Stark im Abbrechen

21. März 2023, Luca Miozzari
Fotos: Robin Kohler
Fotos: Robin Kohler

Gebäude abzubrechen ist klimaschädlich. Wieso verhalten sich die Schaffhauser Behörden trotzdem so abrissfreudig?

Abgerissene Häuser und Menschen die sich daran stören, das gab es in Schaffhausen schon vor über 180 Jahren. «Diese Welt ist stark im Abbrechen. Aufbauen sah ich hie noch weniges von Dauer und Geschmack», schrieb der Historiker und Zeichner Hans Wilhelm Harder 1842 in sein Tagebuch. Immer wenn ein Bauwerk in der Altstadt weichen sollte, etwa das Schwarztor oder das Paradieserhaus bei der heutigen Schifflände, war er mit Papier und Zeichenstift zur Stelle, um es noch in letzter Minute für die Nachwelt festzuhalten. «Aus Liebe zur vaterländischen Geschichte», wie er schrieb.

Ähnlich wie zur Zeit Harders und der frühen Industrialisierung scheint auch aktuell eine grössere Abrisswelle auf Schaffhausen zuzurollen. Mit dem ehemaligen Pflegezentrum und Teilen des Kantonsspitals auf dem Geissberg und dem Zeughaus sowie der KSS auf der Breite hat die Stadt vier bedeutende Gebäude, die nach heutigem Stand der Planung bald nicht mehr existieren werden. Mit Ausnahme des Zeughauses, alles «klotzige» Nachkriegsarchitektur, die heute wohl nur noch Wenige ästhetisch ansprechend finden. Trotzdem dürfte – wie bei Harder – auch Nostalgie eine Rolle spielen, wenn ihr Abbruch kritisiert wird.

Heute ist das Hauptargument gegen «Rückbauten» aber die Klimakrise. Der Heimatschutz, der WWF und Parlamentarierinnen auf Stadt- und Kantonsebene kämpfen damit aktuell gegen den Abriss des Pflegezentrums und des Zeughauses. Wenn sie abgebrochen würden, wäre alle «graue Energie» verloren, die etwa für die Herstellung des verbauten Betons gebraucht wurde.

Zwar können Baumaterialien teilweise recycelt werden, doch auch Recycling verbraucht viel Energie. «Das beste Recycling ist, ein Gebäude weiter zu nutzen», sagt Christian Wäckerlin, Präsident des Schaffhauser Architektur Forum (Scharf).

Aber woher kommt denn eigentlich diese Abrisswut der Schaffhauser Behörden? Entlang der vier Abrisskandidaten Pflegezentrum, Spital, KSS und Zeughaus lässt sich erkennen: Abbruchvorhaben in Schaffhausen folgen ganz bestimmten Mustern.

1. Es ist (vordergründig) billiger

Das Pflegezentrum auf dem Geissberg ist wohl das Gebäude unter den vier Kandidaten, das als erstes abgerissen wird. Seit es 2017 seine Funktion als kantonales Pflegeheim verloren hatte, sah es verschiedene Zwischennutzungen, etwa als Schokoladenmanufaktur und als Altersheim (siehe etwa AZ vom 17. Januar 2019). Nun steht es leer und soll in den Besitz der Stadt übergehen. Doch diese ist nur am Grundstück interessiert, nicht am 70er-Jahre-Sichtbackstein- und Waschbeton-Klotz, der darauf steht.

In ihrer Antwort auf eine kleine Anfrage von Grossstadtrat Matthias Frick (SP) sagt die Stadt: «Eine Sanierung des ehemaligen Pflegezentrums ist aus wirtschaftlicher wie auch ökologischer Sicht nicht sinnvoll.» Es habe etwa Mängel in Sachen Isolation, Fenstern und Heizungsanlage, Brandschutz und Erdbebensicherheit. Eine «ökologische Sicht» sucht man in dem Dokument jedoch vergeblich, die Argumentation bleibt auf der wirtschaftlichen Ebene: Eine Sanierung wäre zu teuer, so die Quintessenz.

Christian Wäckerlin sagt, er bezweifle nicht, dass ein Abriss günstiger sei als eine Sanierung des Pflegezentrums in seiner heutigen Form. «Ich glaube aber, wenn es ein Projekt gäbe, bei dem man zumindest Teile der Grundstruktur wiederverwenden würde, wäre das insgesamt günstiger als abreissen und neu bauen», sagt er.

Zwar gibt es mit Serge Bell und seiner Tech-Uni einen Interessenten für das Areal (siehe AZ vom 17. März 2022). Doch von einem konkreten Projekt ist man noch weit entfernt, zurzeit wird gemäss Stadt eine Machbarkeitsstudie ausgearbeitet.

Fassade des Pflegezentrums auf dem Geissberg.

2. Kein Platz für Ideen

Nur wenige Gehminuten vom Pflegezentrum entfernt markieren Bauvisiere, wo einmal das neue Schaffhauser Kantonsspital stehen soll. Daneben die heutigen Spitalgebäude: das ursprüngliche Kantonsspital aus den 1950er-Jahren und der Erweiterungsbau aus den 70ern. Letzterer soll abgerissen werden, sobald der Neubau steht.

Nachdem das Projekt bereits einmal verkleinert wurde, versucht das Spital aktuell noch mehr an Baukosten einzusparen (AZ vom 9. Februar 2023). «Mir gefällt das Siegerprojekt. Aber gerade jetzt, wo gespart werden muss, sollte man darüber nachdenken, ob man das heutige Spital nicht teilweise weiternutzen und dafür den Neubau kleiner machen könnte», sagt Wäckerlin. Er plädiert für eine «Bricolage» – das Problem mit den vorhandenen Ressourcen lösen und das Risiko eingehen, dass am Ende nicht alles «aus einem Guss» gebaut wirkt.

Faktisch war der Abriss des 70er-Jahre-Baus jedoch schon bei der Wettbewerbsausschreibung im Jahr 2016 der Ausgangspunkt des Projekts. Den Architekten war es gar nicht erlaubt, darüber hinaus zu denken. Neubau war die Kategorie, in der gedacht wurde. Genau wie heute wieder beim Pflegezentrum und dem angedachten Universitätscampus.

Keinen Raum für alternative Ideen gewährt die öffentliche Hand auch beim Zeughaus auf der Breite. Wie das Pflegezentrum gehört es dem Kanton, soll aber gemäss einer Absichtserklärung von 2018 in den Besitz der Stadt übergehen. Und wie das Pflegezentrum will es die Stadt abreissen. Aber nicht zugunsten eines Neubaus, sondern für eine sogenannte Allmend. Der Kiesplatz auf der vorderen Breite soll um das Zeughausareal erweitert werden. Denn auf den angrenzenden Flächen gibt es Pläne für eine grosse Überbauung (siehe etwa AZ vom 21. Juli 2022). Und diese könnte den Grossveranstaltungen Herbstmesse und Zirkus auf der vorderen Breite den Platz wegnehmen. Das Zeughaus muss also weg, um den Status quo zu wahren.

Die Taktik der Abrissgegner ist denn auch: möglichst viele Ideen generieren. So hat der Verein Museum im Zeughaus, der das Gebäude zurzeit nutzt, im vergangenen Jahr einen Bericht veröffentlicht, in dem sie unter anderem ein Quartierzentrum oder eine Kunstgalerie im Zeughaus vorschlagen. Die Stadt hält hingegen an ihren Abrissplänen fest, die sie bereits vor fünf Jahren beschlossen hat (AZ vom 5. Mai 2022). Das wiederum folgt einem Muster.

Dieser Teil des Kantonsspitals soll abgerissen werden.

3. Verfrühte Entscheidungen

Abrissentscheide fallen in Schaffhausen oft in einem frühen Stadium der Planung, bevor überhaupt eine neue Nutzung des Grundstücks absehbar ist. Beim Spital war der Abriss Teil der Wettbewerbsausschreibung, beim Zeughaus wurde er geplant, obwohl es noch nicht einmal konkrete Pläne für eine Überbauung gibt, die notabene das Zeughaus gar nicht direkt tangieren würden. Und das Pflegezentrum soll bereits abgerissen an die Stadt übergehen, obwohl diese nicht einmal weiss, was an seine Stelle kommen soll.

Einen Fortschritt gibt es in dieser Hinsicht bei der vierten grossen Abrisskandidatin, dem Hallenbad KSS auf der Breite. Es wurde zwar ein Neubau beschlossen, was aber mit dem denkmalgeschützten Altbau des renommierten Architekten Ernst Gisel geschehen soll, dieser Entscheid wurde auf unbestimmte Zeit vertagt (siehe AZ vom 3. November 2022). Von allen Abrisskandidierenden in Schaffhausen hat das alte Hallenbad mit seinem schulnahen Standort wohl die besten Chancen, eine neue Nutzung zu erfahren. So wie bei der KSS sollte man auch beim Pflegezentrum vorgehen, sagt Christian Wäckerlin. «Es tut niemandem weh, wenn es noch fünf Jahre auf dem Geissberg stehen bleibt. In dieser Zeit könnte man es niederschwellig zwischennutzen und Ideen generieren.»

Doch auch das «auf die lange Bank schieben» hat eine Kehrseite. Denn unter Umständen fallen Abrissentscheide implizit schon lange, bevor sie ausgesprochen werden.

Architektonisches Schmuckstück mit ungewisser Zukunft: Hallenbad auf der Breite.

4. Sollbruchbuden

Das Hallenbad auf der Breite ist in schlechtem Zustand, bereits 2017 bezeichnete die Stadt das Gebäude und die technischen Anlagen als «dringend sanierungsbedürftig». Eine Sanierung wäre möglich, das zeigt ein vergleichbares Ernst-Gisel-Bad in Meilen (ZH), das 2011 totalsaniert wurde. Doch weil die Politik mittlerweile auf die Option Neubau umgeschwenkt hat, wird in die alte KSS nur noch das Nötigste investiert. Das sieht man schon von aussen: Farbe und Verputz blättern grossflächig ab.

Dasselbe Muster beim Pflegezentrum. Die Stadt bezeichnet es als «marode und wirtschaftlich unrentabel». Das liegt allerdings nicht in der Natur des Gebäudes selbst, sondern wohl vor allem daran, dass der Kanton in den vergangenen Jahrzehnten kaum etwas darin investiert hat. «Bei der letzten baulichen Auffrischung 2009 wurde nur das Nötigste gemacht», bemerkt die Stadt in ihrer Stellungnahme gegenüber Grossstadtrat Matthias Frick.

«Marodität entsteht erst, wenn ein Gebäude keinen Nutzen mehr hat und man sich nicht mehr darum kümmert», sagt Christian Wäckerlin.

Das Zeughaus muss weg, damit alles gleich bleibt.

Der Gegentrend

Die Abrisswut der Schaffhauser öffentlichen Hand folgt also gewissen Mustern: ein starker Fokus auf (kurzfristige) wirtschaftliche Rentabilität, verfrühte frühe Entscheidungen und Ausrichtung auf Neubauten, Fantasielosigkeit und ein Umgang mit Gebäuden, der Rückbauten alternativlos erscheinen lässt. Gleichzeitig ist Schaffhausen mit dieser Rückbautendenz nicht alleine. Es folgt wiederum einem Muster, dem ein Grossteil des Landes folgt. In aktuellen Fachzeitschriften ist etwa von einem Schweizer «Bauperfektionismus» oder einer «Tabula-rasa-Mentalität» die Rede. Alles in der Baubranche ist auf Neubauten ausgerichtet, von den Normen, Vorschriften und Grenzwerten bis zur Ausbildung von Architektinnen. Abreissen und neu Bauen ist oft günstiger, risikoarmer und liefert berechenbare Perfektion. Auf Kosten der Umwelt.

Doch es gibt auch einen Gegentrend: Gerade entstehen etwa in Basel 64 Wohnungen in einem ehemaligen Coop-Weinlager. Und in Zürich wollen junge Architektinnen und Architekten (mit Julian Wäckerlin und Tamino Kuny sind auch zwei Schaffhauser dabei) verhindern, dass zwei Personaltürme des Triemlispitals abgerissen werden. Ihre Idee: ein Stadthotel.

Dieser Trend wird wohl irgendwann auch Schaffhausen erreichen. Bis dahin heisst es für Häuser, die nicht abgerissen werden wollen: aussitzen und abwarten. Etwa so wie das alte Hallenbad.