Die Mona Lisa von Schaffhausen ist ein Mann

13. März 2023, AZ-Redaktion
Tobias Stimmer. Künstler: Tobias Stimmer.
Tobias Stimmer. Künstler: Tobias Stimmer.

Walter R.C. Abegglen hat während 20 Jahren längst toten Schaffhausern nachgespürt.

Interview: Xenia Klaus


Der Kunsthistoriker Walter R.C. Abegglen hat einen umfassenden Katalog von Schaffhauser Porträts zwischen 1450 und 1870 zusammengetragen. Er wohnt zwar im Kanton Luzern, ist aber Zunftmeister der Zunft zum Rüden und Autor eines Buches zu Schaffhauser Goldschmiedekunst.

AZ Herr Abegglen, manchmal muss ich über die Kleidung auf alten Porträts lachen. Geht Ihnen das auch so?

Walter R. C. Abegglen Nein, wieso würde man darüber lachen?

Die Kostüme sind für mein Auge ungewohnt reich an Rüschen, Hüten, Perücken und Stickereien, da muss ich manchmal eben schmunzeln.

Ich finde die Kostüme faszinierend. Diese Stoffe! Diese Hüte! Ich habe für das Buch die Bürgermeistergalerie von Schaffhausen in chronologische Ordnung gesetzt und da sieht man, wie sich die Halskrausen-Mode entwickelt hat: Zuerst wenige Falten – für die brauchte man ein spezielles Bügeleisen –, dann viele Falten, plötzlich hängt die Halskrause und dann ist sie ganz weg. Dafür kommt dann die Perücke und das Beffchen auf (Anmerkung der Redaktion: eine Art Lätzchen).

Kann man darin auch etwas über die Entwicklung der Gesellschaft ablesen?

Man kann darin etwas über die Entwicklung der Halskrause in Schaffhausen ablesen. Sie hat sich nicht überall gleich entwickelt. Zum Beispiel ist die Halskrause von den Zürcher Bürgermeistern noch länger getragen worden.

Schaffhausen war Vorreiterin bei der Abschaffung der Halskrause?

Zumindest im Vergleich mit Zürich.

Walter R.C. Abegglen brennt offensichtlich für die Porträtkunst. Er spricht ausführlich und engagiert über (für den Laien vermeintliche) Details. Sein Interesse daran scheint reiner Selbstzweck zu sein: Abegglen findet es spannend, weil es spannend ist. Versuche der Journalistin, daraus grössere Schlüsse zu ziehen, lässt er beharrlich ins Leere laufen.

Sie wohnen in Weggis im Kanton Luzern. Wieso machen Sie sich die Mühe, sich in solchen Details mit Schaffhauser Porträts auseinanderzusetzen?

Meine Mutter ist Bürgerin von Schaffhausen, meine Ur-Ur-Grosseltern sind weggezogen. Mein Interesse an Porträts nahm seinen Anfang, als ich bei meinen Grosseltern Ahnenbilder fand.

Also ist das Buch Ihr eigenes sehr elaboriertes Stammbaum-Forschungs-Projekt?

Meine Motivation war nicht ganz so egoistisch. Mein Ziel war, ein Nachschlagewerk für alle Schaffhauser zu schaffen. Wenn man einen Namen hat, dann kann man hier schauen, ob es dazu auch ein Bild gibt. Und in den Verweisen findet man dann die weiteren Verwandten – ich kenne keinen anderen Katalog, der das so macht.

Ist Stammbaumforschung nicht ein Instrument zur Besitzstandwahrung und auch ein bisschen arrogant?

Jeder hat die gleiche Anzahl Ahnen und kann zu ihnen forschen. Wenn jemand meint, sich etwas auf seine Vorfahren einbilden zu müssen, ist das sein Problem.

Walter R. C. Abegglen hat einen Schaffhauser Ahnen-Katalog geschrieben. Foto: Claude Hurni
Walter R. C. Abegglen hat einen Schaffhauser Ahnen-Katalog geschrieben. Foto: Claude Hurni

Wie weiss man überhaupt, wer auf den Bildern drauf ist?

Häufig steht es hinten drauf. Oder es gibt frühere Quellen, die die Abgebildeten benennen.

Das ist praktisch.

Manchmal weiss man es aber auch nicht. Manchmal wechselt die Zuschreibung der Abgebildeten. Manchmal wechselt auch der Künstler, dem man ein Werk zuschreibt. Ich habe im Buch auch einige Neuzuschreibungen gemacht.

Wenn ein Werk in der Vergangenheit zwei verschiedenen Künstlern zugeordnet wurde, wie entscheiden Sie dann, ob Sie das Bild dem ersten oder dem zweiten…

…oder einem dritten…

…oder einem dritten zuordnen?

Ich beschäftige mich seit 30 Jahren mit Porträtmalerei in der Deutschschweiz und habe ein Auge dafür entwickelt. Beim Porträt von Johann Conrad Peyer als Junge, da war ich überzeugt, das müsste von Johann Martin Veith sein. Bis anhin wurde es einem anderen Künstler zugeschrieben. Ich durfte mir das Bild bei den Besitzern im Original anschauen und habe sogar die entsprechende Signatur gefunden.

Können Sie mir an diesem Beispiel erklären, woran Sie Ihre Ahnung konkret festgemacht haben?

Die Art, in der die Spitzen gemalt sind, ist typisch für Johann Martin Veith. Die Schattierung im Gesicht. Im Hintergrund sieht man die Silhouette von Zypressen. Es gibt in Schaffhausen keine Zypressen. Das heisst, dieser Hintergrund muss eine Art Fantasie des Künstlers sein. In einem anderen Bild, das wir sicher Johann Martin Veith zuschreiben können, hat es ähnliche Hintergrundmotive. Und wenn ich in diese zwei Gesichter schaue, denke ich mir, das ist derselbe Künstler.

Gibt es Fälle, in denen es Leuten nicht gefällt, dass Sie Bilder neu zuschreiben?

Das kann sein. Das ist mir egal. Letztlich bleibt es auch eine Meinung, meine Überzeugung aufgrund der Quellen, die ich studiert habe.

Kann ein Bild an Wert verlieren, wenn Sie es einem neuen Künstler zuschreiben?

Oh, da gibt es wenig zu verlieren, die meisten dieser Bilder sind im materiellen Sinn nicht viel wert. Mit wenigen Ausnahmen, zum Beispiel das Selbstporträt von Tobias Stimmer, ist ein Bild von nationaler Bedeutung und entsprechend wertvoll. Es ist quasi die Mona Lisa von Schaffhausen.

Wo haben Sie Ihre Quellen eigentlich ausgegraben?

Bei den Zuschreibungen ist vieles Fleissarbeit. Ich hatte das Buch seit 20 Jahren im Hinterkopf. Wann immer ich auf etwas zum Thema gestossen bin, habe ich es mir notiert. Und mit dem Internet hat man natürlich ganz neue Möglichkeiten, die Zentralbibliothek Zürich hat sehr viele Quellen digitalisiert. Damit gelang es mir unter anderem, einen jungen Mann auf einem 1944 beim Bombenangriff verbrannten Bild zu identifizieren.

Gibt es eine grosse Erkenntnis zur Schaffhauser Gesellschaft, die Sie aus dem Buch ziehen können?

Man sieht die Verflechtungen zwischen den Schaffhauserinnen, böse könnte man es den Filz nennen. Zum Beispiel gab es diverse Fälle, in denen die Tochter eines Antistes… – wissen Sie, was ein Antistes ist?

Nein.

Der höchste Pfarrer, quasi der Oberpfarrer. Also die Tochter des Antistes hat dann einen Mann geheiratet und der wurde später auch Antistes. Es scheint, als wären da Schwiegersöhne nach ihrer Eignung ausgewählt, beziehungsweise Schwiegersöhne gefördert worden.

Pfarrer-Dynastien?

Jawohl. Ähnliches kommt auch bei Bürgermeistern vor.

Können wir daraus etwas für heute lernen?

Ich denke nicht. Solche Verflechtungen gibt es ja auch heute noch überall.

Eben.

Jeder will das Beste für seine Kinder.

Das kann dann trotzdem problematisch sein.

Vielleicht, aber ich denke, lernen können wir da nicht viel. «Filz» ist etwas Urmenschliches, ich muss das gar nicht werten.

In der Einleitung schlagen Sie selber den Bogen bis heute und erwähnen Selfies auf Social Media. Ist das für Sie auch noch Porträt-Kunst?

Damit wollte ich etwas anderes zum Ausdruck bringen. In der Frühphase des Porträts war es die Oberschicht, die es sich leisten konnte, sich abbilden zu lassen. Viele machten das nur ein Mal im Leben. Und heute porträtieren sich manche Influencer mehrmals am Tag.

Beschäftigt es Sie, dass mit der Oberschicht nur ein kleiner Teil der damaligen Realität abgebildet wird?

Das liegt im Wesen der Sache. Später sind in Schaffhausen auch Handwerker aufgestiegen, weil sie ins Regiment aufgenommen wurden. Etwa ein Metzger, der dann Spitalvorsteher wurde.

Das ist ein spezieller Wechsel.

Das ist nur ein hypothetisches Beispiel. Etwa ab 1820 finden wir vermehrt auch Porträts von solchen Handwerkern. Das Porträt der Bäcker-Familie Bendel zum Beispiel. Ich bin ja ein grosser Fan von Familienporträts.

Eines davon ist auch auf dem Titelbild, wieso haben Sie es ausgewählt?

Ich halte das Porträt der Familie Peyer für das beste Familienporträt der Schweiz, es ist wundervoll!

Was ist daran so besonders?

Die Abbildung der Stoffe, die Komposition, die Ikonografie, es ist einfach ein rundum tolles Bild. Einer der kleinen Jungen – oder Mädchen, es ist nicht ganz klar – hält ein Windrad. Das kann man direkt beziehen auf Jacob Cats Kinderspiele. Das wurde von einem Schaffhauser übersetzt und von Conrad Meyer, dem Künstler des Porträts, illustriert. Dort findet sich ein sehr ähnliches Motiv eines Windrades!

Ist das eine frühe Form der Werbung?

Das vielleicht nicht, aber man sieht die Verbindungen.

Was macht ein gutes Porträt aus?

Es kann technisch brillant umgesetzt sein, es kann eine wunderbare Komposition haben oder es kann die Menschen so zeigen, wie sie wirklich waren. Oder alles davon.

Was ist ein langweiliges Porträt?

Vielleicht eines, das nur Status abbildet und wenig mit den eigentlichen Personen auf dem Bild zu tun hat. Die Industriellenporträts sind manchmal technisch sehr schön, aber nicht wahnsinnig spannend. Die Zeit der Industrialisierung ist nicht mehr meine präferierte Epoche.

Haben Sie eine Lieblingsepoche?

Um 1700, plus minus 20 Jahre.

Weswegen?

Die Kostüme gefallen mir wahnsinnig gut.

Vielen Dank für das Gespräch.

Wissen Sie, ich mache es für das Buch, nicht für mich.