Wie bringt man ein Durchgangszentrum durch unstete Zeiten? Barbara Schmid, Leiterin der Friedeck in Buch, sagt: Unstet sind die Zeiten immer.
AZ Barbara Schmid, Sie leiten das Durchgangszentrum Friedeck seit eineinhalb Jahren. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie an einem Montagmorgen wie diesem zur Arbeit kommen?
Barbara Schmid Da freue ich mich auf die Arbeit und auf mein Team. Der Tag wird bringen, was er bringt – wo man mit Menschen arbeitet, geschieht immer etwas, womit man am Morgen nicht gerechnet hat. Klar haben wir gewisse Fixpunkte; Pläne, Besprechungen und Betreuungsaufgaben beispielsweise. Aber letztlich spiegelt unser Alltag das Weltgeschehen. Und gerade das Asylwesen ist grossen Schwankungen unterworfen.
Wie hat Ihr Tag heute angefangen?
Kalt. (lacht) Sehr kalt. Meistens komme ich zwischen 7 und halb 8 Uhr morgens an, damit ich genügend Zeit für einen Austausch mit der Nachtwache habe. Das war auch heute so. Letzte Nacht war alles ruhig; aktuell leben hier um die 20 Leute, alles sehr nette und ruhige Menschen. Um 8 Uhr hatten wir Morgenrapport, wo wir jeweils montags auch das Wochenende revue passieren lassen. Dann besprechen wir das Kommende – wenigstens das, was wir wissen: Transfers, Zuweisungen, Eintrittsgespräche. Und dann beginnt der Tag. Mit einigen Eckpunkten und allem, was dazwischenkommt.
Das klingt fast stoisch. Ich stelle mir vor, dass die vergangenen Monate ziemlich turbulent waren.
Warum meinen Sie?
In den vergangenen Jahren lebten in der Friedeck nur Männer. Aber dann flohen diesen Frühling plötzlich sehr viele Frauen, Kinder und Ehepaare vor dem Angriffskrieg in der Ukraine in die Schweiz. Und das kleine Bucher Durchgangszentrum hat innert kürzester Zeit den Betrieb umgestellt. Als ich zuletzt im April hier war, wirkte alles sehr improvisiert. Wie war dieser Krisenmodus für Sie?
So funktioniert einfach unsere Arbeit. Wenn irgendwo in der Welt Kriege ausbrechen, betrifft das unseren Betrieb immer. Dass aber innert so kurzer Zeit so viele Leute ankommen wie zu Beginn des Ukrainekriegs, war einfach der Situation geschuldet. Wie alle anderen mussten wir uns kurzfristig Gedanken machen, wie wir die bestehende Struktur umnutzen können. Denn die Anzahl Zimmer und Personen, die wir aufnehmen können, ist gegeben. Zum Beispiel haben wir den Musik- und Atelierraum zu einem Spielzimmer mit gespendeten Spielsachen umfunktioniert.
Gab es einen Moment, an dem Sie an Ihre Grenzen stiessen?
Eigentlich nicht. Sicher bedeutete diese Zeit wenig Schlaf und viel Arbeit. Aber das Miteinander hat wunderbar funktioniert. Und wie ich eingangs gesagt habe: Jemand, bei dem der Alltag getaktet laufen soll, ist hier nicht am richtigen Ort.
Wie behalten Sie in alldem die Ruhe?
Es ist doch generell eine Kunst, abschalten zu können, wenn man viel arbeitet. Da kranken wir heutzutage alle am gleichen Ort: zu wenig Leute, zu viel Arbeit. Aber ich habe viel Vertrauen in mein Team. Dann kann ich zuhause tun, was mir guttut. Ich habe zwei Hunde und gehe jeden Abend nach der Arbeit mit ihnen in den Wald. Ich verbringe Zeit mit meinen zwei erwachsenen Söhnen. Und ich mache immer noch meine Kunst.
Kunst?
Ja, ich komme eigentlich ursprünglich nicht aus dem Asylwesen. Ich habe schon als junge Frau in Zürich Porträtmalerei gemacht.
Wie wird man als Künstlerin Leiterin eines Asylzentrums?
Mich hat immer schon die ganze Welt interessiert. Ich bin in den 1970ern und 1980ern in Zürich aufgewachsen. Das war schon damals eine Hochburg von Migrantinnen und Migranten, zuerst aus Italien, dann aus Ex-Jugoslavien, später aus ganz Afrika. Ich habe «Zürich brennt» miterlebt, die Unruhen um das Autonome Jugendzentrum. Und als ich mit dem Malen angefangen habe, war Zürich schon sehr bunt und durchmischt, und ich habe Leute von überall her und aus allen Altersgruppen porträtiert. Eigentlich passt das doch: In der Porträtmalerei wie im Durchgangszentrum Friedeck steht der Mensch im Mittelpunkt. Und jeder Mensch ist ein Individuum mit seinen ganz eigenen Hintergründen.
Das spiegelt sich in der Art und Weise, wie über Geflüchtete gesprochen wird, selten. Meistens wird von «Wellen» gesprochen, von «Massen» oder gar «Fluten». Da geht es kaum um den Einzelnen.
Gegenüber den Menschen, die so reden, haben wir den Vorteil, dass wir die Asylsuchenden vor uns haben. Wir haben mit ihnen und ihren Bedürfnissen zu tun. Es ist doch immer so: Ist man zu weit weg von einem Thema, sieht man – um ein Beispiel zu nennen – nur den Wald. Gehe ich aber in den Wald hinein, sehe ich Tannen, Buchen, Eschen, den Boden. Diese Nähe macht den Unterschied, und die kann man zulassen oder nicht. Oft ist bei einem Menschen ja auch die Frage, wie sehr er sich dafür interessiert. Ist es die Not, die ihn nicht hinschauen lässt, weil er selber in Bedrängnis ist? Oder ist es die Angst, dass er «etwas verliert»? Es gibt verschiedene Ansätze, wie man dem Thema Flucht begegnen kann. Wir haben hier in der Friedeck das Privileg, den Leuten direkt zu begegnen.
Als Leiterin haben Sie äusserst unterschiedliche Aufgaben. Als was sehen Sie sich: Betreuerin, Verwalterin, Gastgeberin?
Als Gastgeberin ein Stück weit sicher, aber die Leute kommen ja in die Friedeck, weil sie uns zugeteilt werden. Ich sehe mich auch als Netzwerkerin, da wir mit den anderen Bereichen, der Sozialberatung und dem begleiteten Wohnen, mit Schulen und Beschäftigungsprogrammen in Schaffhausen in engem Kontakt sind. Unser Auftrag und Schwerpunkt liegt aber definitiv in der Betreuung.
Was ist anders an der Betreuung von einzelnen Männern, wie die Friedeck sie bis anhin beherbergte, und von Familien?
Der Fokus liegt nur vordergründig anders. Beispielsweise sagen wir jungen Männern öfter, dass sie sich gut anziehen sollen, weil es draussen kalt ist. Oder dass sie nicht im Haus rauchen sollen, weil sonst die Rauchmelder losgehen und wir alle evakuieren müssten. Eltern nehmen wir öfter für ihre Kinder in die Pflicht, etwa wenn die Kinder die Treppen runterrennen oder sich Dinge in die Nase stecken. Die Einschulungsthematik stellt sich da natürlich auch. Eigentlich geht es aber immer um dasselbe: Bedürfnisse abholen, das alte Haus, das wir haben, wohnbar machen. Und offen bleiben. Das macht qualitativ gute Arbeit aus.
Trotzdem war und ist doch die Fluchtbewegung aus der Ukraine in vielerlei Hinsicht besonders. Zum Beispiel durften sich die geflüchteten Menschen von Anfang an frei in der Schweiz bewegen.
Diese Unabsehbarkeit ist nicht neu. Die ist im Asylbereich immer gegeben.
Und die grosse Solidaritätsbewegung? All die Freiwilligen, die sich als Gastfamilien gemeldet haben?
Auch das gab es vorher schon. Der Ansturm war einfach sehr gross. Bei uns galt aber immer dasselbe: Wer hier ist, erhält die gleiche Aufmerksamkeit und Qualität wie alle anderen auch.
Vielleicht behandeln Sie und Ihr Team die Geflüchteten gleich. Aber mit dem Schutzstatus S hatten die Ukrainerinnen und Ukrainer mehr Rechte als andere Asylsuchende. In Bezug auf Arbeit oder Familiennachzug etwa.
Ich sehe, worauf Sie hinauswollen. Mit dieser Situation bin ich auch konfrontiert. Aber ich muss mir sagen: Diese Schwierigkeit habe ich nicht in der Hand. In der Hand habe ich, wie ich in diesem System arbeite. Und ich mache diesen Unterschied zwischen den Menschen nicht, egal, welchen Aufenthaltstitel sie haben. Wir diskutieren diese Themen nicht mit den Leuten, die hier leben. Dafür gibt es zum Beispiel Rechtsberatungsstellen, und wir sagen ihnen, wie sie diese Angebote ausschöpfen können. Gesellschaftspolitisch ist die Diskussion aber wichtig.
Ab dem 1. Januar 2023 sollen nun dieselben Regeln gelten wie für alle Asylsuchenden. Das bedeutet beispielsweise, dass ukrainische Geflüchtete nun ihr Auto abgeben müssen, wenn sie weiterhin Sozialhilfe erhalten möchten. Was halten Sie davon?
Es wird sich erst zeigen, wie die Menschen damit umgehen. Ich weiss nicht, was da auf uns zukommt. Es war von Anfang an klar, dass es sich beim Schutzstatus S um eine Antwort auf eine Krisensituation handelte und die Situation nicht immer so bleiben wird.
Gelingt Ihnen diese Abgrenzung vom politischen Kontext?
Es muss. Andernfalls kann ich meine Arbeit nicht gut machen. Auf der Welt passieren ganz grauenhafte Dinge, und wir müssen achtgeben, wenn diese Dinge ungefiltert über die Medien auf uns niederprasseln. Meine Strategie ist es, mich darauf zu konzentrieren, was im Hier und Jetzt passiert und was ich hier bewirken kann.
Und die Leute in der Friedeck? Die kommen doch sicher mit ihren Fragen und Problemen auf Sie zu.
Nein. Und wenn, dann zeigen wir ihnen die zuständigen Stellen, an die sie sich wenden können. Alles andere würde den Rahmen sprengen. Übrigens sprechen hier aber die wenigsten von ihren Geschichten; sie haben ihre Tagesstruktur, und darin können wir sie unterstützen und ihnen Sicherheit und Ruhe geben.
Seit diesem Herbst kommen wieder mehr Asylsuchende aus dem Nahen und Mittleren Osten, vor allem aus Afghanistan und der Türkei, in Richtung Europa. Die Friedeck hat den Betrieb auch wieder umgestellt.
Ja, im Moment sind wir wieder ein Haus für einzelne Männer. Die ukrainischen Familien und Frauen sind jetzt anderswo untergebracht. Das geht aus Sicherheitsgründen nicht anders: Wir können so, wie das Haus gebaut ist, keinen separaten Frauen- und Familientrakt anbieten. Dafür gibt es besser geeignete Strukturen.
Alles wieder beim Alten, also?
Das kann man so nicht sagen. Im Menschsein gibt es nie eine Routine, und Migration gehört zum Menschsein dazu. Wir sind keine feste Grösse wie in einem Buch, bei dem ich sagen kann, was auf Seite 150 steht.
Was wünschen Sie sich für die kommende Zeit?
(denkt nach) Dass wir der Welt Sorge tragen. Ich hoffe, dass die Leute aufwachen. Dass wir daran denken, dass alle einen Platz haben sollten auf der Welt – ob das nun da ist, wo wir unsere Wurzeln haben, oder ganz woanders.
Und für die Friedeck?
Dass wir als Team weiter dranbleiben und offen bleiben für die Möglichkeiten und Veränderungen, die diese Arbeit mit sich bringt. Und, was sicher schön wäre: dass wir wieder alle aufnehmen könnten in der Erstunterbringung.