Erstmals gibt eine Forschungsarbeit Einblick in das brutale System der
fürsorgerischen Zwangsmassnahmen bis 1981 in Schaffhausen.
«Fürsorgerische Zwangsmassnahme» – schon der Begriff ist in seiner inneren Widersprüchlichkeit entlarvend.
In der Schweiz wurden noch bis 1981 Menschen ohne Gerichtsurteile von den Behörden aus ihrem Alltag und ihren Familien gerissen. Sie wurden in Pflegefamilien oder als Arbeitskräfte auf Bauernhöfe gebracht, in Heime gesteckt oder in Anstalten eingesperrt, zur Adoption gezwungen oder zwangssterilisiert. Dies alles geschah im Namen der Fürsorge.
Armut war ein grosser Treiber dieses Systems. Jedoch sollte damit auch die Gesellschaft diszipliniert werden. Der Historiker Jakob Tanner fasste das Phänomen folgendermassen zusammen: «Die bürgerliche Sittlichkeit setzte einen Homogenisierungsdruck frei, mit dem deviante Subjekte (im Jargon der Zeit: Trunk- und Genusssüchtige, Bettler, Schnapser, Liederliche, Vaganten, Müssiggänger, Arbeitsscheue, Taugenichtse, Störefriede, Haltlose etc.) ausgegrenzt wurden.» Es konnte aber auch Menschen treffen, die bloss einen anderen Lebensentwurf hatten.
Seit einigen Jahren wird das Thema in der Schweiz wissenschaftlich erforscht. Und dank Filmen wie «Der Verdingbub» kommt es nach und nach auch in den Köpfen der Menschen an. Doch wie sah die Situation in Schaffhausen aus? Im Auftrag des Regierungsrats bin ich dieser Frage als Historiker nachgegangen.
Der Untersuchungsbericht, der am vergangenen Wochenende der Öffentlichkeit präsentiert wurde, zeigt nun erstmals in groben Zügen auf, welchen Umgang der Kanton Schaffhausen noch bis vor 40 Jahren mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen pflegte.
Der Bericht fokussiert auf die Geschichten von 59 Menschen, die als Minderjährige fremdplatziert wurden. Und auf das System, dem sie ausgeliefert waren.
Fest in der Gesellschaft verankert
Das System der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen war komplex. Die Massnahmen wurden nicht von einer einzelnen Behörde angeordnet und umgesetzt, oft war ein Zusammenspiel verschiedener Akteure verantwortlich. Diese reichten von den Vormundschafts- und Fürsorgebehörden, die es in allen Gemeinden gab, über die Jugendanwaltschaft, verschiedene Gerichte und private Vereine bis hin zu Lehrerinnen und Pfarrern. Dieses Zusammenspiel, so zeigt es der vorliegende Forschungsbericht auf, war sehr variabel. In der Regel standen die Betroffenen einem eingespielten Apparat gegenüber, gegen den sie sich kaum zur Wehr setzen konnten.
Dasselbe galt für die rechtlichen Grundlagen, die die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen legitimierten. Den Behörden standen verschiedene Gesetzesartikel zur Verfügung, um Kinder und Jugendliche fremdzuplatzieren – vom eidgenössischen Zivilgesetzbuch über das Schaffhauser Schulgesetz bis zur Trinkerfürsorgeverordnung. Einsprachemöglichkeiten waren sehr beschränkt oder in der Praxis schwer umsetzbar.
Besonders wichtig waren die Kinderschutzartikel des 1911 eingeführten Zivilgesetzbuches. Über die schwammigen Begriffe wie der «Überforderung» der Eltern oder der «Gefährdung» der Kinder konnten die Behörden Kinder auch prophylaktisch und ohne zeitliche Begrenzung in eine Anstalt einweisen. Für die Eltern war es praktisch umöglich, zu beweisen, dass ihr Kind nicht «gefährdet» sei.
Die Mutter im Visier
Die Analyse der 59 Schaffhauser Fälle zeigt, dass der eigentliche Hauptgrund für Kindswegnahmen eine uneheliche Geburt oder die Scheidung der Eltern war. Gerade die Mutter, ihr Sexualleben und ihre Haushaltsführung standen lange Zeit im Fokus der Behörden. War ein Kind erst einmal bevormundet, besuchte der Vormund die Familie gern ohne Ankündigung zu Hause und kontrollierte die Hygiene. Ein Behördenvertreter notierte nach einem solchen Besuch etwa: «Die Mutter ist selbst noch ein unerzogener, unreifer und moralisch nicht gefestigter Mensch. […] Offenbar versteht sie von der Haushaltsführung nicht viel. […] Die Ordnung im Estrichabteil, wie sie von Beamten der Waisenbehörde am 2. November 1962 festgestellt werden konnte, spottet jeder Beschreibung.»
In einer fremden Familie
Wurde ein Kind dann tatsächlich fremdplatziert und «geordneten Verhältnissen» zugeführt, spielte der Zufall oft eine grosse Rolle. Verbreitet war eine Platzierung in einer Pflegefamilie.
Einerseits wurden die Minderjährigen in städtischen Familien untergebracht, wo es bezüglich ihrer Behandlung grosse Unterschiede gab. Bis in die 1970er-Jahre wurden Kinder in den Schaffhauser Landgemeinden aber auch auf Bauernhöfen verdingt. Die Betroffenen erzählen von Höfen in Büttenhart, Hofen, Ramsen, Schleitheim, Siblingen und Wilchingen, wo sie teilweise wie Arbeitstiere hätten schuften müssen. Viele geben an, auch brutaler körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. Die Kinder waren den Misshandlungen meist schutzlos ausgeliefert, die Pflegekinderaufsicht, die die Verhältnisse hätten kontrollieren sollen, funktionierte ausgesprochen schlecht.
Kleine Königreiche
In Schaffhausen gab es aber auch eine Reihe von Kinderheimen und Erziehungsanstalten, in denen Minderjährige platziert wurden. In der Studie werden das Kinderheim Löhningen, das Töchterinstitut Steig in Schaffhausen, das Schaffhauser Waisenhaus, die Friedeck in Buch sowie das Schaffhauser Pestalozziheim beschrieben.
Diese Heime hatten verschiedene Hintergründe, waren staatlich oder privat geführt, hatten einen stärker oder schwächer religiös geprägten Charakter, beherbergten verschiedene Gruppen von Kindern und Jugendlichen. Doch es gab auch viele Gemeinsamkeiten.
Auch in den Heimen war körperliche und sexuelle Gewalt weit verbreitet. Die Heimkinder wurden stigmatisiert, die Hackordnung in den Institutionen war oft brutal, und die Verhältnisse, in denen die Minderjährigen in den Heimen aufwachsen mussten, wurden von den offiziellen Aufsichtsgremien grösstenteils ignoriert. Wichtiger waren in der Regel die klammen finanziellen Verhältnisse.
Der finanzielle Druck war einer der Gründe für die schlechten Verhältnisse in den Heimen. Die Untersuchung zeigt aber auch auf, wie stark das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen in den Institutionen von der Person des Heimleiters abhing.
Der Mann etwa, der die Friedeck von 1963 bis 1973 leitete, soll Siegelring getragen und die Zöglinge mit dem Handrücken ins Gesicht geschlagen haben. Nach seinen Torturen hätten die Rücken und Hintern der Kinder ausgesehen «wie Wellblech». Es wird erzählt, vor dem Essen hätten sich die Zöglinge jeweils in Reih und Glied aufstellen müssen, während der Heimleiter durch die Reihen gegangen sei und unvermittelt den Kopf einzelner Buben gegen die Wand geschlagen habe.
Angetönt werden im Untersuchungsbericht auch die Rolle der Psychiatrischen Klinik Breitenau, die sich punkto fürsorgerische Zwangsmassnahmen mitunter zur Erfüllungsgehilfin der Behörden gemacht hat, etwa als es darum ging, Frauen gegen ihren Willen zu sterilisieren.
Langsamer Wandel
Erst als in den 1970er-Jahren der gesellschaftliche Druck im Zuge der 68er-Bewegung immer grösser wurde, wurden die Schaffhauser Heime langsam reformiert oder mussten schliessen.
Das System der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen endete 1981 mit einer neuen Gesetzgebung. Das Schweizerische Zivilgesetzbuch musste angepasst werden, weil die Europäische Menschenrechtskonvention eine zwangsweise Unterbringung von Menschen forderte, welche menschenrechtskonform sei. Fortan war eine fürsorgerische Unterbringung bevormundeter Kinder und Jugendlicher nur noch nach einer gerichtlichen Beurteilung möglich. Ein einfaches amtliches Schreiben reichte nicht mehr aus.
So endete dieses düstere Kapitel Schweizer und Schaffhauser Geschichte.
Serie: Versorgt
Mit diesem Überblickstext startet eine lose AZ-Serie zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in Schaffhausen.
Nächstes Kapitel: das städtische Waisenhaus, das wichtigste Kinderheim des Kantons, das noch bis 1972 von einem Patriarchen geleitet wurde, der seinen Zöglingen mit Geringschätzung begegnete und zu Gewaltexzessen neigte.