sei heroinabhängig. Die Situation sei unerträglich. Seine Verwandten hätten gedacht, er komme zurück, um sich um die Mutter zu kümmern. Sie hätten gedacht, er würde aus der Schweiz Geld mitbringen. Dabei sei er es, der mit seiner Behinderung Unterstützung brauche. «Niemand verdient hier Geld, Bruder!» Ob ich nicht welches schicken könne, damit er mit der Familie nach Kenia auswandern könne, fragt Bashir, weg von den Bomben. Ein Neffe von ihm habe ein Bankkonto, er könne mir die Kontonummer schicken.
Ich höre Bashir zu, aber mit der Zeit kommen Zweifel an seiner Geschichte auf. Freunde von ihm sagen mir, Bashir sei gar nicht mehr in Mogadischu, und als ich eines Tages am Bildschirm mit einer Tochter von Bashirs verstorbenem Bruder rede und sie frage, wo sie denn gerade sei, antwortet sie: «Kenya. Mombasa.» Bashir sitzt neben ihr auf dem Sofa und scheint gar nicht zu begreifen, warum ich erstaunt bin. Nun ist er eben in Kenia, na und?
Nun erzählt er, wie er hier, im Haus in Mombasa, in dem er wohnt, ein kleines Lebensmittelgeschäft übernehmen wolle. Natürlich fehlt auch dafür das Geld, doch gerade klingt Bashir ziemlich optimistisch. Freunde erzählen, seit er mit seiner Mutter in Mombasa sei, wirke Bashir ruhiger, weniger aufgekratzt. Sie hätten das Gefühl, Afrika sei heilsam für ihn.
Doch kurz darauf ist alles wieder anders. Zum Abschied sagt er: «Hilf mir, mit meiner Familie in die Schweiz zu kommen, Bruder!» Er vermisse die eigene Wohnung, die Krankenversicherung, die Natur, den Traubensaft von Coop. Und wie er vom Bildschirm verschwindet, frage ich mich, ob Bashir wohl jemals ankommen wird in einer der beiden Welten.