Showdown der Paragrafen

4. Oktober 2022, Simon Muster

Die Schaffhauser Verfassung hat immer noch keine Transparenzartikel. Dabei geht es nicht mehr um Politik – man bekriegt sich mit Gutachten. Mittendrin: eine Berner Juristin und ihre Doktorarbeit.

Der Streit um die Umsetzung der Transparenz-Initiative wirft inzwischen auch ausserhalb des Schaffhauser Wasserglases seine Wellen. «Wie die Schaffhauser Politik seit Monaten den Volkswillen untergräbt», titelt etwa das Onlineportal Watson.

Darin wird eine hierzulande bekannte Geschichte nacherzählt: Wie die Schaffhauser Stimmbevölkerung 2020 überraschend den schweizweit strengsten Transparenzvorschriften für die Parteien- und Kampagnenfinanzierung zustimmte; wie eine bürgerliche Allianz mit Hilfe einer Motion den angenommenen Verfassungsartikel aushöhlen möchte; und wie die Initiantinnen das mit einer Umsetzungs-Initiative verhindern wollen.

Und – als vorläufigen Höhepunkt des demokratiepolitischen Dramas –, wie die Schaffhauser Regierung die Umsetzungs-Initiative für ungültig erklären will, sofern die Motion der bürgerlichen Allianz obsiegt.

Der Kampf wird inzwischen mit einer speziellen Waffe ausgefochten: mit Gutachten.

Der Regierungsrat stützt sich auf ein Gutachten ab, die Initianten kontern diese Woche mit einem anderen Gutachten. Am gestrigen Mittwoch tagte die Spezialkommission des Kantonsrats und diskutierte beide. Ausgang der Debatte: unbekannt.

Der AZ liegen beide Gutachten vor. Sie bieten einen Einblick in das verfassungsrechtliche Seilziehen, das sich seit der Annahme der Transparenz-Initiative 2020 im Hintergrund abspielt.

Mittendrin: eine Juristin. Auf ihre Doktorarbeit stützen sich in diesem Schaffhauser Paragrafenkrieg von links bis rechts alle Partein ab. Und doch kommen sie alle zu ganz unterschiedlichen Schlüssen.

Nicht anwendbar

Um zu verstehen, wie es zu diesem aussergewöhnlichen Hickhack gekommen ist, muss man rund drei Jahre zurückreisen. Im Februar 2020 war die Transparenz-Initiative gerade angenommen worden. Alle wussten: Der Weg zu ihrer Umsetzung wird steinig. Denn es gab viele offene Fragen: Was genau ist eine Kampagne? Was passiert, wenn Spenden auf verschiedene Komitees aufgeteilt werden? Müssen Abgaben, die gewählte Politikerinnen an ihre Parteien ausrichten, als Spenden ausgewiesen werden? Das sind nur einige der offenen Fragen, die der SP-Finanzwart Thomas Weber damals in der AZ aufzählte.

Trotzdem blickten die Befürworter damals optimistisch in die Zukunft: «Immerhin steht der Paradigmenwechsel jetzt in der Verfassung. Zurück geht es nicht mehr», sagte etwa Claudio Kuster damals. (AZ vom 13. Februar 2020). Er sollte sich gewaltig irren.

Im August 2020 stellte Kuster nämlich vor den Wahlen für den Grossen Stadtrat fest, dass die Transparenzartikel bisher nicht in die Verfassung aufgenommen worden waren und die Stadt somit keine Transparenzvorschriften erliess. Heisst: Die Parteien und Kandidatinnen konnten also weiterhin im Dunkeln Spenden sammeln, trotz angenommener Transparenz-Initiative.

Der Grund: Der Regierungsrat stellte sich auf den Standpunkt, dass die Transparenz-Initiative so viele Fragen offen lasse, dass sie weder ganz noch teilweise anwendbar sei. Kuster legte gegen den Entscheid Beschwerde ein. Dazu inspiriert hatte ihn nach eigenen Aussagen eine 320 Seiten lange Dissertation mit dem wenig klingenden Titel «Die Umsetzung kantonaler Volksinitiativen» – gewissermassen das Standardwerk für Initiativen auf Kantonsebene.

Kusters Argumente stachen aber nicht. Das Schaffhauser Obergericht entschied, dass der Regierungsrat recht habe und der Text der Transparenzinitiative nicht unmittelbar anwendbar sei. Dabei stützte sich das Obergericht bei seinem Entscheid auf ein und dieselbe Dissertation ab, wie Kuster seine Beschwerde.

Ein Wendepunkt

Der Entscheid markierte in der komplexen Debatte einen Wendepunkt. Ab diesem Zeitpunkt nämlich dreht sich die Diskussion um mehr Transparenz in der Schaffhauser Politikfinanzierung nicht mehr um politische Inhalte – sondern um formaljuristische Spitzfindigkeiten.

Das nimmt mitunter groteske Züge an: Bis heute klafft an der Stelle in der Schaffhauser Kantonsverfassung, wo der Transparenzartikel eigentlich stehen sollte, ein schwarzes Loch. Die Staatskanzlei begründet das auf Anfrage so: «Art. 37a der Kantonsverfassung ist zwar bereits seit dem 9. Februar 2020 in Kraft, er ist aber nicht unmittelbar anwendbar und entfaltet somit auch noch keinerlei Rechtswirkungen.» Deswegen habe man bis jetzt keinen Anlass gesehen, den Artikel in die Verfassung aufzunehmen.

Das bedeutet also konkret: Der Artikel ist in Kraft, in der Verfassung aber unsichtbar. Ergibt das Sinn?

«Da muss ich vehement widersprechen!»

Corina Fuhrer

Anruf bei Corina Fuhrer, der Juristin und Autorin der viel zitierten Dissertation, auf die sich sämtliche Parteien im Schaffhauser Transparenzstreit stützen. Frau Fuhrer, hat die Staatskanzlei recht? Fuhrer antwortet, es stimme zwar, dass der Transparenzartikel in Kraft sei, aber entsprechend dem Obergerichtsurteil erst nach einer Umsetzung auf Gesetzesebene angewendet werden könne. «Jedoch muss ich vehement widersprechen: Natürlich hat der Artikel trotzdem Rechtswirkung.» Der Kantonsrat dürfe etwa keine Gesetze verabschieden, die im Konflikt mit dem Artikel stünden.

«Aus meiner Sicht müsste der Transparenzartikel längst in der Verfassung aufgenommen worden sein.» Dass das bisher nicht passiert sei, könne sie sich nur mit taktischen Überlegungen der Regierung erklären.

Kampf der Gutachten

Die grösste Kapazität auf dem Gebiet der kantonalen Volksinitiativen hat also ein klares Urteil gesprochen: Der Regierungsrat ist seiner Pflicht nicht nachgekommen. Doch eigentlich geht es längst nicht mehr um den ursprünglichen Verfassungstext, sondern um die Frage, wie fest dieser abgeändert werden soll.

Kantonsrat Christian Heydecker will mit einer Motion den Text massiv beschneiden und nur noch eine allgemeine Formulierung in der Verfassung. Die Motion Heydecker sieht den radikalen Kahlschlag vor, vom ursprünglich engen Transparenzartikel soll nur noch eine allgemeine Formulierung in der Verfassung stehen. Der Rest solle auf Gesetzesebene geregelt werden. Mit der Umsetzungsinitiative wollen die Initianten das verhindern.

Also kam es gestern in der Sitzung der kantonsrätlichen Spezialkommission zum Showdown, der passionierten Staatsrechtlerinnen Freudentränen in die Augen drücken würde. In der rechten Ringhälfte das Gutachten im Auftrag der Regierung aus den Federn von Dr. Felix Uhlmann von der Universität Zürich. Auf der linken Seite ein Gegengutachten von Dr. Arnold Marti, ehemaliger Vizepräsident des Schaffhauser Obergerichts.

Das Gutachten der Regierung kommt zum Schluss, dass die Umsetzungs-Initiative ungültig ist, wenn die Motion Heydecker vom Parlament und vom Volk angenommen wird. Da die Motion den grössten Teil des ursprünglichen Transparenzartikels wegstreicht, auf den sich die Umsetzungs-Initiative bezieht, würde der Umsetzungs-Initiative buchstäblich der Boden unter den Füssen weggezogen. Darauf abgestützt empfiehlt der Regierungsrat dem Kantonsrat, die Umsetzungs-Initiative für nur bedingt gültig zu erklären. Was auch bedeutet: Der Regierungsrat lässt dem Kantonsrat die Möglichkeit, die Umsetzungs-Initiative gar nicht zur Abstimmung zu bringen. Gleichzeitig beantragt er aber, die Motion Heydecker der Umsetzungs-Initiative als Gegenvorschlag in einer Doppelabstimmung gegenüberzustellen.

Das sei eine «widersprüchliche» Schlussfolgerung, heisst es hingegen im Gegengutachten von Arnold Marti. Eine Doppelabstimmung über beide Vorlagen mit Stichfrage sei nicht nur eine Option, sondern «zwingend», um die unverfälschte Willensbildung der Stimmberechtigten zu erreichen. Sollte der Kantonsrat dem nicht folgen und bloss eine bedingte Gültigkeit der UmsetzungsInitiative beschliessen sowie allenfalls die Motion sogar vor der Umsetzungs-Initiative an die Urne bringen, wäre eine erfolgversprechende Beschwerde vor Bundesgericht möglich, so der letzte, drohende Satz im Gutachten.

Zu welchem Schluss die Spezialkommission am gestrigen Mittwoch gekommen ist, ist nicht bekannt.

Für die AZ hat Corina Fuhrer das Gutachten der Regierung analysiert und eine Einschätzung gewagt. Die externe Ringrichterin kommt zum Schluss: «Demokratiepolitisch ist mindestens eine Doppelabstimmung angezeigt.» Zwar sei die Einschätzung des Gutachtens der Regierung zum Verhältnis der beiden Vorlagen vertretbar, aber: «Dieser rein formaljuristische Blick ignoriert, dass diese Diskussion nur geführt wird, weil die Transparenz-Initiative nie umgesetzt wurde.»

Konkret: Der reine Blick auf die Paragrafen verschleiert die politische Ursünde.

Für ihre Doktorarbeit habe sie viele Umsetzungen von Initiativen in den Kantonen analysiert, sagt Corina Fuhrer zum Schluss. Einen vergleichbaren Fall wie die Nicht-Umsetzung der Schaffhauser Transparenz-Initiative habe sie dabei noch nie gesehen. «Normalerweise gehört es zum Selbstverständnis von Parlamentariern, dass sie auch Initiativen umsetzen, die sie im Abstimmungskampf noch abgelehnt haben.» Das treffe in diesem Fall aber offensichtlich für die Mehrheit des Kantonsrats nicht zu. «Das Ganze ist ein staatsrechtliches Trauerspiel.»

Die Schaffhauser Demokratie ist also angezählt.