Hoffnung trotz Taliban

29. Oktober 2022, AZ-Redaktion
Kabul: Bis vor einem Jahr verging hier kaum ein Tag ohne blutige Anschläge der Taliban, nun sorgen sie selbst für die Sicherheit. Fotos: zVg
Kabul: Bis vor einem Jahr verging hier kaum ein Tag ohne blutige Anschläge der Taliban, nun sorgen sie selbst für die Sicherheit. Fotos: zVg

Erstmals seit der Machtübernahme durch die ­radikal-­islamischen Kämpfer reiste die Afghanistanhilfe Schaffhausen wieder an den Hindukusch. Eine Reportage.

Von Adrian Ackermann

Der Toyota-Bus schlängelt sich durch den dichten, vierspurigen Morgenverkehr. Die Teppiche auf den Sitzen dämpfen das Ruckeln beim ständigen Anfahren und Bremsen. Der Blick durch das Fenster taucht ein in das Gewimmel der Grossstadt: Ein Mann mit einer verbeulten Schubkarre reiht sich auf der Spur nebenan in den Verkehr ein, ein hölzerner, überladener Wagen wird von Pferden gezogen, da ein Esel, und ein Motorrad mit Mann, Frau und eins, zwei, ja drei Kindern auf dem Sitz fährt an uns vorbei. Willkommen in Kabul: Vier-Millionen-Metropole und Schmelztiegel der Kulturen. Ein bunter, lärmiger Moloch.

Für die kleine Delegation der Afghanistanhilfe Schaffhausen im Toyota ist es eine ungewisse Rückkehr. Dreimal wurde die Reise wegen Pandemie und Sicherheitsbedenken verschoben. Michael Kunz, Präsident der Afghanistanhilfe, sagt: «Es war wichtig, endlich zurückzukommen. Wir wollen unsere Freunde hier wieder treffen, ihnen Mut machen. Wir müssen aber auch wissen: Funktioniert unsere Arbeit überhaupt noch? Kommt unsere Hilfe weiter an?»

Afghanistan ist ein Entwicklungsland mit 39 Millionen Einwohnern, Heimat einer Vielzahl von Ethnien und Kulturen, geprägt und geplagt von jahrzehntelangem Krieg mit unterschiedlichen Akteuren. Gerade muss das Land den Umsturz durch die radikal-islamischen Taliban verarbeiten, den Rückzug internationaler Militärs und vieler Hilfsorganisationen. 

Die Schaffhauserin Mirella Walter ist das dritte Mal auf Projektreise in Afghanistan und sagt, persönlich freue sie sich auf das Wiedersehen mit vielen Freunden, gleichzeitig sei es aber auch traurig: «Viele sind weg, sind geflüchtet. Und vielen, die geblieben sind, fehlt die Perspektive.» 

Eskorte der Taliban am Flughafen in Jaghori: Sie sind nun Ansprechs­partner für alle, die das Land bereisen wollen.

Angst vor der neuen Macht im Land

Die Taliban sind omnipräsent, gerade in Kabul. Von der westlichen Welt jahrelang als Terroristen gejagt, stellen sie jetzt Polizei, Regierung und Verwaltung. Viele aber scheinen in erster Linie Krieger geblieben zu sein. Bärtige Männer mit kritischen Blicken. Oft sind sie blutjung, vielleicht 15, 16 Jahre alt. Sie haben keine einheitliche Uniform, aber alle haben eine Kalaschnikow, die Finger am Anschlag.

Auf der Fahrt durch Kabul passieren wir eine Handvoll Kontrollpunkte. Das bevorzugte Gefährt der Taliban sind Pick-ups mit fest installiertem Maschinengewehr, an den Kreuzungen und vor wichtigen Gebäuden sitzen sie eingegraben in Burgen aus Sandsäcken auf erbeuteten amerikanischen Leichtschützenpanzern. Und überall weht die Flagge des noch jungen islamischen Emirats. Eine schwarze arabische Schrift auf weissem Grund. 

«Zu Beginn war das ein Schock. Da versteckst du dich jahrelang vor diesen Kriegern, und jetzt bewegst du dich direkt unter ihnen», meint Michael Kunz. Bis vor Kurzem galten sie noch als Terroristen, nun sorgen sie für eine ungewohnte Ruhe im Land.

Vor allem für uns westliche Besucher ist das spürbar. Die Talibankämpfer scheinen den ausdrücklichen Befehl erhalten zu haben, uns anständig zu behandeln. Einmal entschuldigt sich gar ein Kommandant persönlich dafür, dass seine Soldaten unser Gepäck durchsucht haben.

Diese gemässigte Haltung uns gegenüber hat natürlich mit Politik zu tun und vor allem damit, dass die Taliban alleine kaum in der Lage sind, den Staat aufrechtzuerhalten. Der internationale Zahlungsverkehr ist seit dem Umsturz unterbrochen, und viele Hilfsorganisationen haben sich zurückgezogen. Dazu haben wohl Hunderttausende das Land verlassen, darunter gerade viele gut Ausgebildete. Wir erfahren von Beamten und Lehrern, dass sie oft monatelang, teilweise seit einem Jahr keinen Lohn erhalten. Den Taliban fehlt es an Geld und an Kompetenz. 

Trügerische Ruhe

Anders als viele andere Organisationen hat die Afghanistanhilfe ihre Hilfe nie eingestellt. Doch während vieler Wochen war die Situation äusserst prekär. «Wir und vor allem unsere Partnerorganisation verfielen beim Umsturz in eine Art Schockstarre», erzählt Michael Kunz: «Dann sind viele unserer Mitarbeiter geflüchtet, es gab einen starken Wechsel im Management vor Ort. Wir waren nicht sicher, ob wir handlungsfähig bleiben würden.» Schliesslich sei aber eine gewisse Stabilisierung eingetreten. Einerseits würden nun einige der Geflüchteten vom Ausland aus mitarbeiten, und das funktioniere erstaunlich gut. Andererseits seien neue, fähige Leute vor Ort dazugekommen.

Ob Kliniken, Schul- oder Waisenhäuser: Bislang kann die Afghanistanhilfe ihre Projekte alle weiterführen.

Doch die aktuell relativ gute allgemeine Sicherheitslage und unsere eigene, überraschend unkomplizierte Reise geben auch ein trügerisches Bild ab. Die Taliban sind natürlich nicht einfach von der Terrormiliz zu einer freundlichen Staatsmacht mutiert. 

Deutlich wird dies in Bamiyan in Zentral­afghanistan. Es ist der Ort der berühmten Buddha-Statuen im Fels, die von den Taliban während ihrer ersten Regentschaft in die Luft gesprengt wurden. Bamiyan ist Heimat der Hazara, einer Ethnie schiitischen Glaubens, einer Minderheit in Afghanistan, das  sunnitisch und in weiten Teilen paschtunisch geprägt ist. Sie haben besonders von vielen Entwicklungen im früheren, liberaleren Afghanistan profitiert. Viele sind aus der Armut aufgestiegen, haben studiert und Karrieren gemacht. In Unternehmen, Hilfsorganisationen, in den Medien. Auch viele Frauen. Die meisten dieser Karrieren hat die Machtübernahme der Taliban beendet, die freien Medien wurden verboten, den Frauen wurde in vielen Berufen untersagt, weiterzuarbeiten.

Hier in Bamiyan unterhält die Afghanistanhilfe eines ihrer Waisenhäuser: 60 Knaben, Mädchen, junge Frauen und Männer. Genauer gesagt sind es seit Kurzem zwei Waisenhäuser – sie wurden nach Geschlechter getrennt. So will es die neue Ordnung.

Bei unserem Besuch sind trotzdem alle zusammen versammelt. Die Kinder unterhalten uns mit einem Programm aus Gedichten, Gesang und Spiel. Die Stimmung scheint gelöst und fröhlich – zumindest auf den ersten Blick. Die Vorhänge nach draussen jedoch bleiben gezogen, die Fenster geschlossen. «Wir müssen vorsichtig sein», sagt einer der Leiter des Waisenhauses. Die Sittenwächter seien nah und sie seien wachsam. Nah heisst in diesem konkreten Fall in unmittelbarer Nachbarschaft. Es ist das Gebäude der afghanischen Menschenrechtskommission, das die Kämpfer konfisziert und zu einem lokalen Hauptquartier umfunktioniert haben. Der Volleyballplatz vor dem Waisenhaus bleibt seitdem verwaist. Die älteren Mädchen dürfen nicht mehr zur Schule, nur selten verlassen sie überhaupt noch das Haus. «Die Taliban können unberechenbar sein», erzählt eine Lehrerin. «Manchmal kommen sie einfach rein, kontrollieren den Unterricht». Einmal sei einer sogar mit seinem Gewehr über die Mauer gesprungen, als sie ihm den Zutritt verweigert hätten. 

«Was habt ihr mit uns vor? Was haben wir für Perspektiven?», fragen uns die jungen Frauen. Es ist nicht einfach, Antworten zu finden. Michael Kunz sagt in seiner Ansprache vor den Kindern und Teenagern: «Hoffnung ist vielleicht das Wichtigste. Es gilt, die Hoffnung nicht zu verlieren. Und der Glaube an Euch selbst, an eure Stärken.» Das mag etwas pathetisch klingen, und Hoffnung allein wird wohl nicht reichen. Aber Kunz sagt es weder desillusioniert noch zynisch. Denn Hoffnung ist seit jeher ein Hauptprinzip und Antrieb für die Arbeit der Afghanistanhilfe. Man ist sich wohl bewusst, dass man die Welt im Grossen nicht verändern, aber im Kleinen mit einfachen Mitteln dennoch viel bewirken kann. 

Und hier im Waisenhaus sind die Jungen und Mädchen vergleichsweise sicher, wenn man bedenkt, was anderswo im Land drohen kann: Grosse Armut, Eltern, die deswegen ihre Kinder verkaufen, Verschleppung, Gewalt. 

Aber Kunz bleibt gegenüber den Kindern auch vorsichtig mit seinen Worten, er will nichts versprechen, das vielleicht nicht zu ­halten ist.

In Paktia, nahe der Grenze zu Pakistan: Hier gibt es unter den ­Taliban zum ersten Mal seit vielen Jahren so etwas wie Frieden.

Neu gewonnene Sicherheit

Unsere Reise durch das arme Land zeichnet ein zwiespältiges Bild. Freude und Sorge. Prägend ist für unseren westlichen Blick aber auch die Erfahrung, dass Freiheit und Friede nicht für alle das gleiche bedeuten.

Während das Leben in Bamiyan vor dem Umsturz frei und weitgehend friedlich war, die Taliban hier nun als strenge Besatzungsmacht auftreten und Angst verbreiten – so ist ein relativ angstfreieres Leben anderswo durch ihren Sieg überhaupt erst möglich geworden. Dies erfahren wir in Paktia, einer gebirgigen Region im Osten des Landes.

«Nur schon diese Schnellstrasse in Richtung Berge war brandgefährlich», erzählt Fatah Zazai, unser Begleiter der lokalen Partnerorganisation auf unserer Fahrt von Kabul in seine ursprüngliche Heimat. «Die Konfliktlinie zwischen den Regierungstruppen und den Taliban führte hier mitten durch und verschob sich ständig.» Fast täglich habe es Schusswechsel und Anschläge gegeben.

Paktia ist nur schon landschaftlich eindrücklich. Die Täler sind grün und fruchtbar, die Hügel und Berge sind bewaldet und durchzogen von zerklüfteten Felsformationen. In der Ferne sieht man das Hochgebirge des Hindukusch. 

Die Menschen hier leben sehr einfach, und sie lebten in den letzten Jahrzehnten fast immer in einem Kriegsgebiet. Das unmittelbar benachbarte Pakistan war Rückzugsgebiet der Taliban. Vor allem nachts kamen sie für ihre Angriffe auf die Amerikaner und die afghanische Armee aus den Bergen. Da war die ständige Angst, ins Kreuzfeuer zu geraten.

Diese Region erlebt nun also erstmals seit langer Zeit so etwas wie Frieden. Es gibt keine ständigen Kämpfe, kein Morden mehr. Deswegen sind hier viele froh über den Sieg der Taliban. 

Am gesellschaftlichen Leben hat sich hier durch die neuen Machthaber wenig geändert. Es ist seit jeher tief verankert in der Religion, in alten Bräuchen und Traditionen. Hier gilt das strenge Stammesrecht der Paschtunen. Für unsere Augen ist es eine sehr konservativ-­islamische Welt. Frauen sieht man kaum in der Öffentlichkeit und wenn doch, dann vollständig verschleiert.

Diejenigen Frauen aber, die hier in den Gesundheitszentren, die das Hilfswerk unterhält, eine prominente und wichtige Rolle spielen, werden akzeptiert und auch die Mädchenschulen sind offen. Gerade dafür setzen sich auch viele der Dorfältesten ein, die das Leben in den Gemeinden hier traditionellerweise regeln.

Junge Frauen in einem Waisenhaus: Sie wollen Ärztinnen werden oder Unternehmerinnen. Ob sie überhaupt einen Schulabschluss machen dürfen, ist unklar.

Der Gefahr zum Trotz

Unsere Reise bleibt für uns persönlich bis zum Schluss ohne Schwierigkeiten, aber nicht ohne Zäsur, die uns vor Augen führt, dass die gefühlte subjektive Sicherheit vielleicht doch nur ein Trugschluss, jedenfalls aber fragil ist. Wir selbst sind noch in Zentralafghanistan unterwegs, als sich in einem vollbesetzten Hörsaal einer Universität in Westkabul ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengt. Über 50 Studentinnen werden in den Tod gerissen. Alle gehörten der Ethnie der Hazara an. Einige unserer Freunde berichten, dass sie Opfer persönlich kennen.

Tage später besuchen wir selbst eine der zahlreichen Universitäten Kabuls und treffen dort auf ein ambivalentes Bild. Die Institution scheint um ihre Zukunft zu kämpfen. Die Zahl der Studierenden ging zuletzt stark zurück. Es fehlt an Mitteln. Viele kommen nicht mehr aus Angst, viele können es sich nicht mehr leisten. Unklar ist, welche Studienfächer für Frauen künftig überhaupt noch zugelassen sein werden. Wir werden von der Universitätsleitung gefragt, ob wir nicht mit Stipendien helfen könnten. Kunz verspricht, man werde es prüfen.

Von Besorgnis ist hingegen bei den Studentinnen, die wir auf den Gängen und in den Hörsälen treffen, vordergründig wenig zu spüren. Es wird geredet, diskutiert, argumentiert – eine Uni voller Leben. Eine der Frauen meint entschlossen: Sie wolle die nächste Präsidentin des Landes werden. Eine andere sieht sich als Richterin. Die Hoffnung und ihren Willen wollen sie sich nicht nehmen lassen. Schon gar nicht von den Taliban.

Inside Afghanistan: Mehr aktuelle Eindrücke aus Afghanistan gibt es am
10. November ab 18 Uhr am jährlichen Benefizanlass der Afghanistanhilfe in der Kammgarn.

Die Reise
Adrian Ackermann reiste mit  dem Präsidenten der Afghanistan­hilfe, Michael Kunz, und Vorstandsmitglied Mirella Walter während zehn Tagen durch Afghanistan und besuchte mehrere Regionen, in denen die Schaffhauser Organisation Schulen, Waisenhäuser oder Kliniken finanziert.
Ackermann war auf der Reise offiziell Teil der Delegation der Afghanistanhilfe. In diesem Text verarbeitet er seine persönlichen Eindrücke.

Die Organisation
Die Afghanistanhilfe geht auf die Schaffhauserin Vreni Frauenfelder zurück. Frauenfelder reiste bereits in den 70er-Jahren alleine durch die Region und schloss dabei zahlreiche Verbindungen und Freundschaften. Ihr humanitäres Engagement für Afghanistan war ihr Lebenswerk. 
Heute investiert die Afghanistanhilfe jährlich rund eine Mil­lion Franken direkt in Projekte vor Ort, die sie zusammen mit mehreren lokalen Partnerorganisationen umsetzt.