Kämpferinnennatur

10. März 2023, AZ-Redaktion
Zurück zum Anfang: Ella Ljuština auf dem kleinen Kunstrasen in der Felsenau. Foto: Noëlle Schönauer
Zurück zum Anfang: Ella Ljuština auf dem kleinen Kunstrasen in der Felsenau. Foto: Noëlle Schönauer

Die Schaffhauserin Ella Ljuština spielt in der höchsten Schweizer Liga. Was wie ein Traum tönt, ist vor allem ein Anrennen gegen strukturelle Hindernisse.

von Fabio Schmocker

Ein scharfer Pfiff durchschneidet das Gemurmel auf der Tribüne der Sportanlage Heerenschürli in Zürich. Es ist der Startschuss für das Derby zwischen den Frauen des FC Zürich und des Grasshopper Clubs Zürich. Der Spitzenkampf zwischen dem Zweit- und dem Drittplatzierten der Women’s Super League lockt an diesem Samstag weit über 500 Zuschauerinnen an. Neuer Platzrekord.

Auf dem Feld scheint eine Akteurin besonders hungrig auf den Ball zu sein: Ella Ljuština. Mit langen, kräftigen Schritten und ehrgeizigem Blick setzt sie sofort zum Sprint an. Die Jagd auf den Ball ist eröffnet.

Seit zwei Jahren spielt die 20-jährige Schaffhauserin für GC und sammelt in der höchsten Schweizer Fussballliga fleissig Spielminuten. Zuvor stand sie bei der Stadtrivalin unter Vertrag, die jetzt im Spiel trotz Ljuštinas Laufpensum langsam die Oberhand gewinnt.

Schon nach knapp einer Viertelstunde liegt GC mit 0:1 zurück. Zudem gleicht der Rasen im Heerenschürli eher einem Kartoffelacker als einem Fussballfeld. Für Ljuština, die normalerweise durch ihre filigrane Technik und ihren Offensiv-Drang besticht, sind die Bedingungen denkbar schlecht. Doch sie verwirft keine Hände, der Kopf ist nicht gesenkt, wieder und wieder versucht sie, der Gegenspielerin den Ball wegzuschnappen. Woher bloss kommt dieser Hunger?

Ursprung Felsenau

Einen Tag zuvor steht Ella Ljuština in der Felsenau-Siedlung im Schaffhauser Birch-Quartier. Dort ist die Fussballerin aufgewachsen und auch heute noch zuhause.

Sie kam eine halbe Stunde später als verabredet zum kleinen Kunstrasenplatz hinter den farbigen Häuschen der Siedlung – es kam noch eine Videoanalyse im Training dazwischen. «Hier kommen ganz viele Erinnerungen hoch», sagt sie, ganz in Schwarz gekleidet und mit makellos weissen Sneakern. Als sie klein war, kam sie jeden Tag hierher und kickte bis zur Erschöpfung. «Immer mit den Jungs, immer mit den Älteren.» Sie lächelt verschmitzt.

Dass Ella Ljuština damals zum Fussball fand, ist kein Zufall. Sie kommt aus einer fussballverrückten Familie. Vater Ilija war selbst lange auf den Schaffhauser Fussballplätzen tätig, zuerst als Spieler, dann als Trainer. Ihre zwei Brüder durchliefen die Juniorenmannschaften des FC Schaffhausen. Einer von ihnen kam schon mit dem Namen einer argentinischen Fussballlegende zur Welt: Diego. Es verwundert nicht, dass auch Ella früh auf den Rasen wollte und dem FC Schaffhausen beitrat.

«Schlitzohr»

Eine reine Mädchen-Mannschaft gab es beim FC Schaffhausen damals wie heute nicht. Deshalb wurde Ella kurzerhand in die Knabenmannschaft eingeteilt. Gestört habe sie das nicht. Im Gegenteil: «Ehrlich gesagt, habe ich mich bei den Jungs immer wohler gefühlt. Sei es in der Schule oder auf dem Fussballplatz.» Maurizio Cannellino, ihr damaliger Trainer, erinnert sich: «Sowohl technisch, physisch wie auch verbal stand sie den Teamkollegen in nichts nach.»

Bald schon wurde Ellas Talent auch abseits der Schaffhauser Fussballszene erkannt. Der Schweizerische Fussballverband klopfte an und holte sie ins nationale Leistungszentrum der Frauen nach Biel. Da wurden die ersten Weichen Richtung Profifussball gestellt. Unter der Woche trainierte sie sieben Mal mit den besten Juniorinnen der Schweiz, die Spiele absolvierte sie weiterhin beim FC Schaffhausen.

Und auch in Biel bemerkten die Verantwortlichen schnell Ella Ljuštinas starken Charakter. Brigitte Steiner, die ehemalige Leiterin des Zentrums in Biel, charakterisiert sie am Telefon in einem Wort: «Schlitzohr». Wenn irgendwo etwas im Busch gewesen sei, sei Ella nicht weit weg gewesen.

Zum Herumblödeln war Ljuština dabei nicht immer zumute, gesteht sie beim Blick über den künstlichen Rasen der Felsenau: «Die Wochen in Biel waren anfangs hart. Ich hatte oft Heimweh. Doch ich wurde dadurch auch selbständiger abseits des Fussballplatzes.»

Ob sie durch die vielen Trainings, weit weg von zuhause nicht das Gefühl hatte, die eigene Jugend zu verpassen? «Ich kenne es nicht anders. Seit ich zwölf Jahre alt bin, wechsle ich eigentlich nur zwischen der Schule und dem Trainingsplatz hin und her», resümiert sie und zuckt mit den Schultern. Biel hat sie früh gelehrt: Wer professionell Fussball spielen will, muss auf sehr vieles verzichten und alles andere unterordnen.

Den Willen dazu hatte sie. Manchmal aber überschritt er die Grenze zur Verbissenheit. «In den Zweikämpfen hielt sie sich nicht zurück. Sie teilte ziemlich aus», erinnert sich der ehemalige Trainer Cannellino. Das kann man durchaus wörtlich nehmen. 2019, in einem Spiel für die Schweizer U-17 Nationalmannschaft, zettelte Ljuština auf dem Platz einen wüsten Streit an, plötzlich strömten alle hinzu, in der Szene spricht man von einer Rudelbildung. Im Video von damals ist zu sehen, wie Ljuština anstelle des Balles ihrer Gegenspielerin mit voller Wucht in den Hintern tritt. Die russische Gegenspielerin revanchierte sich mit einem heftigen Faustschlag. Ljuština und ihre Gegenspielerin wurden beide des Feldes verwiesen. «Gegen aussen gab sie sich nach solchen Enttäuschungen immer sehr cool», berichtet die ehemalige Leiterin des Leistungszentrums Brigitte Steiner. Man habe ihr jedoch angemerkt, dass es an ihr nagt.

Heute lacht die inzwischen 20-Jährige auf und sagt: «Früher habe ich heftig auf Provokationen reagiert. Mit dem Alter habe ich in dieser Hinsicht viele Fortschritte gemacht.»

Harziger Start

Mit der Zeit entwuchs Ljuština dem FC Schaffhausen und seinen Strukturen. Um von optimalen Trainingsbedingungen zu profitieren, wechselte sie zum grossen FC Zürich. Die Wahl des Vereins war einfach: «Die Juniorinnen des FC Zürich waren die Besten», sagt Ljuština.

Von nun an konnte sie sich nicht nur in der Nationalmannschaft, sondern auch im Klub mit gleichaltrigen Frauen messen. Beim FCZ spielte sie sich bis in die erste Mannschaft. Doch richtig durchsetzen konnte sie sich beim Primus des Schweizer Frauenfussballs nicht. Die Einsatzminuten waren rar. Deshalb wechselte sie 2021 innerhalb der Stadtgrenzen zum Grasshoppers Klub: «Das haben sie beim FC Zürich natürlich nicht gut aufgenommen, aber ich musste das tun, um auf höchstem Niveau zu spielen.» Die Zahlen geben ihr recht. In den bisher 33 Spielen für GC hat sie acht Mal getroffen.

Auch in der Nationalmannschaft hat sie heute einen fixen Platz – allerdings in der kroatischen, obwohl sie die Jugendnationalmannschaften der Schweiz durchlaufen hat. Auch diese Entscheidung birgt Zündstoff, wie das Beispiel Mladen Petrić zeigt. Als der ehemalige Torjäger von GC und des FC Basel dieselbe Entscheidung traf, ging eine Welle der Empörung durch die Schweizer Sportlandschaft. Ella Ljuština aber musste dafür keine Kritik einstecken, was wohl auch damit zu tun hat, dass Frauenfussball nach wie vor viel weniger von öffentlichem Interesse ist als Männerfussball. Ella Ljuština sieht die Sache sowieso pragmatisch: «Das war eine Entscheidung für Kroatien und nicht gegen die Schweiz. Ich wollte einfach für die Nationalmannschaft spielen, die mich zuerst anfragt. Hinzu kommt: Die Schweizer Nati ist momentan einfach zu gut.» Ljuština will da spielen, wo sie sich entwickeln kann und nicht auf die Ersatzbank abgeschoben wird.

Auf dem Platz ist Ljuština Goalgetterin, in der Kabine DJane. Foto: Daniela Porcelli

Zwischen Bildschirmen und Bällen

Der Erfolg stellt sich immer mehr ein. Doch er hat auch einen Preis. In der obersten Etage des Frauenfussballs angekommen, muss Ljuština arbeiten. Abseits des Rasens. Und zwar viel. Im Schweizer Frauenfussball – so die bittere Realität – lässt sich kein Lebensunterhalt verdienen.

So kommt zu den mindestens fünf Trainings pro Woche ein 60-Prozent-Pensum hinzu. Wobei es eigentlich eher 70 Prozent sind. Sie muss Überstunden anhäufen, um mit der Nationalmannschaft auf Reisen gehen zu können.

Mehrtägige Reisen wie letzten Winter ins aserbaidschanische Baku, 1700 Kilometer entfernt, schenken auch mental ein: «Wir leben immer mit dieser Doppelbelastung. Im Vergleich zu den Männern ist das unfair.» Im professionellen Männerfussball ist ein derartiges Berufs-Model heute unvorstellbar. Dort wird explizit von einer beruflichen Nebentätigkeit abgeraten. Wie lange sie diese Belastung durchstehen kann und will, weiss Ella Ljuština nicht genau. «Sicherlich nicht bis
37. Dann bin ich ja schon eine alte Frau», sagt sie lachend.

Bis dahin will sie noch im Ausland Fussball spielen. Sie träumt von der deutschen Bundesliga oder der spanischen Primera División.

Das Derby auf dem Heerenschürli gegen den FC Zürich endet für Ella Ljuština am Samstag früher als erwartet. In der Halbzeit wird sie ausgewechselt und muss mit ansehen, wie ihr ehemaliger Klub ein zweites Tor nachlegt. Sie zieht den Reissverschluss der Winterjacke auf der Bank noch ein Stück weiter nach oben.

Doch bald kochen die Emotionen wieder hoch: Den Hoppers gelingt der Anschlusstreffer. Ljuština springt hinter der Seitenlinie hoch, feuert die Kolleginnen lautstark an. Aufgeben ist keine Option. Das hat sie in der Felsenau gelernt.