Der abgewählte Altregierungsrat Christian Amsler ist wieder da: mit «einem Buch über die Bildung». Ein Gespräch über Vergangenheitsbewältigung.
Lange hat Christian Amsler nach seinem unfreiwilligen Abgang aus der Schaffhauser Regierung geschwiegen. Zur Erinnerung: Das Volk hatte ihn 2020 abgewählt. Der Erziehungsdirektor hatte im Skandal um die kriminellen Machenschaften an der Schulzahnklinik (– Kinder wurden unnötig geröntgt, systematische Abwerbungen und Tricksereien mit der Arbeitszeit fanden statt –) totalversagt. Es war nicht die einzige Affäre, die seinem Image geschadet hatte.
Christian Amsler zeigte sich nach seiner Abwahl tief gekränkt. Interviewanfragen lehnte er ab: «Fakt ist, dass mich die Schaffhauserinnen und Schaffhauser für mich schmerzlich aus meinem mir lieben Regierungsratsamt abberufen haben und nun auch nicht zu wissen brauchen, was ich aktuell und neu beruflich mache. Ich bin keine öffentliche Person mehr», zitierten ihn die Schaffhauser Nachrichten im August 2021.
Heute sieht es anders aus. Christian Amsler hat in seinem neuen Job als Schulleiter in Seuzach Fuss gefasst und in der Zwischenzeit «ein Buch über die Bildung» geschrieben. So der Name des Werks, das in verschiedenen Kapiteln Erfahrungen und sehr allgemein gehaltene Betrachtungen von Christian Amsler vereint. Und Amsler ist bereit, darüber zu reden.
So klingeln wir eines frühen Morgens an seiner Tür in Stetten auf dem Reiat. Hinter der nebelumschlungenen Alpenkette am Horizont geht gerade die Sonne auf. Amsler kennt alle Berge mit Namen und scheint überhaupt sehr bereit fürs Leben, wie er vor uns steht: im Anzug, gerüstet, um später zur Arbeit ins Zürcher Weinland zu fahren. Er ist Frühaufsteher, Tagwacht morgens um fünf vor halb sechs. Noch nie im Leben habe er einen Wecker gebraucht, sagt er und setzt sich im Wohnzimmer auf das Sofa, vor ihm liegt «ein Buch über die Bildung». Im Hintergrund läuft leiser Jazz.
AZ Christian Amsler, wieso haben Sie dieses Buch geschrieben?
Christian Amsler Das ist ein Projekt, das ich schon lange plante. Im Verlauf meiner vielen Jahre im Bildungsbereich trug ich Skizzen, Ideen und Texte zusammen und wollte all das einmal für mich festhalten. Nach meinem Ausscheiden aus der Regierung Ende 2020 gönnte ich mir ein halbes Jahr Sabbatical, bevor ich meine neue Stelle als Schulleiter in Seuzach antrat. Ich wusste genau: Das ist der Zeitpunkt um dieses Buch zu schreiben.
Ein ziemlich straffes Programm!
Sehr, ja. Es war streng, aber ich habe das immer begleitet durch körperliche Tätigkeit. Ich ging viel raus mit dem Hund; habe einige Achtstünder gemacht. Das Schreiben und die Aktivität draussen in der Natur waren eine gute Kombination – auch um Distanz zu meinem Vorleben zu schaffen.
Die Abwahl 2020 war ein schmerzhafter Einschnitt für Sie.
Absolut, ja.
Das Buch war schon auch eine Strategie zur persönlichen Verarbeitung?
So kann man das sagen.
Was Sie zu Papier gebracht haben, sind ein Stück weit Ihre beruflichen Memoiren.
Es ist ein persönliches Buch mit Reminiszenzen aus meinem Leben. Aber es ist keine Biographie. Der Titel «Ein Buch über die Bildung» schwebte mir schon ganz früh vor. Der Verlag hat zuerst etwas dagegen gehalten, aber dann mehr und mehr Gefallen daran gefunden.
Sie philosophieren über unterschiedlichste Themen, wie etwa über den Wert des Vorlesens, geben aber auch Kommunikationstipps für Schulleitungen ab. An wen wendet sich «ein Buch über die Bildung: Warum Schulen ein Fenster zur Welt öffnen sollten»?
Diese Frage habe ich mir ganz zu Anfang gestellt und mir gesagt, dass es für alle etwas bieten kann, die sich für das Thema Schule interessieren. Aber es ist klar, dass vor allem Schulleiterinnen, Lehrer, Eltern und Bildungsbehörden das Zielpublikum sind, genauso wie Studierende der Pädagogischen Hochschulen.
Das ist ein grosser Allgemeinheitsanspruch. Als Autorin oder als Autor ringt man ja oft mit Selbstzweifeln und hinterfragt, ob man einer Sache gerecht wird. – Ging Ihnen das beim Schreiben auch so?
Überhaupt nicht. Ich habe ja so viel erlebt rund um das Thema Bildung und das in den verschiedensten Rollen: als Lehrer, Schulleiter, Schulpolitiker, als Vater dreier Kinder und heute als Grossvater meiner beiden Enkel. Ich habe mich nie im Entferntesten gefragt, ob das Geschriebene auch genügt, sondern frei von der Leber weg geschrieben. Das Buch ist ein Diskussionsbeitrag, ein Denkanstoss.
Dabei vertreten Sie keine besonderen Positionen. Es ergibt sich ein sehr eingemittetes Gesamtbild.
Ich wollte das Thema Schule überhaupt nicht verpolitisieren. Ich schildere ein liberales und hoffnungsvolles Bild: Schule darf sich nicht ins Reduit zurückziehen. Das ist vielleicht der rote Faden des Buchs: Schule soll kreativ und bunt sein und sich nach vorne bewegen.
An der Basis des Schulbetriebs waren Sie aber lange nicht mehr. Hatten Sie keine Berührungsängste?
Nein, überhaupt nicht. Ich glaube, ich war in meinen 11 Jahren als Bildungsdirektor alles andere als weit weg von der Basis. Übrigens schätze ich es jetzt wieder enorm, als Schulleiter zurück im Schulalltag zu sein: Es ist wie ein Kreis, der sich schliesst – aber wir kommen später vielleicht noch auf meine jetzige Tätigkeit zu sprechen. Jedenfalls: ich glaube nicht, dass ich ein entfernter, abgehobener Bildungsdirektor war. Das hat man mir auch attestiert.
Die Lehrerinnen und Lehrer waren mit Ihnen aber oft alles andere als einverstanden.
Natürlich. Man trägt einen Hut und muss in seiner Funktion eine klare Linie haben.
Gerade wegen der Sparübungen, die Sie im Auftrag des Gesamtregierungsrats durchexerzierten und die Auswirkungen auf das ganze Schulsystem hatten, standen Sie in der Kritik.
Ich hätte es auch gerne anders gehabt. Aber, das gilt auch heute noch: Die Lohnforderungen der Lehrpersonen kann man nicht einfach isoliert anschauen, die Polizei und die Pflege hängen im gleichen Lohnsystem. Aber da sind wir jetzt mitten in der Bildungspolitik.
Der sich schon lange anbahnende Lehrpersonenmangel ist heute das grosse Thema im Bereich Schule. Das kommt in Ihrem Buch erstaunlicherweise kaum vor. Wieso nicht?
Das ist auch tatsächlich eine Herausforderung und im Kapitel über die Lehrpersonen kommt das Thema bei mir schon vor. Aber es gibt so viele bildungspolitische Fragen, zu denen ich Antworten geben könnte.
Sie hatten eine sehr bewegte Karriere als Regierungsrat. Vieles daraus scheint in Ihrem Buch bewusst beiseite gelassen.
Persönliche Geschichten kommen zwar vor. Aber es ist nicht ein Buch über mich, sondern ein Buch mit mir. Und es ist ein Buch für alle. Warum sollte ich also über die Causa Schulzahnklinik schreiben? Das interessiert jemanden in Bern beispielsweise nicht.
Sie geben auch Tipps zur Kommunikation: Bei der Krisenkommunikation gehen Sie auf Beispiele aus Ihrer Zeit als Gemeindepräsident und als Bataillonskommandant ein. Die Krise rund um die Schulzahnklinik nennen Sie nicht. Dort gelang die Kommunikation nicht besonders gut.
Das wäre ein weiteres mögliches Beispiel für Krisenkommunikation gewesen, aber das habe ich nun halt nicht gewählt. Ich wollte kurze Beispiele nennen.
Worauf Sie stark eingehen: Der Lehrplan 21, dessen geistiger Vater Sie sind. Sie widerlegen falsche Behauptungen von Kritikern damals, drucken Schriftverkehr ab. Wieso nimmt das so viel Platz ein?
Weil ich wahnsinnig wichtig fand, dass der Lehrplan 21 als das grösste Schulprojekt der Schweiz vorkommt und dass man auch der Kritik Platz gibt. Ich habe immer versucht, auf Kritik zu reagieren, auch wenn mir das, wie angesprochen, nicht immer gut gelang in Schaffhausen. Aber rund um den Lehrplan gelang es sehr gut. Da habe ich ganz viele kritische konservative Stimmen an einen runden Tisch geholt. Dieser Debatte wollte ich in meinem Buch Raum geben, weil ich als Präsident an vorderster Front stand. Ich wollte nicht ein Loblied auf den Lehrplan 21 schreiben, sondern bewusst darstellen, dass es nicht einfach und mit viel Ringen verbunden war.
Der Lehrplan 21 ist eine Erfolgsgeschichte innerhalb Ihrer Karriere.
Ja, ich habe enorme Freude daran, dass das möglich war.
Gibt es Dinge in Ihrer Regierungsratszeit, die Sie anders gemacht hätten?
Natürlich kann man im Nachhinein immer sagen, vielleicht hätte ich dies anders machen oder jene Kommission früher einsetzen müssen. Aber das ist müssig: Was wollen wir retroperspektiv am Rad drehen und korrigieren? Es ist im Leben, wie es ist.
Dann gibt es keine Dinge, von denen Sie sagen: Die waren ein Fehler.
Die gibt es sicher. Aber darüber möchte ich nicht reden. Ich will in den gewesenen Zeiten nicht ins Detail gehen.
Haben Sie einen geschönten Blick auf Ihre berufliche Karriere?
Ich glaube, ich bin ein sehr selbstkritischer Mensch. Aber manchmal muss man zum eigenen Schutz schwierige Momente etwas ausblenden. Man muss sich den negativen Erfahrungen zwar stellen, aber das Positive im Vordergrund halten, damit es einem gut geht und man gesund bleibt.
War das eine Einsicht der letzten Jahre?
Auch. Die Abwahl aus der Regierung war für mich tatsächlich ein ganz schwieriger Moment. Das ging mir brutal an Herz und Nieren. Es war für mich ein Schlag, mit dem ich wahnsinnig haderte: Ich empfand das Politsystem als ungerecht und fragte, warum das gerade mir passieren muss. Ich brauchte Zeit, meine Wunden zu lecken. Das ist bei Menschen nicht anders als bei verletzten Tieren. Durch meine Familie, meine Freunde und meine neue Tätigkeit bin ich so weit, dass ich das nun zur Seite legen und sagen kann: Es war so viel Gutes in diesen elf Jahren Regierungszeit drin, auch wenn es nun einen schwierigen Ausklang hatte. Und es ist völlig klar: Das Volk bestimmt.
Es scheint, dass Sie die Abwahl relativ gut verdaut haben.
Absolut. Natürlich kommt es manchmal noch hoch und ich musste relativ konsequent einen Bruch mit meinem damaligen politischen Umfeld setzen. Ich konnte ja nicht weiterhin die Debatten auf der Tribüne des Kantonsrats verfolgen oder regelmässig die Nähe meiner Regierungsgspänli suchen.
Damit geht auch ein Bedeutungsverlust einher. Wie gehen Sie damit um?
Damit habe ich null Probleme. Ich habe eine ganz klare Ansicht: Jeder ist ersetzbar. Was ich das Schlimmste finde, sind die Politiker, die sich nach ihrem Abgang überall noch einmischen, ihren Nachfolgerinnen reinschwätzen und dauernd Kolumnen und Leserbriefe schreiben.
Wir dürfen also nicht mit Leserbriefen von Ihnen rechnen?
Das wird es nie geben. Ich werde mich nicht mehr politisch einmischen.
Dabei hatten Sie ja hohe politische Ambitionen als Ständerats- und Bundesratskandidat. Haben Sie diese abgelegt?
Das musste ich gezwungenermassen, man kann nicht in der Vergangenheit verhaftet bleiben. Ich halte es ganz mit meinem Lebensmotto, das in meinem Buch zu finden ist und auch hier drüben an der Wand hängt: «Tu, was du kannst, mit dem, was du hast, dort, wo du bist» – ein Zitat des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt.
Nun schliesst sich also der Kreis, Sie sind zurück an der Basis Schule. Haben Sie die Seite gewechselt? Verstehen Sie die Anliegen der Lehrpersonen heute besser?
Also, dass ich jetzt plötzlich Lehrerinnen- und Lehrerversteher geworden bin? Das war ich schon zuvor. Aber eins steht fest: Alles, was ich gelernt und gemacht habe im Leben, auch in den politischen Ämtern, ist nun wie ein Geschenk und ein Werkzeugkasten zur Anwendung in der Funktion als Schulleiter. Gerade an einer grossen Schule wie Seuzach, wo ich die Primarschulen mit Kindergärten an sieben Standorten leite, mit über 600 Schulkindern und insgesamt 29 Klassen und etwa 120 Mitarbeitenden.
Wie der Kommandant eines ganzen Bataillons.
Nein, nein, ich bin ja kein Militärkopf, überhaupt nicht. Aber ich würde sagen, ich bin ein sehr väterlicher Schulleiter. Ich werde nächstes Jahr 60 und ich merke, wie ich das wirklich gerne mache: Unterrichtsbesuche und Kinder begleiten, die irgendwo wegen eines Konflikts vom Karren fallen. Genauso wie Gespräche mit Eltern und Lehrpersonen.
Zuvor haben Sie einen Kanton geführt, heute eine Schule. Wie fühlt sich der Unterschied dieser Grössendimensionen für Sie an?
Es ist einfach anders. Aber so wahnsinnig anders dann doch nicht.
Welche Front ist härter, die schulische oder die politische?
Ganz klar die politische, die wird einfach immer zugespitzter und das bedauere ich als Mann des Ausgleichs sehr. Ich leide auch mit ehemaligen Kollegen und Kolleginnen unserer Regierung mit, die wie ich damals persönlich angeschossen werden. Es hat sich in den letzten Jahren verschärft, dass man in einem Exekutivamt so exponiert ist. Dieses Bashing in der Politik verstehe ich nicht und ich bin froh, dem nicht mehr ausgesetzt zu sein.
Stehen Sie an der Schule weniger unter Druck als zuvor?
Das schon. Aber natürlich schauen alle auf den Schulleiter: Ich bin der Vorgesetzte der Lehrerinnen und Lehrer, bin viel näher an den Menschen als zuvor. Ich habe mir nach der Abwahl aus der Regierung Zeit genommen und mir überlegt, was ich beruflich noch machen möchte. Ein Thema war auch selbstständige Beratung im Bereich Schule und Gemeinden. Dann sagte ich mir aber, nein: Ich möchte noch mal eins zu eins zurück an die Schule.
Man hat den Eindruck, Sie seien auf diesem Schulleitungsposten extrem gut aufgehoben. Denken Sie, das wäre Ihre wahre Bestimmung gewesen und nicht die Politik?
Ich würde nie und nimmer sagen, die 11 Jahre im Bildungsdepartement seien verlorene Zeit gewesen. Im Gegenteil: Ich war Homo Politicus durch und durch, auch wenn es eine Phase war, die brutal aufhörte.
Die Lehrpersonen und andere schulische Fachkräfte fehlen uns im Kanton, nun sind Sie selbst nach Zürich abgewandert. War das für Sie ein Moment des Zögerns, Schaffhausen beruflich zu verlassen?
Ich hätte auch hier in Schaffhausen Schulleiter werden können, aber das wäre nicht gut gewesen. Es wäre komisch, wenn ich als ehemaliger oberster Bildungschef plötzlich im Schulhaus Rosenberg in Neuhausen oder in Thayngen als Schulleiter wieder einmarschiert wäre. Ich wollte nach dem Gewesenen geografische Distanz schaffen, das Zürcher Weinland ist daher perfekt.
Schaffhausen den Rücken gewandt haben Sie nicht?
Nein, überhaupt nicht, ich hege null Groll. Ich bin durch und durch Schaffhauser und Rhybueb. Ich werde auch nicht, wenn ich kurz vor dem Tod stehe, noch mit Memoiren aufwarten, in denen ich Wahrheiten über die lokalpolitischen Affären auspacke, die mich betrafen (lacht).
Aber sind weitere Bücher von Ihnen zu erwarten?
Das weiss ich noch nicht, aber wenn, dann solche über Bildung (lacht). Und einen Krimi bin ich auch noch am Schreiben.
Wirklich?
Ja, ja. Ich lese sehr viel: Geschichtliches, aber auch gern gute Thriller. Aber da brauche ich noch mehr Zeit, das mache ich dann irgendwann, wenn ich pensioniert bin.
Literarische Ambitionen sind vorhanden.
Sprache war schon immer meine Passion. Auch im jetzigen Job: Es gefällt mir, die vielen Texte und auch Wocheninfos an alle Lehrpersonen zu schreiben.
Und, sind die Bedingungen in Zürich für Lehrpersonen besser als in Schaffhausen?
Da muss ich mit Blick auf Schaffhausen durchaus selbstkritisch sagen: Die Zürcher Schulen sind top ausstaffiert. Schulische Sozialarbeit, Heilpädagoginnen, Klassenassistenzen, Schulleitungen – das macht schon Freude.
Was ich auch noch erwähnen wollte und mir auch grosse Freude macht: dass ich mein Buch auch ein bisschen als Vater-Sohn-Projekt realisieren konnte, denn mein Sohn Florian machte die Grafik für mein Buch.
«Ein Buch über die Bildung: Warum Schulen ein Fenster zur Welt öffnen sollten», hep Verlag, Herbst 2022