Zeitenwende

19. November 2022, Marlon Rusch
Die frisch gebackene städtische Nationalratskandidatin Linda De Ventura nimmt erste Gratulationen entgegen. Foto: Robin Kohler

An einer Versammlung entschied die städtische SP, wen sie in den Wahlkampf für Bundesbern schicken will. Es war das spannendste Drama der Theatersaison – ­ein Fünfakter um die Macht in der Partei.

Für das packendste Politdrama der Schaffhauser Theater­saison 2022/23 gab es keinen Ticketverkauf. Am Mittwochabend vor einer Woche versammelten sich rund 80 Genossinnen und Genossen der städtischen SP in der Kammgarn-Halle zur Parteiversammlung. Die Affiche war auf den ersten Blick nicht unbedingt ein Publikumsmagnet. Es sollte um die Frage gehen, wen die Stadtsektion zuhanden der Kantonalpartei für den nationalen Wahlkampf in einem Jahr nominieren soll. Das letzte Wort hat dann im kommenden März die SP des Kantons.

Eigentlich aber ging es bei diesem vermeintlichen Vorgeplänkel am Mittwochabend bereits ums grosse Ganze. Am Ende des Abends sollte praktisch feststehen, wer auf Nationalrätin Martina Munz folgt. Und auch eine Zäsur sollte gesetzt sein.

Prolog

Auf der Bühne dieses Politdramas stehen die Schaffhauser Nationalratssitze. Der eine ist derzeit von SVP-Mann Thomas Hurter besetzt, der voraussichtlich wiedergewählt wird und weitermachen dürfte. Auf dem anderen sitzt derzeit SP-Nationalrätin Martina Munz. Und bei ihr sieht die Situation anders aus. Munz hat angekündigt, bei den nächsten Wahlen zwar noch einmal anzutreten, jedoch im Laufe der kommenden Legislatur zurückzutreten. Falls sie also wiedergewählt wird, und davon kann man wohl ausgehen, rutscht bald diejenige Person in den Nationalrat nach, welche die SP des Kantons neben Munz auf einem Zweierticket für die Wahlen nominiert.

Und es gibt drei Gründe, die dafür sprechen, dass diese Person aus der Stadt kommen wird: Erstens ist die Stadtsektion die grösste und mächtigste SP-Sektion. Zweitens kandidiert mit der Hallauerin Martina Munz bereits eine Kandidatin vom Land. Und drittens dürfte aus den ländlichen Gebieten sonst niemand mit ernsthaften Ambitionen für eine Kandidatur bereitstehen.

Das Rennen um Munz’ Nachfolge dürfte also an diesem Mittwochabend in der Kammgarn ausgemacht werden.

(Die AZ hat sich bereits im Frühling intensiv mit den SP-Planspielen auseinandergesetzt)

1. Akt: Aufwärmen – Tanners Kapriolen

Wie jedes anständige Drama beginnt auch dieses hier gemächlich – mit der Diskussion um die Schaffhauser Ständeratssitze. Bei der kleinen Kammer ist derzeit damit zu rechnen, dass die beiden langjährigen Parlamentarier, Hannes Germann (SVP) und Thomas Minder (parteilos, SVP-Fraktion), nochmals zur Wahl antreten werden. Einen von ihnen zu schlagen, dürfte gerade für einen linken Kandidaten im bürgerlichen Kanton Schaffhausen schwierig werden.

Nichtsdestotrotz ist die Stimmung gut, als Stadträtin Christine Thommen am Mittwochabend in Abwesenheit der Parteileitung (Thomas Weber hat kürzlich Covid bekommen, Livia Munz einen Sohn namens Lorin) die Anwesenden zur Parteiversammlung begrüsst und ihnen erklärt, dass sich zwei Kandidaten für den Ständeratswahlkampf interessieren:
Einerseits ist da der ehemalige AL-Stadtrat Simon Stocker, der noch nicht lange wieder in Schaffhausen lebt und noch nicht lange bei der SP politisiert.

Andererseits der langjährige SP-Grossstadtrat und Fraktionschef Urs Tanner, der bereits in den vergangenen Nationalratswahlen hinter Martina Munz kandidiert hat. Tanner hat nie einen Hehl daraus gemacht: Er will nach Bundesbern, ganz egal ob in den National- oder den Ständerat.
Nun bekommen beide Kandidaten fünf Minuten Zeit, um auf der Bühne Werbung in eigener Sache zu machen. Und in ihren Auftritten sind die beiden äusserst authentisch.

Stocker, mittlerweile knapp über 40 Jahre alt und grau meliert, spricht locker, aber nicht frei von Pathos: Er stehe hier, denn er «kann nicht anders», sagt er in Referenz an Martin Luther. Stocker nimmt grosse Worte wie Optimismus und Pragmatismus in den Mund und sagt, er sei ein Politiker, der versuche, Politik konkret zu machen. Er platziert Kampfansagen an Germann und Minder und klingt trotzdem staatsmännisch. Ständerätisch, ist man geneigt zu sagen.

Dann kommt Urs Tanner auf die Bühne, Mitte 50, ein Mann wie ein Feuerwerk. In atemberaubenden Tempo springt er thematisch vom «Friendly Takeover» der SP durch die AL über den «Faschisten Putin» zur eigenen Grossmutter Elsbeth Tanner Wüscher. Und Tanner hat auch einen Stunt parat: Während alle dachten, er wolle vor allem für den Nationalrat kandidieren, um Martina Munz zu beerben, zieht er nun auf der Bühne seine Nationalratskandidatur zurück und votiert für ein rein weibliches SP-Nationalrats-Ticket. Er scheint verstanden zu haben: Die Partei wird nicht auch noch den vierten Schaffhauser Sitz in Bundesbern an einen Mann vergeben. Also, sagt Tanner, konzentriere er sich voll und ganz auf den Ständerat. Denn: «Natürlich will ich trotzdem nach Bern.»

Urs Tanner bei seiner Vorstellung. Foto: Robin Kohler

Dann aber, in der Fragerunde, reicht eine einzige Frage eines einzigen SP-Mitglieds, um Tanner aus dem Sattel zu heben. Er habe sich ja wirklich sehr verdient gemacht um die Partei, sagt Linda Nigg: «Aber du bringst es einfach nicht auf den Punkt. Am Ende deiner Ausführungen weiss ich nie, was du überhaupt sagen wolltest. Kannst du nochmals kurz zusammenfassen?» Tanner, ganz verdattert ob der entwaffnenden Kritik, redet sich nach einigen Sekunden Pause erneut in Fahrt – und verheddert sich erneut in seinen Kapriolen.

Nach einer Pause, in der die Partei berät und die Kandidaten und die Medien den Saal verlassen müssen, bittet Moderatorin Christine Thommen wieder hinein, um das Resultat der Abstimmung zu verkünden. Und dieses ist überdeutlich: Mit 69 zu 10 Stimmen wählt die Partei Simon Stocker zum städtischen Ständeratskandidaten. Urs Tanner, das altgediente SP-Schlachtross, verlässt sofort den Saal und sollte sich an diesem Abend nicht mehr blicken lassen.

Ein erstes Ausrufezeichen ist gesetzt, dabei hat der Abend gerade erst begonnen.

2. Akt: Steigerung – taktische Varianten

Nun steht das Traktandum auf dem Plan, weswegen alle hergekommen sind: die Nationalratswahl. Und nach dem Rückzug von Urs Tanner stehen noch drei Kandidierende bereit:

Simon Demont, seit kurzem im SP-Vorstand, ein noch unbeschriebenes Blatt, dessen Kandidatur wohl mit schwer nachvollziehbaren taktischen Gründen zu erklären ist, der für den weiteren Verlauf des Abends keine Rolle mehr spielen und am Ende bloss eine Stimme erhalten sollte.

Dann Patrick Portmann, Kantonsrat, 33, Co-Präsident der Kantonalpartei, Gewerkschafter, Haudegen.

Und schliesslich Linda De Ventura, 36, Kantonsrätin, lange Zeit eine der zentralen Figuren der AL, wie Stocker erst seit Kurzem SP-Mitglied.
Im Grunde ist es ein Duell: Portmann gegen De Ventura. Und beide haben eine taktisch gewiefte Entourage.

Die Ausgangslage ist klar. Hier, an der städtischen Parteiversammlung, hat Linda De Ventura die Nase vorne. Die Findungskommission, die mit den Kandidierenden auch Hearings durchgeführt und sie auf Herz und Nieren geprüft hat, hat sich einstimmig für De Ventura und gegen Patrick Portmann ausgesprochen. Sie hält die kluge, bedachte und seriöse Linda De Ventura für die fähigere Nationalrätin als den publikumswirksameren Patrick Portmann. Dass sie eine Frau ist, verschafft ihr einen weiteren grossen Vorteil. Isabelle Lüthi von der Gruppe SP Frauen sagt es an der Parteiversammlung so: «Wenn wir eine Frau in Bundesbern haben wollen, müssen wir zwei Frauen aufs Ticket setzen.» Es ist einfachste Arithmetik, und in der Summe lassen diese Argumente nur einen logischen Schluss zu: Die Stadtsektion muss heute Linda De Ventura nominieren.

Doch der ehemalige Nationalrat Hans-Jürg Fehr* hält grosse Stücke auf Portmann, den er für einen Strassenkämpfer, Volksredner und Gewerkschafter alter Prägung hält, der an der Urne gute Resultate erzielen kann. Und Fehr hat einen Trumpf im Ärmel. Er will die Wahl beeinflussen, indem er den Modus verändert.

Auftritt der Partei-Granden.

Der Reihe nach melden sich nun Matthias Freivogel, Gust Hafner und Hans-Jürg Fehr zu Wort. Im Gegensatz zum Parteivorstand und zur Findungskommission, die nur eine Kandidatin nominieren wollen, plädieren die alten Recken dafür, dass gleich mehrere Kandidierende zuhanden der Kantonalpartei nominiert werden. So würden die Karten völlig neu gemischt.

Müssten sich Linda De Ventura und Patrick Portmann statt vor der Stadtsektion vor der Kantonalpartei duellieren, wäre das Rennen wieder völlig offen. Portmann ist Co-Präsident der Kantonalpartei, er wird mit seiner nahbaren Art auch in den Dörfern geschätzt und man kennt die einzelnen Kandidierenden dort weniger gut. Der öffentliche Auftritt ist wichtiger als das Wirken hinter den Kulissen.

Die Parteigranden begründen ihren Vorschlag für die Zweiernomination aber natürlich anders: Sie argumentieren, die Stadtsektion müsse der Kantonalpartei eine Auswahl geben und könne diese nicht vor vollendete Tatsachen stellen. Die Kantonalpartei habe so schon «latente antistädtische Aversionen», man dürfe sie nicht weiter reizen, sagt Rädelsführer Hans-Jürg Fehr.

Nun stellt sich die Frage: Auf welche Seite schlägt sich die Parteiversammlung? Auf die Seite von De Ventura oder auf die Seite von Portmann? Auf die Seite des verjüngten, mit Leuten aus der AL ergänzten, neuen Vorstandes – oder auf die Seite der alten Führungsriege um den ehemaligen Nationalrat und Präsidenten der SP Schweiz, Hans-Jürg Fehr?

3. Akt – Höhepunkt: Fall der Granden

Es gab Zeiten, und die sind noch nicht lange her, da waren Machtworte von Hans-Jürg Fehr sakrosankt. An diesem Mittwochabend aber schifft die alte Garde mit ihren Anträgen ab. Florian Keller, ein ehemaliger AL-Mann, sagt kurz, aber bestimmt, hier werde gerade eine Scheindiskussion geführt. Die Stadtpartei sei als grösste Sektion durchaus legitimiert, demokratisch die zweite Kandidatinnen-Linie hinter Martina Munz zu besetzen. Und indem Stadtpräsident Peter Neukomm ebenfalls klarstellt, die zweite Linie gehöre der Stadt, macht er den Deckel drauf. Schliesslich entscheidet sich die Parteiversammlung mit 62 zu 16 Stimmen klar für den Vorschlag des Vorstandes: ein Einer-Ticket.

Der Moment markiert eine Zeitenwende innerhalb der SP, obwohl noch nicht einmal gewählt wurde. Der Generationenwechsel innerhalb der Partei scheint vollzogen, die ehemalige AL ist im Inneren der Partei angekommen. Sie ist bereit, auch Führungspositionen zu übernehmen. Und das wird breit akzeptiert.

4. Akt – Retardation: De Ventura wird gewählt

Die eigentliche Wahl verläuft dann unspektakulär. De Ventura präsentiert sich besser als Portmann, sie wirkt natürlicher und kann glaubhaft machen, warum sie geeignet ist für das Amt als Nationalrätin. Als SP-Mitglied Rosmarie Studer den Kandidaten Portmann fragt, wie er es eigentlich mit der Gleichstellung halte, findet dieser keine Antwort, welche die Anwesenden zu überzeugen vermag.

Nach einer internen Diskussion ohne die Medien, in der Hans-Jürg Fehr mit einem langen Votum seinen Schützling Patrick Portmann noch einmal konkret als Basisaktivisten und guten Wahlkämpfer anpreist, ist das Verdikt erneut glasklar: Mit 65 zu 12 Stimmen wählt die Versammlung Linda De Ventura zur Nationalratskandidatin der Stadt. Sie dürfte an der Parteiversammlung des Kantons bestätigt werden – und nach der Wiederwahl und dem Rücktritt von Martina Munz die nächste Schaffhauser Nationalrätin sein.

Simon Demont gratuliert Simon Stocker (Mitte) zur Wahl. Links daneben: Patrick Portmann.

5. Akt – keine Katastrophe: ein letztes Böller

In einem antiken Drama fällt an dieser Stelle alles in sich zusammen. Bei der SP scheint es das nicht zu tun.

Am Morgen nach der Parteiversammlung erreichte zwar eine rätselhafte E-Mail die Medien. Betreff: «Zukunft Urs Tanner». Darin schrieb Tanner, er werde am 12. Januar 2023 bekanntgeben, was er «in Bezug auf die nationalen Wahlen» zu tun gedenke. Er will seine Niederlage offenbar noch nicht akzeptieren. Eigentlich kann das nur bedeuten, dass er bei der Kantonalpartei als wilder Kandidat vorsprechen und so doch noch irgendwie nominiert werden will. Doch wieso dann der 12. Januar, wenige Tage nachdem die offizielle Meldefrist für Kandidatinnen beim Kanton abgelaufen ist?

Vielleicht verpufft ja auch dieser Tanner’sche Böller schneller, als man denken könnte.

* Hans-Jürg Fehr ist auch Verwaltungspräsident der AZ Verlags AG, welche die Schaffhauser AZ herausgibt.