Eine Eisfläche als Abenteuerspielplatz und Ort der Völkerverständigung — vor 60 Jahren fror der Bodensee zu. Zeitzeuginnen erinnern sich.
Von Christian Hunziker
Mit aller Kraft hacken sich zwei Männer links und rechts vom Bug einen Weg durch die treibenden Eisschollen frei, versuchen verzweifelt, ihr Boot aus einer sich schnell schliessenden Eisdecke zu manövrieren. Der Motor heult, immer wieder schlägt die Schiffsschraube auf Eis. Hinter ihnen friert die Fahrrinne wieder zu. Die Sicht ist schlecht, eine Dunstglocke liegt über dem Wasser, kein Wind.
Diese Szene spielt nicht im arktischen Packeis, sondern auf dem Bodensee, im Februar 1963. Die Männer: Willi und Max Schweizer, Vater und Sohn. Ihr Beruf: Fischer. Sie sind losgezogen, um am Obersee zwischen Langenargen und Steinach ihre Netze einzuholen. Und werden dort beinahe vom Eis eingeschlossen. Erst nach vierstündigem Kampf gelingt es ihnen, sich zu befreien. Völlig erschöpft kehren sie nach Romanshorn zurück. Am nächsten Tag liegt der Obersee zu Eis erstarrt im Morgenlicht.
Die Summe der Kälte
Als hätte sich eine milchig leichte Haut über den See gelegt. So beschreibt eine Zeitzeugin den Anblick des gefrorenen Bodensees im Winter 1963. Die Seegfrörni – oder Seegfrörne – wird vor 60 Jahren in allen Anrainerstaaten zum Massenspektakel: Tausende überqueren im Februar und März 1963 den zugefrorenen See – zu Fuss, auf Schlittschuhen, Skiern oder Fahrrädern; einige sogar mit dem Motorrad oder dem Auto. Die Erinnerungen an die völkerverbindende Eisfläche werden bis heute wachgehalten.
Einige kalte Wintertage reichen nicht aus, damit der Bodensee – immerhin das dritte grösste Binnengewässer Europas – zufriert. Erstmals überliefert ist eine Seegfrörni am Bodensee für das Jahr 875. Seither fror der Obersee 33 Mal komplett zu. Für einen so grossen und tiefen See wie den Bodensee ist dazu eine Kältesumme von –370 nötig. Das bedeutet, dass die Temperaturen während mehr als 90 Tagen wenigstens um die minus vier Grad betragen müssen. Mindestens drei Monate Kälte. Und das ist letztmals im Winter 1962/1963 der Fall.
Während sich der Kalte Krieg nach der hitzigen Beinahe-Eskalation im Zuge der Kuba-Krise im Oktober 1962 wieder abkühlt, sinken im Bodenseeraum bereits im November die Temperaturen auf minus sieben Grad, mehrere Tage lang bleibt es frostig kalt. In Lindau telefoniert der fliegende Fotograf Franz Thorbecke von Amtsstelle zu Amtsstelle: Sollte der See zufrieren, will er mit seinem Flugzeug auf dem Eis landen. Doch die tauben Ohren der Beamten treiben nur seine Telefonrechnung in die Höhe. Ende Dezember wird am Untersee im Markelfinger Winkel ein erster begehbarer Eisweg freigegeben. Auf 1,3 Kilometern beträgt die Eisstärke mindestens acht Zentimeter. 740 Kilometer weiter nördlich kratzen die Beatles im Hamburger Star-Club bis Silvester mit einer Reihe von Konzerten am Ruhm.
Im neuen Jahr bleibt es kalt. Mitte Januar schliesst sich die Eisdecke am Untersee. Zum Jahrhundertereignis reicht das freilich noch nicht. Letztmals fror der weniger tiefe Untersee 1956 komplett zu. Ab dem 18. Januar decken sich deutsche Einkaufstouristen von der Reichenau in Steckborn und Ermatingen mit Kaffee und Zigaretten ein. Die improvisierten Zollstellen auf dem See kommen kaum nach mit kontrollieren. Am Ufer stauen sich die Fahrzeuge der Schaulustigen.
«Versaufet mir jo it»
Am Obersee in Langenargen beobachtet der siebzehnjährige Julius Pietruske den See genau, immer weiter hinaus aufs Eis wagt er sich mit den Schlittschuhen. Er hofft, dass sich auch hier die Eisdecke vollständig schliesst. Am 6. Februar vernimmt er, dass von Hagnau aus bereits einige Wagemutige den See nach Güttingen überquert hätten – ausgerüstet mit Seilen, einer Leiter und einer Trompete als Signalhorn. Freudig werden sie auf der Schweizer Seite empfangen. Allerdings verwehrt ihnen Bezirksstaathalter Raggenbass den Rückweg über den See, das Eis ist noch nicht freigegeben. Die Fähren zwischen Konstanz und Meersburg sowie zwischen Romanshorn und Friedrichshafen schieben sich mühsam durch die Eisschollen. Sie fahren selbst nachts, um die Fahrrinne eisfrei zu halten. Das Thermometer zeigt minus 21 Grad.
Endlich, am Samstag, 9. Februar, brechen Julius, sein Bruder Heinz und ihr Freund Konrad zum Abenteuer auf dem Eis auf. Julius notiert in sein Tagebuch: «Wir schauten nun, dass wir von unserer Tante wegkamen, denn sie jammerte schon, es sei zu gefährlich; «versaufet mir jo it», rief sie uns noch nach.» Auf Schlittschuhen lassen die drei Langenargen hinter sich und peilen mit Kompass, Karte und Marschzahl Rorschach an.
In regelmässigen Abständen messen sie die Eisdicke. Erst sind es noch 8, dann mitten auf dem See nur noch 6 Zentimeter. Plötzlich knallt das Eis wie Peitschenhiebe, nach jedem Schlittschuhabdruck laufen Risse davon. «Ein gewaltiger Donnerschlag liess das Eis erzittern, dem zuvor ein Heulen und Krachen gefolgt war. Wir merkten plötzlich, wie sich das Eis unter uns zu wölben und senken begann. Die Eisdecke bebt, darunter rauschte und gluckste das Wasser immer stärker werdend.» Es bleibt nur die Flucht nach vorne. Die drei sprinten in Richtung Schweiz, rechnen jeden Moment damit, einzubrechen. Doch das Eis hält. Nach vier Stunden erreichen sie den Mündungsbereich des Alten Rheins. Hier beträgt die Eisschicht gerade noch drei Zentimeter. Zwischen offenen Wasserstellen hindurch schlängeln sie sich trocken ans Schweizer Ufer. Dort, im Gasthaus zum «Weissen Haus», glaubt man ihnen kaum, dass sie über das Eis gekommen sind. Dieser Erstüberquerung sollten noch mehr als ein Dutzend weitere folgen.
Einige Kilometer weiter östlich beobachten tausende Schaulustige, wie Franz Thorbecke vor Lindau mit seiner Piper auf dem Eis landet. Nach langem Ringen und Argumentieren mit Belastungsstärken hat er schliesslich eine Bewilligung zur Landung erhalten. Auf dem Rückflug begleitet ihn sein neunjähriger Sohn Reinhard. Thorbeckes Luftbilder vom Eismeer werden die Erinnerung an die Seegfrörni prägen. Am gleichen Tag wird die letzte Fährverbindung zwischen Romanshorn und Friedrichshafen eingestellt. Der Bodensee ist nun komplett zugefroren.
Eisige Verbindung
Mit der Seegfrörni herrscht zwischen Anfang Februar und Anfang März 1963 am Bodensee Ausnahmezustand. Alte Traditionen leben wieder auf, andere werden neu erfunden. Bereits am 8. Februar bringt die Narrengruppe Hennenschlitter einen symbolischen Zehnten aus Hennen, Eiern, Speck und Schnaps von Immenstaad nach Münsterlingen. Das dortige Kloster hatte früher diesen Zehnten von seinem Untertanengebiet gefordert. Ebenfalls nach Münsterlingen wird vier Tage später die hölzerne Büste des Evangelisten Johannes getragen. Nach 133 Jahren in Hagnau wechselt sie traditionsgemäss wieder die Seeseite. Die rund 2500 Teilnehmenden der grossen Prozession beten für den Weltfrieden und die Verständigung zwischen Ost und West. Der junge Lehrer und Radiojournalist Kurt Felix versenkt sein Aufnahmegerät im See, kann aber zwei Tonbänder seiner Reportage retten. Vor Nonnenhorn bietet Franz Thorbecke Rundflüge über den See an, sein Sohn verkauft derweil Postkarten auf dem Eis.
Mitte Februar steigen die Temperaturen, die Eisdecke am Obersee reisst auf, an den Ufern türmen sich meterhohe Eisberge. Doch die Gfrörni ist noch nicht am Ende. Ein Kälteeinbruch Ende des Monats lässt die Eisschicht wieder wachsen. Julius Pietruske fährt mit seinen Gefährten mit dem Velo über den See zur Fasnacht nach Arbon. Und nachts übers Eis wieder zurück.
Am ersten Märzwochenende tummeln sich Tausende auf dem zugefrorenen See. Auch Familie Schweizer ist auf dem Eis unterwegs. Sie suchen die eingefrorenen Bojen ihrer Fischernetze. Ohne grossen Erfolg. Tochter Trudi erinnert sich vor allem an die beissende Kälte, die allen in die Glieder kriecht.
Am 4. März findet vor Hagnau der erste internationale Polizeirapport zwischen Schweizer und deutschen Beamten auf dem See statt. Nur zwei Tage später warnen dieselben Behörden vor dem Betreten der Eisfläche. Es taut, das Eis wird «morsch». Zehntausende haben in den wenigen Wochen den Bodensee überquert, allein in Nonnenhorn am Obersee hat die Verwaltung 10 600 «Eiswanderungsbescheinigungen» ausgestellt. Fünf Personen haben den Versuch, den See zu überqueren, mit dem Leben bezahlt. Die Insassen mehrerer im Eis eingebrochener Autos kamen hingegen glimpflich davon. Für die hungernden Wasservögel bringt das Tauwetter endlich Linderung. Zeitweise waren sie sogar aus der Luft mit Futter versorgt worden. Anfang April nehmen die letzten Schiffsverbindungen unter erschwerten Bedingungen ihren Betrieb wieder auf: Die gewaltige Kraft der Eismassen hat nahezu am ganzen See die Seezeichen niedergedrückt.
Angesichts von Klimawandel und steigenden Temperaturen stehen die Chancen auf eine baldige Wiederholung einer Seegfrörni in mittlerer Zukunft eher schlecht. Unter jenen, die die letzte grosse Seegfrörni vor sechzig Jahren miterlebt haben, bleibt vor allem das Gefühl zurück, den Nachbarn übers Eis ein Stück näher gekommen zu sein.
Christian Hunziker ist der Leiter des Seemuseums Kreuzlingen. Am 23. Februar 2023 findet im Seemuseum ein Zeitzeugenabend statt.