Erdöl, Korruption und ein Briefkasten: Wie Schaffhausen vom grössten Wirtschaftsskandal der Geschichte Kolumbiens profitiert.
von Simon Muster, Mattias Greuter (Text)
und Mattia Mastroianni (Illustrationen)
Wie ein Meteorit, der aus dem All stürzt, zoomt das Bild des kolumbianischen Staatsfernsehens via Google Earth zuerst auf Westeuropa, dann weiter auf die Schweiz und bleibt schliesslich in Schaffhausen stehen, an der Adresse eines Treuhandbüros. Hier, erklärt der südamerikanische Journalist in den Abendnachrichten vom 21. März 2017, «in dieser kleinen Schweizer Stadt mit wenig Bankenaktivität», sitze jene Firma, welche eine Schlüsselrolle in einem milliardenschweren Korruptionsfall spiele: die Ecopetrol Capital AG. Eine Gaunerbande sei das, ¡qué hampones!, kommentiert ein kolumbianischer Journalist die Recherche auf Twitter: «Der Schlüssel zum Raub von Reficar liegt in der Schweiz, in Schaffhausen.»
In Kolumbien steht die Öl-Raffinerie Reficar für den grössten Korruptionsskandal in der Geschichte des Landes. Dieser hat den Staat mehr als vier Milliarden Dollar gekostet. Behörden, NGOs und die Presse sind bis heute mit der Aufarbeitung beschäftigt.
In der Schweiz hingegen bleibt der Fall praktisch unbemerkt. Dabei stand am Anfang des Debakels der Zuger Rohstoffgigant Glencore. Und: Das Geld für das Raffinerieprojekt, bei dem Unsummen in der Korruption versickert sind, floss durch eine Briefkastenfirma in Schaffhausen.
Der Schaffhauser Fiskus profitiert bis heute vom kolumbianischen Skandal, heute noch fliessen jährlich Millionen von Franken in die Kassen von Stadt, Kanton und Bund.
Die AZ hat Finanzberichte und Steuerreports analysiert, mit Expertinnen in der Schweiz und in Kolumbien gesprochen und den Mann konfrontiert, der die Briefkastenfirma in Schaffhausen bis heute führt: die Ecopetrol Capital AG.
La refinería
Ecopetrol, so heisst der mehrheitlich staatliche Ölkonzern von Kolumbien. Mit einem Umsatz von 17,4 Milliarden Franken (2021) ist Ecopetrol Kolumbiens grösstes Unternehmen. Auf der Website dominieren Regenwaldlandschaften, das Logo des Konzerns ist ein grüner Leguan.
Zwischen 2010 und 2016 realisierte Ecopetrol das ehrgeizigste Industrieprojekt in der Geschichte des Landes: die Modernisierung und Vergrösserung der wichtigsten Raffinerie Kolumbiens, der Refinería de Cartagena – kurz Reficar. Die Kapazität des gigantischen Industriekomplexes im Norden des Landes sollte auf 165 000 Fässer Öl pro Tag mehr als verdoppelt werden. Kostenpunkt des Projekts: 3,3 Milliarden Dollar.
51 Prozent von Reficar gehörten dem Schweizer Rohstoffkonzern Glencore. Dieser sicherte sich 2007 in einem Bieterverfahren die Mehrheitsbeteiligung an Reficar – mit einem Betrag, der verdächtig nahe am angeblich geheim gehaltenen Minimalgebot des kolumbianischen Staats lag.
Ein Jahr später holte Glencore eine amerikanische Baufirma an Bord und schloss mit ihr Verträge für Planung, Beschaffung und Bau des Grossprojekts Reficar ab. «Das war eine bemerkenswerte Entscheidung, weil weder die Baufirma noch Glencore je eine Raffinerie gebaut oder geleitet hatten», sagt die Politologin und kritische Beobachterin des kolumbianischen Ölsektors, Katherine Casas gegenüber der AZ.
2009, inmitten einer Finanzkrise, stieg Glencore überraschend aus dem Projekt aus und verkaufte seine Anteile mit Verlust zurück an Ecopetrol. Ein Vorgehen, das bis heute umstritten ist. Ecopetrol hingegen blieb auf den Verträgen mit der Baufirma sitzen – ein Umstand, der sich nur wenige Jahre später rächen sollte.
El banco
Im Dezember 2010 gründet Ecopetrol in Zürich seine eigene Bank innerhalb des Konzerns: die Ecopetrol Capital AG. Kurz darauf wird diese nach Schaffhausen verlegt. Über die günstige Besteuerung gibt es bis heute gute und regelmässige Kontakte mit der Schaffhauser Steuerverwaltung. Das verrät der AZ der Gründer der Firma, ein Mann namens Leonz Meyer – mehr zu ihm gleich.
An der Grabenstrasse, wo die Ecopetrol Capital AG domiziliert ist, gibt es keine Angestellten – sie ist eine klassische Briefkastenfirma. Trotzdem ist sie für den milliardenschweren kolumbianischen Ölkonzern Ecopetrol eine wichtige Finanzdrehscheibe. Dies aus zwei Gründen: Einerseits ist Schaffhausen ein Steuerparadies. Ecopetrol, das zeigten die Paradise Papers, betreibt ein ganzes Netzwerk von Steuerdomizilen: in Panama, auf den Cayman Islands, auf Bermuda – und in Schaffhausen.
Andererseits kennt Kolumbien, um den Drogenhandel zu bekämpfen, strenge Gesetze, welche das Verschieben von Geld über Landesgrenzen hinweg erschweren. Für Ecopetrol, die Tochterfirmen in Peru, den Vereinigten Staaten oder der Schweiz besitzen, ist das aber ein Problem: Eine konzerninterne Bank wie der Briefkasten in Schaffhausen ermöglicht es, schnell und unkompliziert Geld von einem Firmenteil zum nächsten zu verschieben.
Das funktioniert folgendermassen: Ecopetrol investiert Geld aus erfolgreichen Unternehmensteilen in Form von Darlehen an den Briefkasten in Schaffhausen. Dieser wiederum vergibt Kredite mit etwas höherem Zins an andere Tochterfirmen, vor allem an die Reficar, die damit die gigantische Raffinerie ausbaut. Der Gewinn der Ecopetrol Capital AG besteht aus der Differenz der Zinsen.
In den vergangenen zehn Jahren wechselte die Firma innerhalb von Schaffhausen mehrmals die Adresse, vom Briefkasten einer Treuhandfirma zum nächsten, auffällig oft wechselte sie auch die Revisionsstelle. Im Verwaltungsrat ist nur ein Mann seit dem ersten Tag mit an Bord: Dr. Leonz Meyer, Anwalt im Kanton Basel-Landschaft, Honorarkonsul für die Republik Slowakei in der Schweiz und Verwaltungsratspräsident der Ecopetrol Capital AG und einiger weiterer Konzerne. Daneben hat er eine Firma mit aufgebaut, die Schweizer Verwaltungsräte an internationale Unternehmen vermittelt. Hätte das Briefkasten-Steuerparadies Schweiz ein Gesicht, es wäre das von Leonz Meyer.
Wie Meyer die Schaffhauser Briefkastenfirma führt, zeigt beispielhaft das Protokoll einer ausserordentlichen Generalversammlung der Ecopetrol Capital AG, das beim Schaffhauser Handelsregisteramt hinterlegt ist und das der AZ vorliegt.
Am 29. Februar 2012 empfängt im Notariat Zürich Altstadt eine Mitarbeiterin die Ecopetrol Capital AG. Diese ist durch eine einzige Person vertreten: Leonz Meyer.
Leonz Meyer: Honorarkonsul der Slowakei, Verwaltungsrat und Verwaltungsratsvermittler der Grosskonzerne.
Dieser «übernimmt den Vorsitz und amtet gleichzeitig auch als Protokollführer und Stimmenzähler». Er stellt fest, dass er allein das Aktienkapital von 100 000 Franken vertritt und die anderen Verwaltungsratsmitglieder – Männer und Frauen aus der Ecopetrol-Chefetage im fernen Bogotá – auf Anträge verzichten. «Gegen diese Feststellungen des Vorsitzenden wird kein Widerspruch erhoben», steht im Protokoll. Nun wird «einstimmig» beschlossen, das Aktienkapital um 115 Millionen Franken zu erhöhen. Meyer legt der Versammlung, also sich selber, ein Schreiben der Credit Suisse vor, das besagt, dass das Geld, insgesamt 130 Millionen Dollar, bereits eingetroffen sei. Dann schliesst Meyer die Sitzung, die Notariatsmitarbeitende zückt den Stempel.
Zweieinhalb Jahre später wiederholt sich die Szene, dieses Mal erhöht Leonz Meyer das Aktienkapital um weitere 85 Millionen Franken.
Viel höher als das Eigenkapital sind die Kredite, welche die Ecopetrol Capital AG vergab. Für die Erweiterung der Raffinerie flossen zwischen 2011 und 2014 Kredite in der Höhe von 2,2 Milliarden Dollar durch den Briefkasten in Schaffhausen – eine schwer vorstellbare Summe. Würde man sie in 100-Franken-Noten sauber bündeln, man bräuchte fast 1000 Briefkästen handelsüblicher Grösse, um das ganze Geld darin zu stapeln.
Ein Briefkasten ohne Angestellte, durch den Milliarden fliessen – das klingt undurchsichtig, ist aber legal. Weil die Kosten des Raffinerieprojekts, das mit Milliarden von Schaffhausen aus finanziert worden waren, aus dem Ruder liefen, beschäftigten sich jedoch bald kolumbianische Finanzbehörden mit der Ecopetrol Capital AG in Schaffhausen.
La corrupción
Im Grunde haben die Angestellten im Büro des obersten kolumbianischen Rechnungsprüfers einen langweiligen Job: Sie überprüfen, ob sich der Staat und seine Konzerne an geltendes Recht halten. Dafür wühlen sie sich durch unzählige Excel-Tabellen, analysieren Rechnungsabschlüsse, sammeln Daten.
2015 war Reficar an der Reihe, die Raffinerie, die sich nach dem Austritt von Glencore vollständig im Besitz der kolumbianischen Ecopetrol befand. Die Rechnungsprüfer hatten gute Gründe, misstrauisch zu sein, denn immer wieder waren Kostenüberschreitungen bekannt geworden.
Nun aber entdeckten die Rechnungsprüfer einen gigantischen Korruptionsberg: Die Modernisierung der Raffinerie, die einst auf rund 3,3 Milliarden US-Dollar veranschlagt worden war, hatte inzwischen eine Rechnung von über acht Milliarden angehäuft. Über vier Milliarden US-Dollar waren innerhalb von zehn Jahren verpufft, ein Grossteil davon auf sehr dubiose Weise.
Es sei der ultimative Korruptionsfall, titelte die linke Wochenzeitung Voz, es sei der grösste Korruptionsskandal in der Geschichte des Landes, titelte die liberale Tageszeitung El Espectador.
Wie konnte das passieren?
Für den Bau der Raffinerie vergab die verantwortliche Baufirma rund 2500 Aufträge. Jeder fünfte davon kostete schliesslich mehr als das Doppelte des vereinbarten Preises. Die Rechnungsprüfer entdeckten gar Fälle mit Kostenüberschreitungen von bis zu 2000 Prozent. Fast eine Milliarde Dollar der Mehrkosten standen gemäss einem Bericht der Antikorruptions-Taskforce «in keinster Weise» im Zusammenhang mit dem eigentlichen Projekt.
2019 zeigte sich, dass die Staatsanwaltschaft zudem auf üppige Ausgaben für Flugtickets, Luxusrestaurants, Alkohol und mehrtägige «Partys mit Frauen» im Wert von rund 150 Millionen Dollar gestossen war. Allein 16 Millionen flossen in die Prostitution. Gemäss einem Journalisten von Columbia Reports handelte es sich um «die grösste Ausgabenorgie seit dem Bau des Privatzoos von Pablo Escobar in den 1980er Jahren». Im August 2022 wurden zwei ehemalige Präsidenten von Reficar erstinstanzlich zu fünf Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt.
Das Geld ist weg, die Schulden bleiben. Der «gigantische Schuldenberg», den das Projekt hinterlassen habe, werde die kolumbianische Gesellschaft bis 2046 abbezahlen müssen, sagt die Politologin Katherine Casas gegenüber der AZ. Ein Grossteil dieser Schuld ist bei der Bank in Schaffhausen fällig und stammt aus den erwähnten Darlehen der Ecopetrol Capital AG an Reficar im Wert von 2,2 Milliarden US-Dollar. Heute schuldet die Raffinerie in Cartagena dem Briefkasten in Schaffhausen noch rund 1,7 Milliarden US-Dollar.
Im Oktober 2021 wurde amtlich konstatiert, dass mit der Reficar-Vizepräsidentin Magda Nancy Manosalva auch eine ehemalige Verwaltungsrätin der Schaffhauser Firma für einen Teil der enormen Kostenüberschreitungen verantwortlich ist.
Und Leonz Meyer, der Mann, der das Geld von Schaffhausen nach Kolumbien überwiesen hatte? Hat er den grössten Korruptionsskandal in der Geschichte des südamerikanischen Landes mitfinanziert? «Als ich von den Reficar-Vorwürfen hörte, hatte ich keinen Grund zur Annahme, dass etwas nicht stimmt. Aber ich habe bei uns genauer hingesehen und gesehen, dass alles richtig gemacht wurde», sagt er. Ein Rechtshilfegesuch aus Kolumbien an die Schweiz oder ein Schreiben von der Staatsanwaltschaft Bogotá an ihn habe es nie gegeben.
Der Briefkasten in Schaffhausen bleibt also unangetastet. Die kolumbianische Rechercheurin Katherine Casas sagt dazu: «Auch wenn die Absicht hinter diesen mysteriösen Finanzgeschäften vielleicht gut war – solche Vehikel werden immer für betrügerische Geldbewegungen verwendet. In diesem Fall und in diesem Ausmass zum erheblichen Schaden für unser Land.»
Milliones para Schaffhausen
Schaffhausen hingegen profitiert bis heute vom Korruptionsskandal: in Form von Steuern in Millionenhöhe. Die Ecopetrol Capital AG verdient weiterhin Geld mit den Zinsen auf den Schulden von Reficar. Geld, das die kolumbianische Volkswirtschaft noch über 30 Jahre lang abstottern muss.
Die Gewinne einer Briefkastenfirma bleiben meist im Dunkeln. Aber: Ecopetrol gehört seit 2007 nicht mehr allein dem kolumbianischen Staat, Teil der Aktien wird an der Börse in New York gehandelt. Deshalb muss der Erdölkonzern jedes Jahr das «Form 20-F» ausfüllen, ein komplexes Formular für die amerikanischen Behörden, das Einblick in die Abschlüsse aller Tochtergesellschaften gibt und das öffentlich zugänglich ist.
Diese Unterlagen zeigen: In den Jahren 2015 bis 2021 wies der Schaffhauser Briefkasten im Durchschnitt 45 Millionen Gewinn aus. Das Kapital wuchs in der gleichen Zeit kontinuierlich auf mehr als eine halbe Milliarde Franken.
Wie viel davon in die Schaffhauser Staatskassen floss, sagt die kantonale Steuerverwaltung nicht. Der AZ liegen aber die Steuerreports des Ölkonzerns für die Jahre 2019 bis 2021 vor. Sie enthalten die Höhe der gezahlten Steuern aller Tochtergesellschaften – auch die der Ecopetrol Capital AG in Schaffhausen.
In diesen drei Jahren hat der Schaffhauser Briefkasten über 14 Millionen Franken Steuern in der Schweiz bezahlt, von denen nach Berechnungen der AZ etwas mehr als die Hälfte an Stadt und Kanton geflossen sein dürfte. Diese Zahlen decken sich mit den Angaben, die Leonz Meyer im Gespräch mit der AZ macht.
Damit gehört die Ecopetrol Capital AG, die die Schulden des Reficar-Skandals verwaltet, zu den grössten Steuerzahlern im Kanton. Für Leonz Meyer eine Erfolgsgeschichte: «In der Schweiz angesiedelte ausländische Unternehmen zahlen dem Schweizer Fiskus jährlich Millionen an Steuern. Das sind Steuern, die wir als Schweizer Bürger nicht bezahlen müssen.»
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Dieser Text entstand mit finanzieller Unterstützung des AZ-Recherchefonds «Verein zur Demontage im Kaff». Der Fonds fördert kritischen, unabhängigen Lokaljournalismus in der Region Schaffhausen, insbesondere investigative Recherchen der Schaffhauser AZ.
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