Patient gesund, System krank

27. Dezember 2022, Mattias Greuter
Montage: Robin Kohler
Montage: Robin Kohler

Eine Neunzehnjährige muss vor ­Gericht ­Leistungen der IV erstreiten. Sie ist nicht allein: Fast ­jedes dritte Urteil zur IV korrigiert einen Fehlentscheid.

«Das ist ein ganz krasser Fall», sagt der Rechtsanwalt, «eine Katastrophe». Ein Urteil des Obergerichts erzählt von einer jungen Frau, welcher die Schaffhauser IV-Stelle keine beruflichen Integrationsmassnahmen gewähren wollte. Tragischerweise: einer sehr jungen Frau. Sie ist erst 19, als sie die ablehnende Antwort der IV-Stelle erhält. Zuvor waren alle ihre Versuche, im Berufsleben Fuss zu fassen, gescheitert.

Die Jugendliche brach eine Lehre als Malerin ab, auch eine herabgestufte Ausbildung zur Malerpraktikerin scheiterte. Dann wurde sie bei der Invalidenversicherung (IV) vorstellig. Noch bevor diese zu einem Entscheid kam, versuchte es die Frau mit einer Vorlehre und drei Praktikumsstellen, die ihr allesamt gekündigt wurden. Kurz: Aus eigener Kraft schafft sie den Einstieg in die Arbeitswelt nicht. Und das hat gesundheitliche Gründe.

Im Urteil des Obergerichts ist zu lesen, dass die junge Frau laut zweier Diagnosen an einer Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität «mit Verdacht auf eine tiefgreifende Entwicklungsstörung» leidet. Das merkten auch ihre Arbeitgeber.

Nach zwei Lehrabbrüchen versuchte sie sich in der Pflege. Zwei Vorgesetzte stellten fest: Es geht nicht, obwohl sie sich grosse Mühe gibt und sehr pflichtbewusst ist. Sie arbeite unstrukturiert und vergesse viele Aufträge, sei auch «bei einfachsten Tätigkeiten rasch überfordert», nicht belastbar und psychisch labil. Für die Chefin war klar: Diese Frau braucht eine eins-zu-eins-Betreuung und einen geschützten Arbeitsplatz. Auch eine Psychologin empfahl «gute Supervision und Betreuung».

Um es vorwegzunehmen: Für das Obergericht war am Ende völlig klar, dass diese junge Frau Anspruch auf Leistungen der IV hat, «weitere medizinische Abklärungen hierzu sind nicht erforderlich». Stattdessen braucht es berufliche Eingliederungsmassnahmen. Es gilt jeweils der Grundsatz «Eingliederung vor Rente», insbesondere bei jungen Menschen. Eingliederungsmassnahmen der IV für Jugendliche bis 25 Jahren sind spezifisch dafür gedacht, sie auf die berufliche Erstausbildung vorzubereiten und ihre Leistungsfähigkeit aufzubauen.

Gesetzliche Grundlagen ignoriert

Dass das Obergericht überhaupt urteilen musste, liegt daran, dass die IV-Stelle der Meinung war, genau auf diese Leistungen habe die 19-Jährige keinen Anspruch. Es handelt sich um einen von jährlich durchschnittlich rund 17 Fällen, in denen das Obergericht einen IV-Entscheid korrigert.
Der Arzt der IV erklärte die junge Frau kurzerhand für gesund. Genauer: Es liege «kein invalidisierender Gesundheitsschaden» vor. Darauf stützte sich die IV-Stelle, als sie am 28. Januar 2021 das Leistungsbegehren der Frau ablehnte.

Der Entscheid war falsch, wie das Obergericht später feststellte. Dafür musste es gar nicht erst die Einschätzung des IV-Arztes in Zweifel ziehen. Denn selbst wenn dessen Eindruck richtig wäre, hätte sie Anrecht auf Eingliederungsmassnahmen, und das hätte der IV-Stelle klar sein müssen.
Denn: Am 1. Januar 2022, weniger als ein Monat vor dem ablehnenden Entscheid, trat die Revision «Weiterentwicklung der IV» in Kraft. Seither ist der Grundsatz verankert, «dass die Eingliederungsanstrengungen umso intensiver sein sollten, je jünger eine Person ist», wie das Obergericht zusammenfasste.

Für den Fall der jungen Frau bedeutet das: Sie hat Anspruch auf Leistungen der IV, egal ob es einen «invalidisierenden Gesundheitsschaden» bereits gibt – es reichen «gesundheitliche Schwierigkeiten, welche mit einem Invaliditätsrisiko einhergehen». Weniger umständlich formuliert diesen Grundsatz eine Info-Broschüre der IV selber: Anspruch auf Integrationsmassnahmen haben «Jugendliche unter 25 Jahren, die noch nicht erwerbstätig waren und von einer Invalidität bedroht sind.» Das hat die IV-Stelle bei ihrem Entscheid schlicht ignoriert – oder nicht gewusst.

«Unsorgfältige» Arbeit

Die AZ hat das Sozialversicherungsamt (SVA), dem die IV-Stelle angegliedert ist, mit dem Fall konfrontiert. Von einem Fehler will Claudia Bögli vom Rechtsdienst des SVA nicht sprechen: «Unsere Sachbearbeiter sollten sich auf die Auskunft der IV-Ärzte abstützen können.» Sie seien keine Ärzte, und man könne von ihnen nicht erwarten, dass sie eine ärztliche Beurteilung in Frage stellen. Ganz grundsätzlich, sagt Bruno Bischof, Leiter des SVA, fälle die IV-Stelle ihre Entscheide auf Basis der rechtlichen Grundlagen, der Weisungen des zuständigen Bundesamtes und «nach bestem Wissen und Gewissen».

Drei Anwälte, mit denen die AZ gesprochen hat, widersprechen ihm nicht. Es sei keineswegs böser Wille auf der IV-Stelle zu vermuten, so der Tenor. Rechtsanwalt Jürg Tanner – er ist es, der eingangs von einer «Katastrophe» gesprochen hat – sagt aber: «Die IV-Stelle arbeitet unsorgfältig.» Er habe zahlreiche Beschwerden gegen IV-Entscheide vor Gericht vertreten, und in etwa 80 Prozent der Fälle gewonnen. «Manchmal habe ich mich gefragt, ob irgendjemand beim SVA meine Argumente überhaupt gelesen hat.»
Darüber hinaus orten die Anwälte einen Fehler im System. Seine Wurzeln liegen bei den IV-Ärzten und Gutachterinnen ebenso wie bei den Sachbearbeitern der IV-Stelle.

Ungenügende Gutachten

Rechtsanwalt Michael Keiser, in Schaffhausen bekannt dafür, viele von der IV Abgelehnte zu vertreten, sagt: «Ein Gutachter, der die Leute häufig für gesund erklärt und der IV so Geld spart, wird tendenziell mehr Aufträge erhalten.» Jürg Tanner ergänzt, die IV-Ärzte, auf deren Einschätzung die Gutachten und IV-Entscheide oft basieren, seien ohnehin befangen, «wie jeder Versicherungsarzt».

Tanner und ein dritter Rechtsanwalt, Martin Keiser (der Vater von Michael Keiser, der ebenfalls viele IV-Fälle betreute) sind sich einig: Ein Problem ist auch die fachliche Qualität der Gutachterinnen und Gutachter. Keiser sagt: «Wenn sich jemand bemüht, die Arbeitsfähigkeit in jedem Fall seriös abzuklären, stösst er auf systemischen Widerstand und geht bald wieder.» Es gebe «eine starke und systemische Tendenz, Leute für arbeitsfähig zu erklären». Tanner sagt, ein ihm bekannter IV-Arzt sei «bekannt dafür, dass er praktisch alle als nicht oder wenig beeinträchtigt sieht».

Das sind harte und letztlich nicht überprüfbare Vorwürfe. Aber Indizien, dass im System etwas nicht stimmt, gibt es auch mit wissenschaftlicher Basis. Eine Studie aus dem Jahr 2020 sagt verkürzt: Man kann schlicht Pech haben und bei einer schlechten Gutachterin landen. Die Studie stützt sich auf Gespräche mit zahlreichen Expertinnen und Experten sowie auf eine Qualitätserhebungsstudie aus dem Jahr 2010. Diese förderte zutage, dass 22 Prozent der Gutachten qualitativ ungenügend waren.

Im Fall der jungen Frau wurde gar kein externes Gutachten eingeholt, die IV-Stelle begnügte sich mit der Einschätzung des von der IV bezahlten Arztes. In zwei anderen Fällen, zu denen die AZ die Obergerichtsentscheide gelesen hat, war hingegen die Qualität der Gutachten das Problem.

Ein Mann, der unter Depressionen und einer Suchterkrankung leidet, wurde von einem Gutachter für gesund erklärt, der IV-Arzt nickte ab, und die IV-Stelle sprach dem Mann keine Leistungen zu. Das Obergericht ging über die Bücher und befand: Das Gutachten ist «keine taugliche Beweisgrundlage» und leidet an «zahlreichen grundlegenden Mängeln». Die IV-Stelle hätte sich nicht darauf stützen dürfen.

In einem anderen Fall geht es um einen Maurer, der sein Geschäft wegen einer starken Arthrose aufgeben musste. Der IV-Arzt sah aber keinen Therapiebedarf, keinen hohen Leidensdruck und erklärte den Mann für in einem anderen Beruf zu 100 Prozent arbeitsfähig, ohne ihn selber untersucht zu haben. Das Obergericht kritisierte die «unsorgfältige» Argumentation des Arztes, an der die IV-Stelle hätte zweifeln müssen, und wies den Fall für eine Neubeurteilung zurück.

Jede dritte Beschwerde erfolgreich

Die drei beschriebenen Fälle stehen exemplarisch für viele weitere: Über die letzten vier Jahre betrachtet hiess das Gericht 31 Prozent der Beschwerden im IV-Bereich gut: Fast jeder dritte IV-Entscheid, der angefochten wurde, war falsch. Das ist im schweizweiten Vergleich kein auffällig hoher Wert, aber viel mehr als bei anderen Beschwerden gegen Verwaltungsentscheide. Ausserdem ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen: In der Statistik tauchen nur diejenigen auf, die sich wehren.
Claudia Bögli vom Rechtsdienst des SVA erklärt die Zahlen damit, dass die Fälle komplex und die Krankheitsbilder oft unklar seien. Und: «Die Beschwerdefälle werden vom Gericht sehr genau überprüft.» Sie sieht in Fällen wie dem der jungen Frau, der die IV zuerst alle Leistungen vorenthalten wollte, auch das Positive: «Die Urteile fliessen in unsere interne Weiterbildung ein. Im vorliegenden Fall werden unsere Mitarbeiter beispielsweise auch hinsichtlich der ‹Weiterentwicklung der IV› sensibilisiert.»

Rechtsanwalt Jürg Tanner kann bei dieser Argumentation nur den Kopf schütteln. «Unsachgemässe Ablehnungen führen dazu, dass letztlich das Obergericht die Arbeit der IV-Stelle macht.»

Er zeigt auf, wie es zu einer fatalen Kette von Fehlentscheiden kommen kann: «Für den IV-Arzt ist es am einfachsten, jemanden kurz und trocken gesund zu schreiben. Und wenn der IV-Sachbearbeiter dann das Gesuch ablehnt, hat er den Fall vom Tisch, und nötigenfalls kümmert sich das Obergericht darum.»

Für die Betroffenen bedeutet ein Gerichtsfall eine möglicherweise jahrelange Wartezeit, in der sie einen negativen Entscheid und keinen Anspruch auf IV-Leistungen haben. «In dieser Zeit verpassen gerade junge Leute leider auch Chancen», bedauert Rechtsanwalt Martin Keiser.

Die junge Frau, die von der IV zuerst keine Unterstützung erhielt, hatte letztlich ein bisschen Glück in ihrem grossen Unglück. Das Obergericht fällte seinen Entscheid untypisch schnell innerhalb von sechs Monaten. Inzwischen, sagt Claudia Bögli vom SVA, seien Eingliederungsmassnahmen gestartet.