Keine Zeit für Notfälle

31. Januar 2023, Marlon Rusch
adobe.stock/huostik16
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In Schaffhausen werden so häufig fürsorgerische Unterbringungen angeordnet wie sonst fast nirgends in der Schweiz. Die Gründe haben vermutlich mit einem Mangel zu tun.

Manchmal, wenn Polizistinnen nicht mehr weiterwissen, klicken Handschellen. Dabei kommt es immer wieder vor, dass die Beamten einen Menschen nicht festnehmen, um ihn der Justiz zu übergeben – sondern um ihn zu schützen. 

Mit sogenannten «fürsorgerischen Unterbringungen» (FU) soll verhindert werden, dass ein Mensch, der schwer psychotisch oder hochgradig verwahrlost oder dement ist, sich selber oder Menschen in seiner Umgebung etwas antut.

2021 wurden in der Schweiz 16 000 FU angeordnet. Jeder fünfte Patient, der in einer psychiatrischen Klinik behandelt wurde, war nicht freiwillig dort. Damit gehört die Schweiz zu den europäischen Spitzenreitern. 

An der Spitze dieser Spitze befindet sich der Kanton Schaffhausen. Gemäss einer Erhebung des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Obsan wurden im Jahr 2021 in Schaffhausen 196 fürsorgerische Unterbringungen angeordnet und vollzogen. Fast viermal pro Woche wurde jemand gegen seinen Willen in die psychiatrische Klinik eingeliefert.

Berücksichtigt man die Grösse der Bevölkerung, steht Schaffhausen bei der Anzahl fürsorgerischer Unterbringungen auf Platz drei aller Kantone. Und die hohe FU-Rate ist stabil, 2019 führte Schaffhausen die Statistik gar als alleiniger Spitzenreiter an.

Im Kanton Appenzell Innerrhoden, dem Schlusslicht der Er­hebung, wurden in den vergangenen drei Jahren zwischen drei- und sechsmal weniger Menschen zwangsweise in eine psychiatrische Klinik eingewiesen als in Schaffhausen. 

Die hohe Zahl für Schaffhausen ist nicht nur bemerkenswert, sie birgt auch Probleme.

Gemäss der Stiftung Pro Mente Sana, die sich für psychische Gesundheit einsetzt, wird in der Schweiz grundsätzlich «viel zu oft» eine fürsorgerische Unterbringung angeordnet. In einem Positionspapier aus dem Herbst 2022 schreibt Pro Mente Sana, dass viele Betroffene den Verlauf einer FU als traumatisierend und entwürdigend erlebten. 

Für die Stiftung ist auch klar, dass sich die sehr unterschiedlichen FU-Raten nur mit strukturellen Gründen erklären lassen.

Doch welches sind diese Gründe? Wieso wird in Schaffhausen überproportional viel Zwang angewendet, um Menschen vor sich selber zu schützen?

wectorcolor, Bildmontage: Robin Kohler

Zwang nur als ultima ratio

Zuerst einmal muss man wissen, dass fürsorgerische Unterbringung ein wichtiges Instrument sein können, um in Krisenfällen intervenieren zu können. Doch wie überall, wo Fürsorge und Zwang aufeinandertreffen, gilt es, vorsichtig abzuwägen. 

Anna Sax, die stellvertretende Leiterin des Schaffhauser Gesundheitsamts, sagt gegenüber der AZ: «Das Beunruhigende ist, dass wir wenig darüber wissen, wieso die FU-Rate in Schaffhausen hoch ist.» Und auch Denise Freitag, die Leiterin der Schaffhauser KESB, gibt auf Anfrage an, die Gründe für die hohe Zahl nicht zu kennen.

Damit sind Sax und Freitag nicht allein.Eine Evaluierung im Auftrag des Bundesrats kam 2021 zum Schluss, dass es keine geeignete Datengrundlage gebe und bisherige Studien nicht eindeutig belegen konnten, wie die kantonalen Unterschiede zustande kommen. Es gibt jedoch sehr starke Indizien: Neben eher kleineren Punkten (etwa dass Menschen in Kantonen wie Schaffhausen nicht darauf hingewiesen werden, dass sie eine Vertrauensperson beiziehen können, wenn die Anordnung einer FU im Raum steht), zieht sich ein strukturelles Problem durch fast alle Punkte: der Mangel an psychiatrisch geschultem Personal. 

Zu wenig Fachpersonal

Einer der wichtigsten Ursachen für die unterschiedlichen FU-Raten dürfte die Frage sein, wer überhaupt eine fürsorgerische Unterbringung anordnen kann. Von Gesetzes wegen muss vor einer FU immer die «Verhältnismässigkeit» der Massnahme geprüft werden. Und dafür braucht es die Expertise von medizinischen Fachpersonen. Für die Anordnung einer FU ist grundsätzlich die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB zuständig. Da diese aber ein Spezialgericht ist und keine Ärztepraxis, ordnet die KESB nur im Ausnahmefall selber eine FU an und hat diese Kompetenz ausgedehnt. 

Wer eine FU anordnen darf, ist in den Kantonen unterschiedlich geregelt. Im Kanton Schaffhausen sind alle niedergelassenen Ärzte befugt, eine fürsorgerische Unterbringung gegen den Willen des Patienten anzuordnen. Theoretisch kann also auch eine Orthopädin oder ein Schönheitschirurg jemanden in die psychiatrische Klinik einweisen. In rund der Hälfte aller Fälle wird eine FU aber von der Hausärztin angeordnet. 

Denise Freitag von der Schaffhauser KESB sagt, dass Hausärzte eine Selbst- oder Fremdgefährdung in der Regel gut beurteilen könnten, da sie ihre Patienten oft schon lange kennen. Gemäss Erfahrungen der KESB seien Hausärzte gegenüber ihren Patienten zurückhaltend, wenn es darum gehe, fürsorgerische Unterbringungen auszusprechen. Gerade bei demenzkranken Personen, bei welchen sich die Frage stellt, ob ein eigenständiges Leben zuhause medizinisch noch vertretbar sei.

Pro Mente Sana jedoch widerspricht und verweist auf Studien, die besagen, dass sich viele nicht spezialisierte Ärztinnen überfordert fühlten, wenn sie eine FU anordnen müssten. Die Stiftung empfiehlt, dass Ärztinnen, die eine FU in die Wege leiten dürfen, über eine psychiatrische Ausbildung verfügen müssten – wie im Kanton Basel-Stadt, wo nur acht speziell qualifizierte Psychiaterinnen befugt sind, eine FU anzuordnen, und wo die FU-Quote relativ tief ist, obwohl es in urbanen Gebieten eine stärkere Tendenz zu psychischen Erkrankungen gebe. Untersuchungen aus Genf hätten gezeigt, dass eine Kompetenz-Beschränkung auf Psychiaterinnen und Psychiater die FU-Rate reduzieren würde. 

Doch so einfach lässt sich die Forderung von Pro Mente Sana vielerorts nicht umsetzen. Die stellvertretende Leiterin des Gesundheitsamts, Anna Sax, sagt, in Schaffhausen gebe es zu wenige Psychiaterinnen und Psychiater, als dass nur sie FU anordnen dürften.

Im Gegenteil habe der Ärztemangel schon dafür gesorgt, dass man sich in Zürich habe Hilfe suchen müssen.

Notfallärzte aus Zürich

Rund die Hälfte der fürsorgerischen Unterbringungen wird nicht von Hausärzten angeordnet, sondern über die Polizei. Da Polizeibeamte aber selber keine FU anordnen können, wenn sie auf einen Menschen treffen, der im Wahn sich oder andere gefährdet, müssen sie jeweils einen Arzt hinzuziehen. Dafür gab es in Schaffhausen bis 2019 einen ärztlichen Unterstützungsdienst, einen Pool von einigen Ärzten, die auf Pikett waren und bei Bedarf von der Polizei aufgeboten werden konnten. Doch diese Ärzte waren irgendwann so überlastet, dass sie sich zurückzogen und sich auch keine neuen Ärztinnen für die Aufgabe finden liessen. 

2019 sah sich das Gesundheitsamt gezwungen, eine Leistungsvereinbarung mit der Firma SOS Ärzte aus dem Kanton Zürich abzuschliessen, die diesen Notfalldienst in Schaffhausen übernahmen. Zuerst nur nachts und an den Wochenenden, die übrigen Zeiten übernahmen die Spitäler Schaffhausen, doch bald zogen sich auch die Spitäler zurück und die private Zürcher Firma übernahm das Pikett vollständig. Bei den SOS Ärzten handelt es sich  um erfahrene Ärzte, die regelmässig FU anordnen, jedoch nicht speziell um Fachärzte Psychiatrie. 

Ob die hohe FU-Rate in Schaffhausen mit den SOS Ärzten zusammenhänge, wisse sie nicht, sagt Anna Sax. Weil es bei Notfällen jeweils eine gewisse Zeit dauert, bis ein SOS Arzt von Zürich angereist ist, um jemanden abzuklären und eine fürsorgerische Unterbringung zu bewilligen, steigt jedoch die Chance, dass sich die Polizei unter Umständen gezwungen sieht, jemanden mit einem psychotischen Schub zuerst in Polizeigewahrsam zu nehmen und einzusperren, bevor der Patient in die psychiatrische Klinik gebracht werden kann. Es sind genau solche Fälle, die von Pro Mente Sana als traumatisierend beschrieben werden.

Zu wenige ambulante Angebote

Vor allem aber kritisiert die Stiftung, dass es überhaupt in so vielen Fällen so weit komme, dass über eine FU nachgedacht werden müsse. Die Stiftung fordert alternative, mildere Massnahmen, die viel früher ansetzen, um fürsorgerische Unterbringungen in die stationäre Psychiatrie zu verhindern. Pro Mente Sana schreibt, es bestehe ein «gravierender Mangel» an spezialisierten Krisenzentren, an niederschwelligen Angeboten wie Einrichtungen für betreutes Wohnen und aufsuchende Care-Teams. 

Auch wenn KESB-Chefin Denise Freitag sagt, diesbezüglich stehe Schaffhausen «nicht schlecht» da, und von einer «sehr guten psychiatrische Spitex» spricht, erachtet sie das Angebot in Schaffhausen als ausbaufähig. Es sei allgemein bekannt, dass es «zu wenige ambulante Angebote» gebe. Freitag verweist etwa auf Winterthur, wo Menschen in Not in einem Kriseninterventionszentrum niederschwellig Hilfe erhalten können: «Jeder Franken, der in die psychische Gesundheit investiert wird, zahlt sich aus.»

Anna Sax vom Gesundheitsamt sagt, der Kanton und die Psychiatrische Klinik Breitenau arbeiteten seit Jahren daran, dass mehr ambulante Angebote in der Psychiatrie aufgebaut würden, und nennt einige Angebote, die bereits umgesetzt sind: eine ambulante Kriseninterventionsstelle etwa oder ein Konsiliardienst im Rahmen der Demenzstrategie des Kantons, der Menschen zu Hause besuche. Sax ist aber ebenfalls der Ansicht, dass es Ausbaubedarf gebe. «Neue Angebote lassen sich jedoch nicht über die Krankenkassen-Tarife finanzieren. Es kann sie nur geben, wenn der Kanton mitzahlt.»

Anna Sax sagt, die Klinik Breitenau könne die FU-Quote nicht beeinflussen, der Medizinethiker Manuel Trachsel kritisierte jedoch kürzlich in einem Artikel über fürsorgerische Unterbringungen in der NZZ die «unzureichende Bereitschaft der psychiatrischen Dienste, dort rechtzeitig einzugreifen, wo die psychischen Schwierigkeiten entstünden – in der Familie, im Job, in der Schule». Dort müssten die Kantone «unbedingt nachbessern».

Bernd Krämer, der Leiter der Psychiatrischen Klinik Breitenau, hat eine Gesprächsanfrage der AZ bereits zum wiederholten Male ausgeschlagen, weil er «keine Zeit» habe. In einem Interview, das er im Sommer 2022 den SN gab, sagte er jedoch: «Wir brauchen mehr ambulante und teilstationäre Kapazitäten oder auch eine aufsuchende Psychiatrie.» 

Erbe der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen
 In der AZ erschien kürzlich eine historische Serie über fürsorgerische Zwangsmassnahmen in Schaffhausen. Lange Zeit konnten Menschen im Namen der Fürsorge von den Behörden ohne Gerichtsurteil fremdplatziert werden. 
1981 wurde das Gesetz angepasst und der sogenannte «fürsorgerische Freiheitsentzug» (FFE) eingeführt. Die Hürden, einen FFE anzuordnen, waren höher, die Behörden mussten vorsichtig abwägen und es musste eine «ernsthafte Selbstgefährdung» oder eine Gefährdung anderer Personen vorliegen. Neu gab es auch echte Rekursmöglichkeiten.
2013 gab es eine weitere Reform hin zum heutigen Kindes- und Erwachsenenschutzrecht. Der FFE wurde von der «fürsorgerischen Unterbringung» (FU) abgelöst. Der Rechtsschutz wurde gestärkt, das Beschwerdeverfahren verkürzt. 
Die 2013 gestellte Prognose, die Anzahl der Zwangsmassnahmen werde mit der Einführung der FU zurückgehen, erweist sich jedoch als falsch. Seit Jahren steigt die Zahl jährlicher fürsorgerischer Unterbringungen an. Wurden 2018 in der Schweiz noch 13 768 Menschen zwangsweise in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, waren es 2020 bereits 15 982.