Nach mehreren Parteiaustritten ist von einem Linksrutsch bei der Schaffhauser SP die Rede. Doch diesen Linksrutsch gibt es nicht. Eine Analyse.
Die Schaffhauser Nachrichten haben einen dramatischen Begriff erfunden: «SPExit». Damit bezeichnen sie die angebliche «Spaltung» der Schaffhauser SP. Ein SN-Redaktor schrieb in einem Kommentar, die SP müsse sich nach dem Eintritt der ehemaligen AL-Aktivisten im März 2022 entscheiden, in welche Richtung sie gehen wolle: Steuere sie «scharf nach links, dorthin, wo die AL selig war», dann erreiche sie bei den Gesamterneuerungswahlen 2024 fünf Prozent der Wähler, dafür könne sie lustige Partys feiern. Wolle sie das nicht, müsse sich die SP dafür entscheiden, «eine Volkspartei zu bleiben».
Das Narrativ der Tageszeitung ist klar: Seit die Alternative Liste in der Schaffhauser SP aufgegangen sei, drifte die Partei nach links ab. Dieser Linksrutsch sei auch der Grund für eine Reihe von Parteiaustritten.
Das ist eine hübsche Erzählung, doch sie ist grundlegend falsch. Der Eintritt der Politikerinnen und Politiker der ehemaligen AL hat in der städtischen SP zweifellos etwas ausgelöst und steht auch in einem Zusammenhang mit einzelnen Parteiaustritten. Der Grund dafür ist aber nicht, dass die Politikerinnen der ehemaligen AL die Politik der SP nach links ziehen würden. Das Problem sind ganz allgemein nicht politische Inhalte. Das Problem ist, dass mit dem Eintritt der AL in die SP zwei politische Kulturen aufeinandertreffen. Und zwar an einem ganz spezifischen Ort: in der Fraktion der SP im Stadtparlament.
Individuelle Gründe
Mitte Dezember konnte man in einem Kommentar in der AZ lesen, der Eintritt der AL-Mitglieder sei «in den meisten Fällen nicht die Ursache für die Parteiaustritte»:
Grossstadtrat Marco Planas war aus der SP ausgetreten, weil er die politischen Fronten im Stadtparlament als verhärtet wahrgenommen und keine Lust mehr auf den «Parteienhickhack» gehabt hatte. Er beschäftigte sich jedoch bereits mit dem Parteiaustritt, bevor die AL in die SP eintrat.
Grossstadtrat Shendrit Sadiku trat aus der Juso aus, nachdem er erst vor etwa neun Monaten ins Parlament nachgerutscht war. Er war der einzige, der explizit behauptete, seine Partei sei nach links gerutscht. Man darf sich jedoch die Frage stellen, ob es nicht eher der 21-jährige Sadiku war, der nach rechts gerutscht war. Fragt man ihn, was er mit diesem Linksrutsch denn eigentlich meine, schreibt er: «Die SP befasst sich in den letzten Jahren meiner Meinung nach nicht mehr mit den politischen Themen, mit denen sie sich befassen müsste, sondern stark mit Themen wie LGBTQ, Geschlechterfrage, Wokeness, Veganismus etc. Mit diesen Themen macht sich die Partei mehr lächerlich, als dass sie neue Wähler gewinnt.» Dass sich die SP-Jungpartei Juso mit diesen Themen beschäftigt, ist jedoch nicht erst seit dem Eintritt der AL in die SP der Fall. (Seit März 2022 hat sich die mit der AL verstärkte städtische SP-Fraktion in parlamentarischen Vorstössen übrigens schwerpunktmässig mit Wärmeverbünden, Kinderkrippen, dem Verkauf von städtischen Liegenschaften und dem Budget beschäftigt. Mit ziemlich bodenständiger linker Politik also.)
Beim Austritt von Urs Tanner, dem langjährigen Chef der SP-Fraktion im Grossen Stadtrat, war der Eintritt der AL-Mitglieder in die SP wohl tatsächlich eine der Hauptursachen. Dabei geht es aber nicht darum, wie links künftig in der SP politisiert werden soll. Tanner schrieb in seinem Rücktrittschreiben explizit: «Politisch werde ich immer am linken Flügel tschutten, egal für welche Partei.» Im Endeffekt ging Tanner, weil er in der Partei plötzlich nicht mehr unangefochten war.
Generationenwechsel
Im Kern sind die derzeitigen Eruptionen in der städtischen SP darauf zurückzuführen, dass ein Ablösungsprozess eingesetzt hat, ein Generationenwechsel. Dieser Prozess erzeugt Reibung – und hat einige Parteiexponenten aus ihrer Komfortzone getrieben.
Ein Beispiel dafür ist die Gruppierung «SP Frauen». In einer Partei, bei der die wichtigen Ämter lange Zeit vor allem von Männern besetzt worden waren, wurde die Gruppierung in den vergangenen drei Jahren immer stärker und lauter. Die SP-Frauen sind darauf bedacht, dass ihre Kernthemen – Gleichstellung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Frauen in den Gremien – in allen SP-Sektionen Eingang finden.
Das erzeugt Druck auf Männer, die sich eine Karriere in der Partei ausgemalt haben. Grossstadtrat Marco Planas etwa, der nun aus der Partei ausgetreten ist, wurde 2020 nicht als Stadtrat nominiert, stattdessen kam Christine Thommen zum Zug, die kurz davor von der FDP in die SP gekommen war. Grossstadtrat Urs Tanner wurde im November 2022 nicht als Nationalrat nominiert, stattdessen kam Linda De Ventura zum Zug, die kurz davor von der AL in die SP gekommen war.
Einen Wandel gab es auch in der Parteileitung: Im September 2020 gab Monika Lacher (Jahrgang 1961) das Parteipräsidium ab, die Nachfolge übernahmen nach einer kurzen Übergangszeit Livia Munz (1986) und Thomas Weber (1985), eine neue Doppelspitze, die die überlieferten Strukturen hinterfragte. Die beiden starteten einen Prozess, in dem die Partei in offenen Sitzungen ein neues Parteiprogramm und neue Statuten erarbeiteten. Es wurden Themengruppen festgelegt und Profile für einzelne Funktionen definiert, ausserdem wurden die Mandatssteuern erhöht (das ist der Anteil an ihren Entschädigungen, welche Parlamentarierinnen und andere Mandatsträger der Partei abgeben müssen). Mit dem Geld sollte die Kampagnenfähigkeit der Partei gestärkt werden, ausserdem wurde das Sekretariat aufgestockt, um Präsidium und Vorstand zu entlasten. Im Sekretariat arbeitete neu der ehemalige AL-Grossstadtrat Simon Sepan (1986), der neben Munz und Weber eine tragende Funktion eingenommen hat
Diese Modernisierung und Professionalisierung der Stadtpartei blieb nicht folgenlos.
Turbulenzen in der Fraktion
In den vergangenen Jahren hatte sich die Fraktion der SP im Grossen Stadtrat immer mehr verselbstständigt. Das gute Dutzend Parlamentarier hatte keine gemeinsamen Sitzungen mit der Parteileitung oder der Basis, sie konnten mehr oder weniger allein entscheiden, welche Schwerpunkte sie setzen wollten. Nun wurden nicht nur ihre monetären Abgaben an die Partei erhöht, es wurde auch auf eine stärkere Absprache und auf mehr gemeinsame Sitzungen gedrängt. Dass praktisch niemand von der Fraktion mitwirkte, als in Workshops das Parteiprogramm revidiert wurde, stiess dem Vorstand sauer auf. Gleichzeitig fühlte sich die Fraktion vom Vorstand schlecht informiert über Neuerungen.
Urs Tanner hatte die Fraktion seit vielen Jahren geführt. Er war der unangefochtene Capo, am längsten dabei, mit dem grössten Überblick – Fraktionskollegen sagen, Tanner sei das «Gedächtnis» der Fraktion gewesen. Der Charakterkopf ist ein Instinktpolitiker, er versteht es, spontan ans Rednerpult zu marschieren und den Bürgerlichen in launigen Ansprachen den Marsch zu blasen. So hat er über die Jahre viele seiner zurückhaltenderen und weniger krawallorientierten SP-Kolleginnen gegen scharfe Angriffe von Bürgerlichen wie Walter Hotz oder Mariano Fioretti verteidigt. Die Fraktion gewährte ihm im Gegenzug Narrenfreiheit, schaute über seine Ecken und Kanten hinweg: seine Unstrukturiertheit etwa, seinen patriarchalischen Führungsstil, seine politischen Schnellschüsse, oder auch darüber, dass er oft nicht erreichbar war.
Es gab eine Zeit, da hielten die SP und die damalige AL gemeinsame Fraktionssitzungen ab. Doch vor drei Jahren, 2019, hatte die AL-Fraktion genug und verkündete der SP-Fraktion in einem Brief, dass sie künftig keine gemeinsamen Sitzungen mehr abhalten werden. Einer der Hauptgründe: die Sitzungsleitung durch Fraktionschef Urs Tanner. Einer, der seine Kritik an Tanner damals nicht verbarg, war Simon Sepan, heute SP-Sekretär und einer der Köpfe hinter der Strukturreform, die mehr Druck auf die Fraktion aufsetzte.
So weit zur Gemengelage, in welche im März 2022 die Mitglieder der frisch aufgelösten AL der SP-Fraktion beitraten (die SP-Fraktion wurde damals vor vollendete Tatsachen gestellt und vom Vorstand nicht vorinformiert, dass sie bald Zuwachs von unerwarteter Seite erhalten würde).
Plötzlich Konkurrenz
Dass sich die AL auflöst und ihre Mitglieder der SP beitreten, war lange Zeit ein Wunschtraum der SP-Führung. Als es dann im Frühling 2022 tatsächlich so weit war (siehe «Auflösung», AZ vom 3. März 2022), verstärkte das die Irritationen in der SP, die ohnehin im Umbruch war.
Plötzlich standen da diverse kluge, politisch erfahrene und sehr aktive junge und mittelalte Menschen, die auch Ambitionen auf politische Mitsprache und politische Ämter hatten. Plötzlich war Urs Tanner nicht mehr der einzig denkbare Kandidat für das Erbe von Martina Munz als Nationalrätin, und er bekam die Konkurrenz in der Nominationsversammlung auch klar zu spüren (siehe «Zeitenwende», AZ vom 17. November 2022).
Dass mit der ehemaligen AL nicht nur ein paar Mitläufer integriert werden mussten, zeigte sich aber auch in der Fraktion:
Die AL war mehr eine Bewegung als eine herkömmliche Partei. Während die SP eine grosse Basis von hunderten mehr oder weniger aktiven Mitgliedern hat, bestand die AL aus einem kleinen, aber harten Kern von Vollblutpolitikern, von denen viele Politik als ihr einziges Hobby betrachten. Es gab Zeiten, da sahen sich die führenden Köpfe der AL praktisch täglich beim Feierabendbier und politisierten die halbe Nacht hindurch, ohne auf eine stille Parteibasis Rücksicht nehmen zu müssen. Man zoffte sich und vertrug sich wieder – und war politisch äusserst agil und schlagfertig. Natürlich gab es auch eine Kehrseite: Sind die prägenden Köpfe weg, versinkt ein Konstrukt wie die AL unter Umständen wieder in der Versenkung, was im März 2022 ja dann auch tatsächlich geschah.
Die SP funktioniert ganz anders: Die Arbeit ist breiter abgestützt, die Positionen müssen breiter abgestützt werden, die Prozesse sind träger, die Hierarchien grösser. Dafür kann eine Partei wie die SP auch Stürme und Flauten überdauern.
Als die AL plötzlich in die SP-Fraktion integriert werden musste, prallten zwei Welten aufeinander. Am besten zeigt sich das an der Person des ehemaligen AL-Grossstadtrats Matthias Frick.
Verschiedene Tempi
Frick ist ein animal politique. Er hat langjährige Erfahrung sowohl im Stadt- als auch im Kantonsparlament. Er sieht die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Dossiers, kann im politischen Prozess genauso zurück- wie in die Zukunft schauen, ist juristisch beschlagen und nimmt sich viel Zeit, sich in diverse Themen hineinzuackern. Ein solcher Mann kann ein Segen sein für eine Partei. Doch bei der städtischen SP ist er auf eine Fraktion getroffen, die Politik eher am Feierabend betreibt, in der man sich alle paar Wochen trifft, um sich auszutauschen, und nicht jeden Abend. Er ist auf eine Fraktion getroffen, in der Wert darauf gelegt wird, dass Traktanden speditiv behandelt werden und man sich bei Vorstössen auf Schwerpunktthemen beschränkt. Auf eine Fraktion, in der niemand derart viel Zeit für die manchmal schnöde Lokalpolitik aufbringen kann und will wie Matthias Frick.
Frick aber bestand in den Fraktionssitzungen penetrant darauf, dass seine vielen Vorstösse auch ausdiskutiert werden – egal, wie lange das dauert. Der Tonfall in der Fraktion wurde mit seiner Anwesenheit direkter und rauer, die Geschwindigkeit nahm zu, Diskussionen wurden auch einmal unangenehm. Doch gab es mal Streit, konnte man sich nicht abends beim Feierabendbier wieder aussöhnen, schliesslich stand die nächste Fraktionssitzung erst in ein paar Wochen auf dem Programm. Im Fraktions-Chat, der vorher eher wie ein Massenmail funktionierte, wurden plötzlich in AL-Manier blitzschnell Nachrichten hin- und hergejagt. Verschiedene Tempi prallten aufeinander. Die ehemaligen AL-Politikerinnen empfanden die neue SP-Fraktion als zu träge und zu unpolitisch; die alt-angestammten SP-Politiker forderten die Neuen auf, mit ihrer als aktivistisch empfundenen Oppositionspolitik aufzuhören.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte es eine Fraktionsleitung gebraucht, die diese Konflikte moderiert. Doch Fraktionschef Urs Tanner war dafür nicht der richtige Mann, er war selber Teil des Konflikts. Und auch die Neuankömmlinge von der AL waren nicht gewillt, über Tanners Ecken und Kanten hinwegzusehen. Ein Politiker wie Matthias Frick braucht keine politische Vaterfigur, die sich schützend vor ihn stellt, er hat selber genügend Ecken und Kanten.
Man sieht: Dass Urs Tanner und auch Marco Planas die neu zusammengewürfelte SP-Fraktion und schliesslich auch die Partei verlassen haben, hat nicht mit einem angeblichen «Linksrutsch» zu tun – sondern mit einer Veränderung der politischen Kultur in der Fraktion.
Was nun?
Der Eintritt der AL in die SP ist eine Chance. Die agilen Aktivistinnen und Aktivisten können der staatstragenden Sozialdemokratie helfen, wieder etwas wacher und aktiver zu werden. Gleichzeitig kann eine staatstragende Partei wie die SP den aktiven Neuankömmlingen einen idealen Boden bieten, um sich zu entfalten. Die Kräfte können gebündelt werden.
Unter dem Strich geht es nun wohl vor allem um Kommunikation und die Moderation von Konflikten – bislang nicht die Stärke der neu formierten SP. An ihrer nächsten Sitzung wird die SP-Fraktion eine neue Leitung bestimmen. Dann wird sich zeigen, ob sie nach den drei Austritten wieder in den Tritt kommt und sich neu finden kann. Gelingt es ihr, kann man das, was die SN als «SPExit» zur Krise stilisieren, wohl getrost als Randnotiz eines gelungenen Generationenwechsels abtun.