«Eine Saison mach ich noch»

27. Februar 2023, Nora Leutert
Elisabeth Leutert zu Hause in ihrer Wohnung in Herblingen. Foto: Robin Kohler

Wie ist es, am Ende eines vollen Lebens zu stehen, will die Enkelin von ihrer 96-jährigen Grossmutter wissen. Ein Gespräch über die Liebe und das Sterben. 

Interview: Nora Leutert

AZ Grosi, spürst du den Frühling?
Elisabeth Leutert Nein, Nora, nicht mehr. Ein bisschen regt er mich zwar vielleicht schon an, jetzt, wo die ersten Hummeln um meine Balkonpflanzen brummen. Ich denke: Eine Saison mach ich noch. 

Im Winter sagtest du noch, dass du gerne sterben würdest.
Es ist so, dass ich auch jetzt jeden Tag bereit dafür wäre. Gut, der Kühlschrank ist gerade schön voll, aber das macht nichts (lacht). Ja, ich könnte gehen. 

Wie weiss man das?
Ich bin jetzt in meinem 97. Lebensjahr, und ich hatte ein so volles Leben. Es wird mir langsam fast zu viel. Es ist schön, wie ich hier unabhängig zu Hause in meiner Wohnung sein kann. Meine Welt umfasst 116 Quadratmeter, und ich bin froh, dass sie nicht noch kleiner ist. Aber der Alltag hängt an. Gestern habe ich eine Ladung Wäsche gemacht, das allein war erschöpfend. Auf die Länge bräuchte ich viel mehr Hilfe, aber ich kann nicht immer jemanden um mich herum haben. Weisst du, ich bin schon ein bisschen ein Vogel.

Wieso bist du ein Vogel?
Man würde vielleicht meinen, ich fange an zu spinnen. Jedenfalls: Vor zwei Wochen sass ich vor dem Fernseher und habe rüber ins dunkle Esszimmer geschaut. Und da sah ich deinen verstorbenen Grossvater. Er stand da im Türrahmen, so, wie er immer war. Ganz lieb sah er aus.

Oh.
Das war der Wahnsinn. Ich bin so erschrocken. Als ich nochmals hinschaute, war er weg.

So etwas hast du noch nie erzählt. Was hältst du davon?
Es muss logischerweise etwas in meinem Hirn stattgefunden haben. Aber für mich war es eine Erscheinung. Erst dachte ich, er sagt: «Komm doch auch.» Da glaubte ich, dass ich wohl in den nächsten zwei, drei Tagen sterben werde. Aber vielleicht wollte er einfach sagen: «Es war schön. Es ist schon gut so, wie es war.»

Als du vor einigen Jahren angefangen hast, das Sterben zu thematisieren, konnte ich das nicht gut zulassen und habe es überspielt. Einmal hat dich das leicht verärgert.
Das weiss ich nicht mehr. 

Du sagtest, wir müssten dich dann schon gehen lassen.
Hm, ja. Und heute verstehst du es besser?

Ja, aber es ist traurig. Du bist für mich wie eine Quelle, bei der ich fürchte, dass sie bald versiegt. Darum frage ich dich so viel.
(Nickt.) So wie ich jetzt manchmal denke: Wieso habe ich meine Mutter nicht mehr über ihr Leben ausgefragt?

Wann denkst du das?
Ich denke jetzt oft an sie. Wie sie als so junger Mensch in die Schweiz kam, wo sie als Deutsche nicht willkommen war. Und dann bekamen sie und mein Vater so bald schon vier Kinder in den engen Verhältnissen, in denen sie im St. Gallischen Uzwil lebten. Als junger Mensch war sie zwar fröhlich gewesen. Doch mit dem Zweiten Weltkrieg kam der Druck. 

Woran erinnerst du dich?
Ich war 13 Jahre alt, als der Krieg losging. Mein Vater suchte immer nach den amerikanischen Sendern im Radio, er hasste die Nationalsozialisten und sympathisierte mit den liberalsozialen Freigeldlern in der Schweiz. In Uzwil hatte es Nazis gehabt. Einer sagte zu meinem Vater: «Wenn die Deutschen dann kommen, wirst du als Erster erschossen.» Er war aber sowieso viel im Militärdienst, meine Mutter musste zu Hause alles alleine bewerkstelligen mit so wenig Mitteln. Sie hatte immer Heimweh nach ihren Verwandten.

Sie hatte auch oft Kopfschmerzen, oder?
Es war wohl die Überlastung. Sie nahm ein damaliges Schmerzmittel, ohne welches sie den Alltag kaum meistern konnte, derweil es ihre Nieren schädigte. «Mach mir drei Saridon in den grossen Löffel», sagte sie zu mir, wenn es ihr schlecht ging. 

Das ist heftig. Du warst das älteste der vier Kinder und musstest dich um Vieles kümmern.
Ja. Aber nach der Schule machte ich dann ein Welschlandjahr und danach eine Lehre auf der Post. Meine erste Stelle war in Ottenbach, im Zürcher Säuliamt. War das ein Kaff! Die Leute kamen regelrecht zur Poststelle, um die Neue im Dorf anzuschauen.  

Dort hast du meinen Grossvater kennengelernt, gell?
Ich hatte damals Kost und Logis bei der Posthalterfamilie. Walti wohnte im Bauernhaus vis-à-vis, und ich beobachtete ihn beim Speerwerfen auf der Wiese.

Was hat dir an ihm gefallen?
Alles (lacht). Er redete viel – so gar nicht wie die Jungs, die ich kannte; alles holzige Kerli. Die Jugend war ganz anders damals. Entweder schüchtern oder frech, dazwischen gab es nicht viel.

«Erste Liebe, grosse Liebe, letzte Liebe», so Elisabeth Leutert zu diesem Bild, entstanden 1946 in Ottenbach.

Frisch verheiratet seid ihr nach Schaffhausen gekommen, wo mein Grossvater eine Stelle als Ingenieur fand. Er war ein eigensinniger Tüftler, ein Erfinder. Du hast alles für ihn gemacht. Hast du deine Träume für ihn aufgegeben?
Eigentlich nicht. Ich wollte immer eine Familie gründen. Das war mein Ziel, so wie es das Ziel von ganz, ganz vielen Frauen damals war.

Als ich realisierte, dass du dich sehr nach meinem Grossvater gerichtet hast, war ich fast etwas enttäuscht. 
Ich habe viel nachgegeben. Aber er hat mir auch von Anfang an viel überlassen. Ich habe den Haushalt und das Schriftliche gemacht. Als wir in Herblingen ein Haus bauen konnten, war ich es, die mit den Handwerkern verhandelte. 

Wolltest du nie etwas anderes sein als Postfrau, Ehefrau und Mutter?
Du, also Pöstlerin, das war angesehen! Das war sonst ein Männerberuf. Früher waren die Aufgaben auf der Post noch viel essentieller, ähnlich wie auf der Bank. Als junge Mutter bin ich mit deinem Vater im Kinderwagen riesige Strecken zu Fuss gegangen und habe einmal einen selbstfrankierten Brief ins Ausland auf der Post Herblingen aufgegeben. Da sagte man mir, der Brief sei nicht recht frankiert. Doch, ist er wohl, sagte ich. Der Posthalter kam nach vorne, schaute mich von der Seite her an: Woher ich das wisse. Ich entgegnete, ich sei früher selbst auf der Post gewesen. Das freute ihn und später konnte ich die Poststelle einige Male stellvertretend für ihn führen.

Mein Onkel sagte mal, wenn du in der heutigen Zeit jung gewesen wärst, dann wärst du sicher berühmt geworden.
Also, nein (lacht). Einen Wunsch hatte ich, von dem ich aber ganz früh wusste, dass er unmöglich ist: Ich wäre gerne an die Kanti. Von den Noten her hätte ich das gekonnt, aber so etwas musste man sich gar nicht erst trauen zu sagen. Nur zwei, drei von den Reichen konnten pro Jahrgang hin. Wenn ich ein Genie gewesen wäre, für das sich jemand eingesetzt hätte, wäre es vielleicht anders gewesen – aber so gut war ich nicht, als dass ich aufgefallen wäre. 

Hat dich diese Ungerechtigkeit nicht hässig gemacht?
Nein. Ich habe das quasi gleich verarbeitet. Ich habe einfach gesehen, wo mein Platz war. Aber ich wollte den Kopf immer oben behalten. Ich sagte mir, dass ich nie in Geldsorgen geraten und dass ich nie joommere will. 

Junge Mutter, 1953, im Hintergrund das Bretterlager zwischen Kronenacker und Sennerei an der Dorfgrenze von Herblingen, Schaffhausen. 

Du warst nicht besonders politisch, oder?
Nein, ich hatte nicht viel mit Politik am Hut. Vielleicht war ich schon etwas selbstsüchtig als junger Mensch. Ich habe auf mich geschaut, ich hatte auch gerne etwas Schönes zum Anziehen. Ich war auch immer etwas auf der Suche nach tieferem Sinn: Phasenweise beschäftigte ich mich mit Traumdeuten, Astrologie und sogar Handlesen. 

Was dachtest du zum Frauenstimmrecht?
Ich fand, das sei richtig. Aber ich wäre nicht vorne hingestanden und hätte dafür gekämpft. Ich hatte irgendwie immer das Gefühl, ich hätte und könnte doch eh enorm viel, und war immer so fröhlich und positiv. Weisst du, ich habe so viel Literatur gelesen und habe mich dadurch selbstbestimmt gefühlt. Ich bin nicht zur Revoluzzerin geboren. 

Bist du nie verzweifelt ab der Welt?
Während des Krieges hatte ich ganz dunkle Zeiten. Aber verzweifelt bin ich nie. Ich habe geschaut, dass ich im Kleinen keinen Krieg habe. Habe versucht, zu vermitteln, zu trösten und Mut zuzusprechen. Uns ging es halt nie so gut wie euch heute. Persönlich habe ich versucht, Kummer nicht in den neuen Tag mitzunehmen.

Schaffst du das, Sorgen abends abzulegen?
Ich konnte mir sagen, dass ich jetzt einfach schlafen muss und es sonst nicht weitergeht. Das lernt man auch. Man erfährt, dass es schon auf eine Weise wieder gut kommt und dass es nichts nützt, sich übermässig zu sorgen. 

Das kann ich nicht so gut. Ich fühle mich manchmal so durchlässig und überfordert.
Es stürmt auch viel auf euch junge Menschen ein. Wir waren nicht zwischen so vielen Dingen hin- und hergerissen, es hatte alles seinen Platz im Leben. Viele unserer Betätigungen waren meditativ wie etwa das Lismen. Bei der Handarbeit kannst du ganz gut Dinge verarbeiten. Ich habe auch schon ganz früh gedacht: Ganz in meinem Innern (legt die Hand auf ihr Herz), da kann mir niemand etwas anhaben. Ich lese auch viel und bringe es immer wieder fertig, mich zu trösten. Aber manchmal frage ich mich schon, ob ich alles recht gemacht habe. 

Gibt es Dinge, die an dir nagen?
Schon. Dass ich deinen Grossvater ins Altersheim geben musste.

Er hatte Alzheimer und du hast ihn bis zur Erschöpfung zu Hause betreut.
Es ging nicht mehr. Er hat viele Dinge gemacht, die gefährlich wurden. Aber vielleicht hätte ich es trotzdem einfach noch ein letztes Mal probieren sollen. Einfach so, dass wir dann beide am Boden gewesen wären.

So weit wärst du gegangen?
Es wäre unvernünftig gewesen, aber: ja. Ich habe ihn danach fast jeden Tag im Altersheim besucht. Aber in diesen Jahren war ich nicht glücklich.

Das hat dich stark mitgenommen. 
Ich wurde nie mehr richtig fröhlich. Das Übermütige blieb weg. 

Was tat am meisten weh?
Dieses ständige Abschiednehmen. 

Ein langsamer Rückzug.
Ich erinnere mich jetzt oft daran, weil ich nach und nach selbst überall abgebe. Vorgestern habe ich einen Apfelfladen gemacht und vergessen, den Zucker reinzutun. Wenn ich nicht total konzentriert bei einer Sache bin, geht Vieles nicht mehr. Ich sehe, dass der Mensch nicht gemacht ist, um so uralt zu werden. Alles beginnt zu lottern. Der Kopf auch. Aber das ist der Lauf der Dinge, man weiss es ja eigentlich.

Du führst ein gefährliches Leben. Du bist nicht mehr gut auf den Beinen und wenn du beim Gehen stürzt, dann könnte es das gewesen sein. 
Ich war eigentlich immer ziemlich risikofreudig. Du musst abwägen, und für mich ist es gerade die beste Möglichkeit: zuhause sein und das riskieren. Aber ich mache schon nicht mehr so viel, wie ich gerne möchte. Im Geheimen schmiede ich dann wieder Pläne, weisst du, wahnsinnige Pläne. 

Was sind das für Pläne?
Für euch sind sie nicht wahnsinnig, für mich schon. Ich male mir aus, wie ich ein Taxi nehme und dann in der Stadt mit dem Rollator so weit wie möglich in ein Geschäft gehe und rumschnuppere und alles anschaue. Ganz alleine, ohne dass jemand wartet. Ganz frei. 

Dafür, dass du den ganzen Tag in der Wohnung bist, wirkst du aber schon sehr zufrieden. Wie machst du das?
Bis mal Mittag ist und all meine Knochen am richtigen Platz sitzen, muss ich gar nichts wollen. Danach wird es lustiger. Dann lese ich, mache Spiele am Computer und schaue abends etwas im Fernsehen oder auf Netflix. 

Und dann hast du auch noch viel Besuch. Ständig wollen Leute zu dir kommen oder für dich einkaufen. Wie macht man das?
Also, ich weiss nicht. Ich bin einfach mich selber, höre zu, tröste ein bisschen, wenn nötig, und freue mich über die Zuwendung. 

Und vor allem bist du enorm aufmerksam und nimmst so viel Rücksicht, niemanden zu verletzen. Das merke ich auch in diesem Gespräch. Weisst du, was mich wundernimmt? Ich bin überrascht, dass ich immer älter werde, innerlich aber gleich bleibe. Wie ist das bei dir? Bist du noch das Liseli oder gibt es eine Grenze, und plötzlich hat man eine Alterspersona?
Tatsächlich fühle ich mich nur äusserlich alt. Innerlich kann ich kein Alter nennen. Es gibt eine Mitte, wo ich, egal ob jung oder alt, immer derselbe Mensch bin, an dem mir nichts fremd ist.

Das beruhigt mich.

Es klingelt an der Tür. Die Nachbarin steht da, sie hält einen Teller mit einem gebratenen Kotelett drauf in den Händen, mit dem sie meiner Grossmutter eine kleine Freude aus der Küche bereitet. Sonst trinken die Damen hie und da zusammen ein Cüpli, aber weil Besuch da ist, möchte sie auf keinen Fall stören. 

Grosi, was ist der wichtigste Ratschlag, den du für mich hast?
So ein junger Mensch. Da muss ich ganz fest studieren. Vielleicht sind es halt Banalitäten  (schweigt). Liebe. Immer Zuneigung verschenken. Und selbst immer wieder aufstehen, wenn man am Boden ist. 

Eins muss ich noch wissen: Hast du Angst vor dem Tod?
Vor dem Tod nicht, aber vor dem Sterben vielleicht schon, wenn es mit viel Turbulenz und Aufheben einhergehen sollte. Aber ich stelle mir immer vor – das ist vielleicht auch wieder mein Optimismus – dass ich einmal ring sterben darf. 

Was denkst du, was kommt danach?
Früher redete man ja noch viel über Hölle und Himmel, daran glaube ich nicht. Was nach dem Tod kommt, das kann man nur selber denken und spüren. Ich glaube schon, dass unsere Seelen irgendwie noch hier sind. Vielleicht als feine Flüsterstimme, welche die Liebsten ab und zu wahrnehmen, wenn sie dafür offen sind.