Wie eine Schaffhauser Firma das Öl eines mit Putin verbandelten Oligarchen an den Sanktionen vorbeischifft.
Simon Muster und Mattias Greuter
«Priwjet Sacha!» – Dieter Neuhoff telefoniert mit dem Moskauer Büro seiner Rohstoffhandelsfirma, der Journalist der Schaffhauser Nachrichten drückt auf den Auslöser seiner Kamera. Es ist das Jahr 2010, und die Beziehungen zu Russland sind entspannt. Ein Teil des blühenden Handels läuft über die Schaffhauser Firma NewCoal Trading AG von Dieter Neuhoff: Sie kauft in Russland und in der Ukraine Kohle für europäische Energie- und Industriebetriebe.
Die Zwischenstation in Schaffhausen mache nicht zuletzt wegen der anhaltenden Spannungen mit «dem ehemaligen Ostblockstaat» Ukraine und Moskau Sinn, erklärt Neuhoff dem Journalisten der SN. Dieser beendet sein Firmenporträt mit der Erkenntnis: «Die Zeiten haben sich geändert, die Kohle ist geblieben.»
Turbulente Zeiten
Heute, acht Jahre nach der Annexion der Krim und ein Jahr nach dem Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine, haben sich die Zeiten wieder geändert. Und die Kohle? Wie Recherchen der AZ und von ukrainischen Journalisten vor Ort zeigen, handelte die Schaffhauser Firma auch nach dem russischen Angriff auf die Ukraine mit russischen Rohstoffen. Und half so von ihrem Büro am Herrenacker aus, internationale Sanktionen zu umgehen. Sie ist mutmasslich mit den politischen Machenschaften eines engen Freundes von Vladimir Putin verbandelt – Verbindungen bis in die Kreml-Spitze.
Bereits vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 steckt ihre einst stolze Kohleindustrie in der Krise. Tausende Mineure verlieren ihre Arbeit und die, die ihn behalten können, warten bis zu einem Jahr auf ihren Lohn. Im Sommer 1991 formiert sich ein grossangelegter Streik der Minenarbeiter. Ein gewisser Boris Jelzin erkennt die Gunst der Stunde und signalisiert den Streikenden Unterstützung. Wenige Monate später tritt Michail Gorbatschow ab – die Sowjetunion ist Geschichte.
In diesem turbulenten Jahr 1991 beginnt 2500 Kilometer westlich von Moskau die Firma Plan Marine Holding AG in Schaffhausen, ihr Kohlegeschäft aufzubauen. Dieter Neuhoff, späterer Inhaber der NewCoal Trading AG, damals Angestellter bei der Plan Marine AG, knüpft in Russland Kontakte zu sibirischen Kohlehändlern.
1997 entsteht als Auskopplung aus der Plan Marine AG die NewCoal Trading AG. Der kurzgehaltene Zweck laut Handelsregister: «Handel mit Kohle.» Im gleichen Jahr schreibt Vladimir Putin seine Doktorarbeit am Bergbau Institut in St. Petersburg: Er skizziert darin die Bedeutung von Erdgas- und Erdölexporten für die Durchsetzung von Russlands aussenpolitischen Zielen.
Die Schweiz etabliert sich derweil als Handelsplatz für russische Rohstoffe – mit tiefen Unternehmenssteuern, wirtschaftlicher Offenheit gegenüber Russland und dem festen Glauben an Selbstregulierung statt staatlicher Intervention.
Kohle wird Anfang der Nullerjahre zu einem immer beliebteren Finanzprodukt, wie die Menschenrechtsorganisation PublicEye im März 2022 in einer Recherche nachgezeichnet hat. Ideal für ein Land mit einem starken Bankensektor, der Erfahrungen in der Finanzierung von Handelsbeziehungen hat. Und ideal für eine Firma wie die NewCoal Trading AG, mit ausgeprägten Beziehungen zu russischen Rohstoffkonzernen: Sie kauft die Kohle für ihre Auftraggeber in Russland ein und übernimmt auch die Versicherung für den Transport der Ware. Ein Rundumpaket.
2014 annektiert Russland die Krim, die internationale Gemeinschaft reagiert mit Empörung und Sanktionen. Und die Geschäfte von Dieter Neuhoff brechen in sich zusammen: Der Hafen Mariupol steht nicht mehr zur Verfügung. «Ich wollte die Firma auflösen», erzählt er auf Anfrage.
Neue Inhaber und Öl statt Kohle
Doch dann wird Neuhoff von russischen Investoren kontaktiert. «Sie sagten mir, sie bauen eine Raffinerie in Sibirien und baten mich, die Finanzierung des Baus und die Vermarktung des Öls zu organisieren.», sagt Neuhoff. Die NewCoal Trading AG wird von der Kohle- zur Ölhandelsfirma.
2015 verkauft Dieter Neuhoff die Firma an die Investoren, bleibt aber als Geschäftsleiter. Zwei Jahre später wird die Firma erneut verkauft. Neuhoff bleibt ein weiteres Jahr, bevor er die Firma 2018 verlässt: Es habe «kein gegenseitiges Verständnis» bestanden, sagt er vorsichtig.
Er habe eine Schweigepflicht unterschrieben, er dürfe der AZ also nicht sagen, wer die Firma heute besitzt. Was aber klar ist: Die neuen Besitzer scheuen die Nähe zum russischen Regime nicht und helfen bald, die Sanktionen gegen einen Putin-nahen Oligarchen zu umgehen.
Das zeigen Recherchen eines Kollektivs aus ukrainischen Radio- und TV-Stationen, die bei Radio Free Europe erschienen sind: Im Jahr 2020 verkauft eine Raffinerie im russischen Nowoschachtinsk, nahe der ukrainischen Grenze, mindestens sechs Schiffsladungen an Erdölprodukten an den US-amerikanischen Energiekonzern ExxonMobile. Dieser darf mit der Raffinerie zu diesem Zeitpunkt bereits seit sechs Jahren nicht mehr handeln, er würde damit gegen die von den USA verhängten Sanktionen verstossen. Aber das Öl, das von Russland nach Texas verschifft wird, macht einen rein buchhalterischen Zwischenhalt: Die Raffinerie verkauft es an die NewCoal Trading AG in Schaffhausen, die es an ExxonMobile weiterverkauft.
Die ukrainische Recherche belegt die Transaktionen mit Akten der amerikanischen Zollbehörde: Herkunftshafen, die Namen der Schiffe und jedes Barrel Öl sind vermerkt. Den Wert der sechs Schiffsladungen schätzen die ukrainischen Journalistinnen und Journalisten auf 150 Millionen Dollar.
Mit anderen Worten: Mit Hilfe der Schaffhauser Handelsfirma wird russisches Öl weiterhin in die USA verkauft, werden Sanktionen unterlaufen. Ein ehemaliger Berater der Kontrollbehörde des US-amerikanischen Finanzminsteriums, die für die Umsetzung von Sanktionen zuständig ist, wird in der ukrainischen Recherche zitiert: Das ist sicherlich zwielichtig und unterläuft den Rahmen der Sanktionsabsicht.»
Profiteur dieses Umgehungsgeschäfts ist neben der Schaffhauser NewCoal Trading AG vor allem ein Mann: Wiktor Medwedtschuk, persönlicher Freund und Vertrauensmann von Vladimir Putin und eine Schlüsselfigur im Vorfeld des Ukrainekriegs.
Putins Mann in der Ukraine
Vor der Krim-Annexion war Medwedtschuk Putins Mann in der Ukraine, der wichtigste pro-russische Politiker im Land, Herrscher über ein Medienimperium und mehrere Rohstofffirmen. Putin ist der Taufpate von Medwedtschuk Tochter. Ihre Taufpatin ist die Frau von Dmitri Medwedew, der zwischen 2008 und 2012 das Amt des russischen Präsidenten von Putin kurzzeitig übernahm. Maxim Savchuk, der für Radio Free Europe am erwähnten Recherchekollektiv beteiligt ist und das Beziehungsnetz von Medwedtschuk öffentlich aufgeschlüsselt hat, erklärt der AZ auf Anfrage: «In Russland und der Ukraine ist die Tradition des Taufpatentums sehr wichtig. Meistens werden enge Freunde Pate oder Patin.»
2014 kauft Putins Intimus Wiktor Medwedtschuk die Mehrheit der Raffinerie von Nowoschachtinsk unweit der ukrainischen Grenze, die im gleichen Jahr von pro-russischen Separatisten erodiert wird.
Wegen des Überfalls auf die Krim verhängt die USA Sanktionen gegen Wiktor Medwedtschuk. Dieser überträgt seinen Mehrheitsanteil an der Raffinerie sogleich an seine Frau und sagt öffentlich warum: «Meine Frau, Oksana Marchenko, ist nicht im Geschäft. Sie besitzt ein Unternehmen. Und ich leite das Unternehmen. Warum kann ich kein Unternehmen besitzen? Weil meine lieben Amerikaner Sanktionen gegen mich verhängt haben.» Ein bei russischen und pro-russischen Oligarchen beliebter, aber für Regulatoren durchschaubarer Trick. Amerikanischen Unternehmen ist es dennoch verboten, Öl aus der Raffinerie von Putins wichtigstem Mann in der Ukraine zu kaufen. Darum arbeitet Medwedtschuk mit der NewCoal Trading AG zusammen, um sein Öl nach Texas zu verkaufen.
Journalist Maxim Savchuk vom ukrainischen Recherchekollektiv sagt auf Anfrage der AZ, er habe Belege für Transaktionen im Juli 2022 gefunden, also vier Monate nach Kriegsbeginn. Das heisst: Während Russland in der Ukraine wütete und eine Reihe von Kriegsverbrechen beging, lieferte die Schaffhauser NewCoal Trading AG Erdöl von Russland in die USA. Inzwischen habe sich die Frau von Medwedtschuk aber aus der Novoshakhtinsky-Raffinerie zurückgezogen – ob er die Raffinerie weiterhin lenkt, sei unklar.
Von Sanktionen, welche die Schweiz zögerlich einführt, ist dieses Geschäft nicht betroffen.
Die Ukraine aber eröffnet 2021 gegen Medwedtschuk ein Verfahren wegen Hochverrats und stellt ihn unter Hausarrest. Als Russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine einfällt, gelingt ihm mit Unterstützung des russischen Geheimdienstes FSB eine abenteuerliche Flucht, bei der laut Quellen aus Geheimdiensten mehrere Doppelgänger eingesetzt werden. Nach Informationen des polnischen Geheimdienstes hätte Medwedtschuk zum Präsidenten der neuen Ukraine ausgerufen werden sollen, wenn der russische Plan, rasch die Hauptstadt Kiew zu besetzen, gelungen wäre.
Doch daraus wird nichts: Erstens kommt der russische Angriff ins Stocken, zweitens wird Medwedtschuk im April 2022 gefasst. Anstatt ukrainischer Präsident wird er ukrainischer Häftling. Im September 2022 wird er gegen 200 Soldaten ausgetauscht, die Russland mehrheitlich nach den Kämpfen um Mariupol in Gefangenschaft genommen hat. Heute lebt Medwedtschuk wahrscheinlich in Moskau. Und plant von dort den Umsturz von Präsident Wolodimir Selenski – mit gütiger Mithilfe des russischen Vertreters der Schaffhauser NewCoal Trading AG.
Am 26. Januar 2023 tritt Medwedtschuk beim russischen Propagandasender RT in einer Talkshow auf: moderne Möbel, schwarzer Hintergrund, luftige Fragen. Medwedschuk sieht gelöst aus. Und er verkündet Grosses. Er wolle von Russland aus eine neue politische Bewegung starten, die den Mythos einer geschlossenen Ukraine entkräften soll, die hinter Selenski und seinem «kriminellen Regime» stehe.
Auf Propaganda folgen Panzer
Zeitgleich zu dieser Ankündigung expandieren Erdölfirmen und Firmenkonstrukte, die mit dem Unternehmen seiner Familie verbunden sind. Das zeigt das Beispiel des russischen Konglomerats GK Market. Die Firma besitzt mehrere Erdölproduzenten, Tankstellenketten und eine Erdölhandelsfirma. Wie das Recherchekollektiv um Maxim Savchuk rekonstruieren konnte, übernehmen im September 2022 zwei Personen aus dem Umfeld von Medwedtschuk die Kontrolle von GK Market. Einer davon: ein Mann namens Nikolay Sukhov, Leiter der russischen Niederlassung der Schaffhauser NewCoal Trading AG in Moskau.
Die Recherche von Maxim Savchuk und seinem Team suggeriert, dass GK Market die neue politische Bewegung von Medwedtschuk finanzieren soll. Mit Hilfe des russischen NewCoal-Vertreters und Unterstützung von ganz oben: «Die Tatsache, dass Medwedtschuks Geschäfte in Russland nicht nur funktionieren, sondern sogar wachsen, und dass er beim staatlichen Propagandasender RT eine Plattform erhält, deutet darauf hin, dass Vladimir Putin ihm offenbar weiterhin vertraut», bilanziert die Recherche von Radio Free Europe.
Als die AZ bei NewCoal am Herrenacker 15 klingelt, öffnet eine Angestellte die Tür und bittet uns herein: Das moderne Grossraumbüro mit Fensterfront auf den Herrenacker ist leer, sie ist allein. Auf die Frage, wer der AZ die per Mail geschickten Fragen zum Handel mit russischem Öl beantworten könnte, betont sie freundlich, die Firma habe sich inzwischen ja umbenannt: Sie heisst seit einem Monat nicht mehr NewCoal Trading AG, sondern NewCommodity Trading AG. «Ich werde Ihre Anfrage mit meinem Manager besprechen», sagt die Angestellte zum Abschied.
Dieser Manager meldet sich aber nicht. Es handelt sich vermutlich um Kostiantyn Riabov, einen ukrainischen Geschäftsmann mit Wohnsitz in Lugano, eingesetzt von den neuen Besitzern.
Dieter Neuhoff, der die NewCoal Trading AG 1997 gegründet hat, weiss wenig über deren heutiges Geschäft. Neuhoff sagt, er habe seine Kontakte nach Russland abgebrochen und macht keinen Hehl daraus, dass er Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine aufs Schärfste verurteilt. Aber er spricht vorsichtig, wenn es um die heutigen Geschäfte der NewCoal geht. Er hat die ukrainische Recherche gelesen. Was sagt er zum Vorwurf, der pro-russische Oligarch und Putinfreund Wiktor Medwedtschuk umgehe mithilfe der NewCoal Trading AG amerikanische Sanktionen? Neuhoff zögert, wägt seine Worte genau ab. «Wenn Sie mich fragen, ob ich das ausschliessen kann, dann muss ich nein sagen. Ich weiss es nicht und will nicht spekulieren.»
Für den Journalisten Maxim Savchuk von Radio Free Europe in Kiew ist der Schaden, den die Schaffhauser Firma mit ihren Geschäften mit Wiktor Medwedtschuk angerichtet habe, fatal: «Geld für Medwedtschuk ist Geld für pro-russische Aktivitäten und für die Verbreitung russischer Propaganda. Wir können jetzt buchstäblich mitverfolgen, wie auf pro-russische Propaganda russische Panzer folgen».
Am 7. Mai 2023 wurden an diesem Text einige kleinere Anpassungen vorgenommen. Die ursprüngliche Fassung suggerierte, dass bis heute russisches Öl über die Schaffhauser Firma in die USA verkauft wurde. Belegt sind diese Geschäfte bis im Juli 2022.