Alle scheinen sich einig: Schaffhausen braucht mehr Polizeikräfte auf der Strasse. Doch gibt es dafür gute Gründe? Eine forensische Untersuchung.
In der AZ vom 31. März 2022 zeichneten Beamte der Kantonspolizei Schaffhausen ein Bild ihrer Arbeitsbedingungen. Und das Resultat war besorgniserregend: zu tiefer Lohn, steigende Arbeitslast, kaum Nachwuchs.
Bereits zwei Monate zuvor warnte der Polizeibeamtenverband an einer Pressekonferenz: «Wir sind eine Friedenspolizei.» Zwischen den Zeilen wollte er damit sagen: Im derzeitigen Zustand ist die Polizei womöglich nicht zur Stelle, wenn es brenzlig wird.
Die Botschaft, die sass. Ein Postulat von Patrick Portmann, SP-Kantonsrat und Präsident des Polizeibeamtenverbands, das den Regierungsrat beauftragen sollte, das Polizeicorps personell aufzustocken, wurde von Kantonsräten von links bis rechts unterschrieben. Normalerweise hat die Regierung bei einem Postulat zwei Jahre Zeit, ein Anliegen sorgfältig zu prüfen, nachdem ein entsprechendes Postulat vom Parlament für erheblich erklärt wurde.
In diesem Fall aber mahlten die politischen Mühlen in Hochgeschwindigkeit. Noch bevor der Kantonsrat überhaupt über das Postulat von Portmann diskutieren konnte, legte der Regierungsrat eine Vorlage zur Erhöhung der Anzahl Polizistinnen und Polizisten vor. Das Polizeicorps soll in den nächsten fünf Jahren um 20 Polizistinnen wachsen. Konkret soll die Schaffhauser Polizei so zwei zusätzliche Polizistinnen auf Patrouille schicken können, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.
Am kommenden Montag entscheidet der Rat über die Vorlage des Regierungsrats. Die Chancen sind ausgezeichnet: Die Spezialkommission, die das Geschäft vorab genau prüfte und diskutierte, winkte die Vorlage grossmehrheitlich durch.
Einzig von der SVP droht pro forma ein kleiner Widerstand: Die Rechtspartei befürchtet, mehr Patrouillen könnten zu mehr Geschwindigkeitskontrollen führen. Die Politik ist sich also grösstenteils einig: Schaffhausen braucht mehr Polizisten. Dabei zeigen Recherchen der AZ: Die Beweislage dafür ist ziemlich dünn.
In der Vorlage des Regierungsrats werden im Kern drei Entwicklungen angegeben, die für eine Erhöhung des Polizeicorps sprechen.
Argument 1: Wachsende Bevölkerung
In der Vorlage argumentiert der Regierungsrat, dass das Polizeicorps seit 2004 faktisch gleich gross geblieben, während die Bevölkerung im Kanton sukzessive angestiegen sei. «Neun Prozent mehr Menschen bedeutet neun Prozent Arbeit», fasste Kommandant Philipp Meier das Problem im März 2022 gegenüber der AZ zusammen.
Das klingt zwar plausibel, die Zahlen zeigen aber genau das Gegenteil. Seit 2009 schlüsselt die polizeiliche Kriminalstatistik des Bundesamts für Statistik für jeden Kanton minutiös auf, welche und wie viele Straftaten registriert werden. Die Statistik besagt: Während die Schaffhauser Bevölkerung seit 2009 um zehn Prozent gewachsen ist, sind registrierte Straftaten (–15,5 Prozent) und Drogendelikte (–27 Prozent) im Kanton sogar zurückgegangen. Und das bei praktisch gleichbleibendem Personalbestand seit 2004.
Kommandant Philipp Maier wehrt sich gegen diese Interpretation: Bei vielen Straftaten gemäss Strafgesetzbuch und bei fast allen Betäubungsmitteldelikten handle es sich um Kontrolldelikte, also um Delikte, die erst durch die Kontrolle der Polizei registriert würden. Je mehr die Polizei also kontrolliere, desto mehr Vergehen stelle sie fest.
Damit hat Maier einen Punkt. Ein Blick über die Kantonsgrenzen hinaus zeigt jedoch, dass auch dieses Argument zu kurz greift. Die Kriminalität sei in den vergangenen zehn Jahren in der ganzen Schweiz gesunken, sagt Polizeiforscher Dr. Dirk Baier von der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) auf Anfrage: «Wir haben in der Schweiz in den vergangenen zehn Jahren eine überaus positive Kriminalitätsentwicklung erlebt; die Kriminalität ist in vielen Bereichen deutlich zurückgegangen – und dies ohne starke Anstiege der Polizeistärke.» Eine Aufstockung des Polizeicorps, um Kriminalität zu verhindern, sei daher kein gutes Argument.
Argument 2: 24-Stunden-Gesellschaft
Auf Nachfrage räumt der Schaffhauser Kommandant Maier ein, dass sich durch den Bevölkerungsanstieg vor allem in Bereichen ausserhalb der Deliktbekämpfung Mehrarbeit ergebe, besonders bei Lärmklagen oder Gesuchen um Hilfeleistung. Anrufe in der Telefonzentrale hätten sich seit 2012 fast verdoppelt, die Cyberkriminalität sei als Phänomen dazugekommen. Die Bestandesanpassung sei also nichts anderes als ein Aufholen gegenüber den bereits geschehenen Veränderungen, sagt Maier. Der Kommandant hat recht: Alle diese Entwicklungen binden Beamte, die dann anderswo fehlen.
Nur will die Regierung mit mehr Polizistinnen auf der Strasse dafür sorgen, dass der Sicherheitsstandard längerfristig bewahrt werden kann. Ob die Sicherheitslage aber durch unbeantwortete Lärmklagen bedroht ist, ist fraglich. Und statt Streifenpolizisten einzustellen und intern zu verschieben, könnte man auch einfach Cyberspezialisten suchen.
Eine weitere Entwicklung, die der Regierungsrat identifiziert: Seit 2004 hätten sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändert. Flexiblere Arbeitszeiten, längere Öffnungszeiten von Bars und Restaurants führten dazu, dass Schaffhausen immer mehr zu einer 24-Stunden-Gesellschaft werde. «Die Nachtzeiten, während denen noch vor 20 Jahren ‹gar nichts los war›, sind vorbei.»
Nur: Was hier als neue Entwicklung verkauft wird, diente bereits 2004 als Hauptargument für eine Erhöhung des Personalbestandes der Kantonspolizei. Schon damals stand in einer Vorlage des Regierungsrats: «Insbesondere an Wochenenden und täglich in den frühen Abendstunden bis Mitternacht kann die polizeiliche Grundversorgung in der notwendigen Weise nicht oder nur teilweise sichergestellt werden.» Im Gegensatz zur heutigen Behauptung der Regierung war also auch vor 20 Jahren einiges los in Schaffhausen.
Das überrascht wenig: In den frühen 2000er-Jahren wurde die Schweiz von einer moralischen Panik rund um eine Zunahme der Jugendgewalt im Nachtleben erfasst. Die FDP forderte 2001 vom Bundesrat gar eine Taskforce Jugendgewalt. Im selben Jahr beklagte sich der Schaffhauser Stadtrat Thomas Feurer (damals ÖBS) gemäss den SN an einer Informationsveranstaltung über «Saubannerzüge» alkoholisierter Jugendlicher, die an den Wochenenden zu später Stunde durch die Gassen der Schaffhauser Altstadt ziehen würden. Die Polizei sei überfordert, sie habe zu wenig Personal: «Eine sichtbare Präsenz einer gut geschulten Polizei ist in einer Stadt mit einem vergleichsweise vitalen Nachtleben aber ganz einfach nötig und unabdingbar.»
Diese Entwicklung rief schliesslich die Politik auf den Plan: 2004 erhöhte der Kantonsrat den Personalbestand der Kantonspolizei auf das heutige Niveau – mit Verweis auf die 24-Stunden-Gesellschaft und die Jugendgewalt. Letztere befindet sich heute gemäss einer Studie, die Polizeiforscher Dirk Baier 2022 veröffentlicht hat, übrigens, trotz steigender Tendenz, auf einem tieferen Niveau als noch 2009.
Argument 3: Die Bürokratie
Die Einführung der Strafprozessordnung im Jahr 2011 hat die Rechte von Beschuldigten gegenüber der Polizei gestärkt. Der Regierungsrat schreibt in seiner Vorlage: «Vermehrt ist eine Überführung von Straftäterinnen und Straftätern sodann nur noch durch eindeutige und aufwändig erlangte Beweise möglich.»
Für die Polizistinnen bedeutet dieser Schutz vor polizeilicher Willkür mehr Schreibtischarbeit. «Heute müssen wir für gleich viele Fälle einen grösseren Aufwand betreiben», erklärt Kommandant Philipp Maier. Er belegt das mit eindrücklichen Zahlen: Haben die Schaffhauser Polizistinnen im Jahr 2012 noch 11 553 Berichte verfasst, waren es im Jahr 2022 19 525; eine Zunahme um über 70 Prozent. Für Dirk Baier wäre der erhöhte bürokratische Aufwand ein guter Grund für eine Aufstockung des Personalbestands bei der Polizei. Allerdings müsse man auch in die Überlegungen mit einbeziehen, dass ein technischer Fortschritt stattgefunden habe. Innovationen, etwa automatische Transkriptionsprogramme, könnten hier Abhilfe schaffen. «Ich denke, es bräuchte eine gute Analyse der bürokratischen Aufwände, um hier bestmöglich Entlastung zu schaffen.»
Genau eine derartige Analyse fehlt aber in der Vorlage des Regierungsrats. Zumal mehr Polizistinnen auf Patrouille das Problem der überbordenden Bürokratie nicht lösen, sondern gar akzentuieren: Je mehr Personenkontrollen durchgeführt werden, desto mehr Delikte, die sonst ungeahndet blieben, werden festgestellt. Mit anderen Worten: Die Polizei schafft sich selber einen immer grösseren Aktenberg.
Zweifelhafte Beweisführung
Die drei Kernargumente der Vorlage, die belegen sollen, dass es mehr Polizisten brauche, schrammen also am Problem vorbei. Das heisst aber nicht, dass es bei der Schaffhauser Polizei keine Probleme zu lösen gäbe. Polizeigewerkschafter Patrick Portmann weist auf die vielen Überstunden hin: «Viele Polizistinnen beklagen sich, dass sie ihre Arbeit heute nicht mehr in der Qualität ausführen können, wie sie sich das wünschen würden.» Zudem seien die Arbeitsbedingungen bei der Schaffhauser Polizei schlechter als im Kanton Zürich. «Dementsprechend verlassen viele Polizistinnen Schaffhausen Richtung Winterthur oder Zürich, wo sie bis zu 1500 Franken mehr pro Monat verdienen.» Dieses Problem sieht auch der eher polizeikritisch eingestellte Kantonsrat Gianluca Loser (Grüne), der auch Teil der vorberatenden Spezialkommission war. Er sagt, er sehe den Ausbau der Polizei grundsätzlich kritisch. Heute aber unterstütze er den Ausbau: «In der Vorlage geht es konkret darum, dass das Corps überlebt.» Woher allerdings die neuen Polizistinnen kommen sollen, ist unklar. Gemäss Dirk Baier interessieren sich immer weniger junge Menschen für den Polizeiberuf: «Wenn man motivierte junge Menschen zur Polizei holen möchte, muss eine geplante Aufstockung mit geeigneten Massnahmen zur Gewinnung dieser zukünftigen Polizistinnen und Polizisten einhergehen.»
Solche Massnahmen sucht man in der Vorlage jedoch vergeblich. Es scheint, als fokussiere der Regierungsrat derart stark auf die Quantität des Corps, dass er gleichzeitig vergisst, auf die Qualität des Stellenprofils zu achten und somit den Beruf erst attraktiv zu machen.
Ein alter Wunsch
Die Regierung will seit Jahren mehr Polizei. Bereits Cornelia Stamm Hurters Vorgängerin, SVP-Regierungsrätin Rosmarie Widmer Gysel (bis 2018 im Amt) hatte unermüdlich betont, der Kanton habe zu wenige Uniformierte. Unter ihr und dem 2018 entlassenen Polizeikommandanten Kurt Blöchlinger wurden zeitweise zehn Polizistinnen und Polizisten mehr beschäftigt als vom Kantonsrat bewilligt, wie die AZ 2015 aufdeckte. Eine Aufstockung des Corps war auch Teil der Vorlage für ein neues Polizeigesetz, die allerdings 2017 schon in der Vernehmlassung scheiterte. Eine Überarbeitung des Polizeigesetzes in Etappen ist in Arbeit, die Corpsgrösse soll aber mit der im Text untersuchten Vorlage separat erfolgen.
Am kommenden Freitag treffe sich der Polizeibeamtenverband mit der zuständigen Regierungsrätin Cornelia Stamm Hurter, um über zusätzliche Entlastungsmassnahmen zu diskutieren, sagt Patrick Portmann. Und auch Kommandant Philipp Maier versichert, allerdings ohne konkret zu werden: «Wir arbeiten zum Beispiel im Bereich der täglichen Arbeitszeiten, Teilzeitarbeit, Möglichkeiten für einen Wiedereinstieg und so weiter.»
Das ändert aber nichts daran, dass die Vorlage, die am kommenden Montag im Kantonsrat behandelt wird, eine reine Ausbauvorlage ist. Mit zweifelhafter Beweisführung.