Niemand griff ein

7. November 2022, Mattias Greuter
Seit gut einem Jahr geschlossen: Das Heim Hand in Hand in Hemmental © Robin Kohler

Beim Skandalheim Hand in Hand hat die Aufsicht des Gesundheitsamtes durchs Band versagt. Auch Regierungsrat Vogelsanger ­steht in der Kritik.

Wie untersucht man etwas, das nicht existiert? Dieser Aufgabe stellte sich vor fast einem Jahr der Zürcher Rechtsanwalt Markus Bischoff. Er wurde von der Geschäftsprüfungskommission (GPK) beauftragt, «die Wahrnehmung der Aufsichtspflichten des Kantons gegenüber dem Pflegeheim Hand in Hand» in Hemmental zu untersuchen. 

Am vergangenen Freitag veröffentlichte die GPK Bischoffs 79 Seiten starken Bericht. Sein Fazit lässt an Deutlichkeit nichts vermissen: «Die Aufsicht über die Heime im Gesundheitsamt war unbekannt. Sie war inexistent.»

Der Untersuchung vorangegangen waren monatelange Recherchen der Schaffhauser AZ, die eklatante Missstände im kleinen privaten Pflegeheim Hand in Hand aufgedeckt hatten: Pflegerinnen und Angehörige berichteten von nicht bezahlten Löhnen, unhygienischen Zuständen, Misshandlung von Patienten, vom Alkohol- und Medikamenten-Missbrauch der Heimleitung und von systematischer Falschdokumentation der Pflegearbeit zuungunsten der Krankenkassen (AZ vom 1. April 2021 und 29. April 2021).

Im Sommer 2021 wurde Hand in Hand schliesslich Hals über Kopf geschlossen – nicht wegen Pflegefehlern oder auf Basis der Beschwerden, sondern weil die Institution Insolvenz anmelden musste (AZ vom 9. September 2021 und 16. September 2021). Am Tag vor der Konkurseröffnung beschloss der Kanton, eine externe Untersuchung in Auftrag zu geben.

Der Bericht von Markus Bischoff zeichnet minuziös die Chronologie der Ereignisse nach. Sie lässt sich grob in zwei Phasen – vor und nach der kantonalen Betriebsbewilligung als Heim im Dezember 2018 – einteilen. In beiden Phasen gingen bei den Behörden Beschwerden ein – deutlich mehr als bisher bekannt war. Mindestens zehn Personen haben sich an verschiedene Stellen des Departements des Innern mit teilweise ausführlichen Darstellungen von Missständen gewandt. In dieser Zählung nicht enthalten sind, soweit aus dem Bericht ersichtlich, Beweise, welche eine Pflegende gemäss AZ-Recherchen heimlich vor Ort gesammelt und dem Kanton zugespielt hatte.

Die Heimbewilligung war ein Fehler

Eine erste Beschwerde traf bereits 2015 ein. Doch sie blieb ohne Konsequenzen. Das Gesundheitsamt konfrontierte Hand in Hand zwar und beschloss einen baldigen Aufsichtsbesuch – dieser fand jedoch nie statt.

Ab 2017 bemühte sich die Institution, inzwischen in einer Villa in Hemmental tätig, um Aufnahme auf die kantonale Heimliste. Bemerkenswert: Das Gesundheitsamt beschloss im Februar 2018, das Gesuch abzulehnen, weil «Kleinheime schwierig zu überwachen seien», wie der Bericht festhält. Wenig später liess sich das Gesundheitsamt aber vom Sozialamt umstimmen: Dieses gab an, in der Vergangenheit schon «schwierige Patienten» in Hemmental untergebracht zu haben.

Was das unter anderem heisst, haben die Schaffhauser Nachrichten publik gemacht: 2017 hatte sich Hand in Hand kurzfristig bereiterklärt, Osama M., verurteiltes Mitglied der Terrororganisation Islamischer Staat, aufzunehmen. Der Kanton arbeitete ab März 2018 entschlossen darauf hin, die Institution auf die Heimliste aufzunehmen.

Bevor es dazu kam, traf jedoch eine Welle von Beschwerden ein. Drei Pflegerinnen berichteten von zu knappen Personalressourcen, von Alkoholmissbrauch und Hygienemängeln. Eine Patientin sei aus finanziellen Gründen gegen ihren Willen am Leben gehalten worden – der erste von zwei Todesfällen im Hand in Hand, die Fragen aufwerfen.

Der Bericht zeigt – entgegen der Wahrnehmung der Pflegerinnen, welche auch gegenüber der AZ ausgesagt haben: Das Gesundheitsamt war durchaus alarmiert und nahm die Beschwerden ernst.

Die damalige Leiterin des Gesundheitsamtes Anna Sax informierte den zuständigen Regierungsrat Walter Vogelsanger und beschloss, einen externen Berater beizuziehen. In einem Mail, das der Untersuchungsbericht in einer Fussnote zitiert, zeigt sich Anna Sax besorgt: «Sieht wirklich übel aus.» Eine Person, deren Name geschwärzt ist, vermutlich eine Mitarbeiterin, antwortet: «Da stehen die Haare zu Berge ohne Kopfstand …»

Ein unangemeldeter Besuch im Heim fand am 24. Oktober 2018 statt – der erste Besuch des Gesundheitsamtes überhaupt. Doch vor Ort zeigte sich ein wesentlich besseres Bild als in den Schilderungen der Pflegerinnen.

Im Untersuchungsbericht wird ein schwerwiegender Verdacht einer Pflegerin angetönt: Geschäftsleiter Claus Heuscher und Pflegeleiterin Evelyne Spira hätten im Voraus vom offiziell unangemeldeten Besuch gewusst. Eine zweite Pflegerin hat diesen Verdacht gegenüber der AZ im Frühling 2021 konkretisiert: Sie sei überzeugt, dass die zuständige Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes die Heimleitung vorgewarnt hatte. Claus Heuscher selbst habe dies im Betrieb so bestätigt.

Trotz positivem Eindruck beim Besuch empfahl der externe Berater dem Gesundheitsamt, Hand in Hand keine Heimbewilligung zu erteilen, dies insbesondere wegen der unsicheren finanziellen Situation und weil «fast alle Grundlagenpapiere» nicht vorhanden waren. Die Pflegedokumentation sei «schlecht» und es gebe kein Qualitätsmanagement. Es war zu wenig Geld für Personal da, der Unterschungsbericht hält eine Beobachtung des Beraters fest: «Ökonomisch betrachtet, habe das Hand in Hand nur funktionieren können, weil Evelyn Spira rund um die Uhr gearbeitet habe.»

Doch der Kanton entschied anders. Erstens nahm er Hand in Hand auf die Heimliste auf, zweitens erteilte das Departement des Innern im Dezember 2018 eine Heimbewilligung. Auflagen, die daran geknüpft waren, wurden in der Folge nicht oder nur mangelhaft überprüft und durchgesetzt. Ein bis zwei vom Gesundheitsamt beschlossene Kontrollbesuche im ersten Betriebsjahr fanden nie statt.

«Das ständige Sich-vertrösten-Lassen und das Setzen auf die vage Hoffnung, es komme bis Ende 2021 alles besser, führte zu einer zeitlichen Belastung (…)»

Untersuchungsbericht, S. 43

Gleichzeitig mit der Heimbewilligung erteilte das Gesundheitsamt Evelyn Spira die Bewilligung als Leitende Pflegefachperson. Auch dies war mit einer Auflage verbunden: Ein Jahr lang müsse sie alle zwei Monate einen Alkoholtest abgeben.

Ein Zwischenfazit zur ersten Phase: Das Gesundheitsamt gab das Gütesiegel der Bewilligung einem Heim, über das Beschwerden eingegangen waren, welche die Gesundheitsamtleiterin offenbar schockiert hatten – obwohl ein externer Fachmann von der Bewilligung abgeraten hatte. Die Pflege von sechs Bewohnerinnen und Bewohnern wurde in die Hände einer Frau gelegt, die rund um die arbeitete und von der das Gesundheitsamt wusste, dass sie ein Alkoholproblem hatte.

Am 27. Mai 2019 meldete das Amt dem Hand in Hand, dass «das Ergebnis der Alkoholmessung leider nur sehr knapp genügend sei. Man erwarte Besserung.»

Der zweite fragwürdige Todesfall

Die zweite Phase, nach Erteilung der Heimbewilligung, ist zunächst von einer neuen Welle von Beschwerden von Pflegerinnen geprägt, von denen einige auch der AZ vorliegen. Sie handeln von Alkohol- und Medikamentemissbrauch durch die Leitung, Injektionen durch unqualifiziertes Personal, mangelnder Hygiene, ungeklärtem Verschwinden von Medikamenten, sadistischen Strafen und rassistischem Verhalten gegenüber einem schwer beeinträchtigten Bewohner, der ausserdem während 24 Stunden ans Bett gefesselt und mit Medikamenten ruhig gestellt worden sei.

In diese Zeit fällt ein weiterer Todesfall unter fragwürdigen Umständen. Laut zwei Pflegerinnen und einem Mitbewohner wurde während eines ganzen Tages und einer Nacht kein Arzt gerufen, als eine Bewohnerin im Sterben lag. Nachdem der Patientin ohne Beisein eines Arztes und ohne Verordnung Morphium abgegeben wurde, sei die Frau verstorben. Brisant: Gemäss Informationen der AZ hat diese Frau das Heim beerbt.

«Es ist nicht erklärbar, wieso im GA der unerschütterliche Glaube herrschte, alles würde schon gut kommen.»

Untersuchungsbericht, S. 44

Nach den zahlreichen Beschwerden schaltete das Gesundheitsamt im Februar 2020 erneut den externen Berater ein. Dieser schrieb, es sehe «nicht gut aus und könnte sogar strafrechtlich relevant sein». Doch eine Strafanzeige war beim Amt nie ein Thema. Der Untersuchungsbericht kommt letztlich zum Schluss, beim Gesundheitsamt habe es offensichtlich «weder eine Kultur noch eine Idee, man könne eine Strafanzeige einreichen» gegeben – allerdings sei das Amt dazu rechtlich auch nicht verpflichtet gewesen.

Im Februar 2021 folgte ein weiterer Kontrollbesuch durch das Gesundheitsamt – der erste seit rund eineinhalb Jahren. Erneut war der Eindruck positiv, und erneut wurden dem Heim Auflagen gemacht, die in der Folge aber zu wenig kontrolliert und nicht durchgesetzt wurden.

Bis dem Heim das Geld ausging

Zur Überraschung der Öffentlichkeit bewilligte die Regierung am 15. Juni 2021 eine geplante Vergrösserung des Heims von sechs auf zehn Betten. Dies, obwohl die eingangs erwähnten AZ-Artikel in der Zwischenzeit krasse Missstände geschildert hatten. Ob die Erweiterung – oder das Heim überhaupt – wirtschaftlich funktionieren konnte, wurde vom Gesundheitsamt in keiner Weise überprüft, wie der Bericht zeigt. Das Heim wurde nur einmal mehr ermahnt, bisherige und neue Auflagen müssten erfüllt werden.

Ein dritter und letzter Besuch fand im Juni 2021 statt, bei dem das Gesundheitsamt sich erneut versprechen liess, die Auflagen würden bald erfüllt. Ausserdem wurde – ein einzigartiger Vorgang – eine Befragung der Mitarbeiterinnen und Bewohner durchgeführt, die laut Bericht ein «gemischtes Bild» ergab. Das Amt hoffte, irgendwie werde sich alles zum Guten wenden.

Doch dazu kam es nicht mehr. Am 24. August bat der ehemalige Geschäftsleiter Claus Heuscher den Kanton per Telefon um eine Bürgschaft für einen Überbrückungskredit von 400 000 bis 450 000 Franken. Die Augustlöhne wurden nicht bezahlt und im Heim sprach sich herum, Hand in Hand sei pleite. Eine Sozialversicherung, deren Name im Bericht geschwärzt ist, schlug Alarm und wies auf eine massive Unterdeckung von rund 430 000 Franken sowie einen Jahresverlust von geschätzt 110 800 Franken hin. Die Leiterin des Gesundheitsamtes, Anna Sax, lehnte die Bitte um eine Bürgschaft ab.

Eine Woche später, am 31. August teilte der Kanton mit, sie gebe die Leitung des Gesundheitsamtes ab – offiziell bestand kein Zusammenhang zur Affäre Hand in Hand.

Am 3. September 2021, eine Woche vor der Schliessung, kam eine vom Gesundheitsamt initiierte Taskforce zusammen. Diese suchte noch vergeblich nach einer Übergangslösung und versprach dem Personal gemäss AZ-­Recherchen mehrmals, die Löhne und Arbeitsplätze seien bis Ende Jahr gesichert. Am 10. September 2021 wurde das Heim geschlossen, die Bewohnerinnen und Bewohner verteilte man auf andere Institutionen.

Vier Tage später entzog Walter Vogelsanger die Betriebsbewilligung, kurz darauf wurde der Konkurs eröffnet und Evelyn Spira verhaftet, nachdem eine ehemalige Pflegerin mit der Polizei gesprochen hatte.

©Robin Kohler

Aufsichtsmängel bei Vogelsanger

Die zentrale Aufgabe des Untersuchungsberichts war, festzustellen, ob verschiedene kantonale Instanzen in der Misere um Hand in Hand ihre Aufsichtspflicht wahrgenommen haben. Im Fokus stehen dabei insbesondere der zuständige Regierungsrat Walter Vogelsanger und das Gesundheitsamt. 

Zum Gesundheitsamt fällt das Urteil verheerend aus. Der Bericht nimmt zwar Rücksicht auf die Tatsache, dass im Gesundheitsamt die personellen Ressourcen knapp waren und die Probleme um Hand in Hand sich zeitlich mit der Pandemie überschnitten. Auch treffe der Vorwurf nicht zu, das Amt sei gegenüber Beschwerden untätig geblieben und habe desolate Zustände im Hand in Hand geduldet.

«Ich hatte den Fall HiH nie auf dem Schirm.»

Walter Vogelsanger im Bericht, S. 69

Dennoch hat die Aufsicht des Gesundheitsamtes völlig versagt.  Der Untersuchungsbericht hält fest: «Gänzlich unvorbereitet war man bezüglich der Beschwerden über Heime und die Möglichkeiten der Aufsicht.» Die Aufsicht war «unbekannt» und «inexistent». Zur Aufsichtstätigkeit hätte auch die Kontrolle der Wirtschaftlichkeit gehört, die überhaupt nicht stattfand. Das Gesundheitsamt hat seine Kontroll- und Aufsichtspflichten verletzt und sich in eine «fatale Abhängigkeit» von Hand in Hand begeben, schreibt Markus Bischoff.

Was Walter Vogelsanger als Vorsteher des Departements des Innern angeht, ist das Urteil des Berichts etwas milder. Aufsichtsmängel werden aber auch bei ihm festgestellt: Nach dem zweiten Besuch im Februar 2021 sei seine Aufsicht gegenüber dem Gesundheitsamt «zu distanziert» gewesen, es hätte laut Bericht zu seinen Pflichten gehört, sich vertieft mit der Sache auseinanderzusetzen. Ihm hätte zu diesem Zeitpunkt klar sein müssen, dass weitere Auflagen das Problem nicht lösen würden. Markus Bischoff bilanziert: «Der Vorsteher des Departementes des Innern zeigte ein distanziertes und passives Verhalten gegenüber dem Problem Hand in Hand.»

Was der Bericht nicht behandelt

Der Untersuchungsbericht von Markus Bischoff wurde dem Kantonsrat zugestellt, der ihn am 5. Dezember diskutieren wird. Damit wird die politische Aufarbeitung der Affäre Hand in Hand einen Schlusspunkt finden. Was noch bleibt, ist die Umsetzung einer Reihe von Empfehlungen, die Bischoff abgibt: Vor allem müsse die Aufsicht nicht nur der privaten, sondern auch der kommunalen Heime neu geregelt werden.

Der Regierungsrat begrüsst in seiner Stellungnahme die Empfehlungen «ausnahmslos» und verspricht, sie umzusetzen. Walter Vogelsanger schreibt der AZ auf Anfrage, erste finanzielle Mittel dafür seien bereits im Budget 2023 enthalten.

Die politische Aufarbeitung ist jedoch nur die eine Seite der Medaille: Die andere ist die laufende Strafuntersuchung. Eine ausserordentliche Staatsanwältin ermittelt gegen die Heimleitung wegen Vermögensdelikten und Delikten gegen Leib und Leben – in einem der zwei erwähnten Todesfälle geht es mutmasslich um fahrlässige Tötung. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Ebenfalls kein Urteil fällt der Bericht im Bezug auf die fragwürdigen Einstufungen des Pflegebedarfs der ehemaligen Heimbewohner. Pflegerinnen hatten immer wieder berichtet, sie seien angewiesen worden, bei der Dokumentation des Aufwandes zu übertreiben, damit das Heim mehr Geld von den Krankenkassen erhalte. Der Bericht stellt fest, dass auffällig viele der Bewohnerinnen und Bewohner bezüglich des Pflegeaufwands sehr hoch eingestuft waren, was hohe Zahlungen von den Krankenkassen zur Folge hatte.

Laut Untersuchungsbericht wurden nach der Schliessung von Hand in Hand bis auf eine Person alle Bewohnerinnen und Bewohner in ihren neuen Heimen wesentlich tiefer eingestuft. Das Gesundheitsamt war jeweils davon ausgegangen, die unsachgerechte Einstufung sei Folge von mangelnder Fachkompetenz im Heim und kein absichtlicher Betrug an den Krankenkassen. Der Bericht notiert aber, dass Anna Sax ihre Meinung diesbezüglich später geändert hat. Auch hier gilt die Unschuldsvermutung.