Networking: Das Stars-Symposium bietet Einblick in eine Parallelwelt, in der alles entweder ein «Risk», eine «Opportunity» oder beides zugleich ist.
Sonntagvormittag im Konferenzsaal des Bür-gerasyls, Stein am Rhein. Er würde sehr empfehlen, während des «Networking Coffee» das Gebäude einmal in die andere Richtung zu verlassen, sagt der Moderator vorne am Rednerpult. Dann komme man direkt auf den «Town Square». Die gut 100 Menschen im Raum, alle in Business-casual-Aufzug, nicken interessiert. Sie sind ein paar Stunden zuvor direkt in die Gasse hinter dem Bürgerasyl chauffiert worden. Von der mittelalterlichen Altstadt kennen sie bisher nur diesen Raum.
Die 100 Menschen im Bürgerasyl sind Teilnehmende des Stars (Stein am Rhein Symposium). Die Veranstaltung versammelt seit 2008, mit Ausnahme der zwei Corona-Jahre, jeweils jährlich die «leaders of the next generation» im beschaulichen Städtchen (ein Interview mit dem ehemaligen Direktor des Stars finden Sie in der Ausgabe vom 6. März 2014). Aufstrebende Kaderleute aus internationalen Konzernen wie Nestlé, Holcim oder Siemens, aus der Welt der Banken, Versicherungen, Hochschulen und Medienhäusern, aber auch aus der Schweizer Bundesverwaltung, tauchen für vier Tage in eine Parallelwelt ein, wobei der Veranstaltungsort selbst höchstens als malerische Kulisse dient. Es sind Menschen, die es sich gewohnt sind, in globalen Massstäben zu denken. Zusammen «scannen» sie hier den «Business-Horizont», so der Claim der Veranstalter.
Mein eigener Lebenslauf ist leider nicht lange und illuster genug, um zum Stars eingeladen zu werden. Also habe ich mich selbst eingeladen. Weil ich wissen wollte, was diese «Menschen von hoher Qualität», wie sie später einer meiner Gesprächspartner am Stars nannte, dazu bringt, ihre Arbeitsplätze in Bern, Zürich, Shanghai, Hongkong oder Singapur zu verlassen und vier Tage ihrer wertvollen Zeit hier zu verbringen.
Ich durfte teilnehmen, unter der Bedingung, dass ich bei Zitaten weder die Namen von Referenten oder Teilnehmenden noch der ihrer Organisationen nenne («Chatham House Rules»). Was am Stars gesagt wird, bleibt anonym.
@ Robin Kohler
Die Welt retten
«The Change, it’s all in our hands», ruft ein Redner an diesem Sonntagmorgen in Stein am Rhein, während im Hintergrund perfekt platziert eine Hans-Zimmer-mässige Filmmusik zum Crescendo ansetzt. Der Schweizer versucht den Anführern von Morgen sein Charity-Projekt in einem südostasiatischen Land näherzubringen.
Am Abend zuvor hatte ihnen Betrand Piccard, der Schweizer Klima-Abenteurer, erklärt, wie man «eine Brücke zwischen Ökologie und Ökonomie» schlägt. Und anschliessend waren sie von «Mayor Newcome» (Stadtpräsident Peter Neukomm) mit einer «Welcome Speech» begrüsst worden, es gab «Dinner» und einen «Night Cap» an der Bar des Hotels Vienna House in Schaffhausen, wo die Teilnehmenden übernachteten. Am nächsten Morgen dann die Fahrt nach Stein am Rhein mit einem Car, der sie in der Gasse hinter dem Bürgerasyl abgesetzt hatte, ohne dass sie auch nur einen Blick an die Altstadt verschwenden mussten.
Dafür wäre auch keine Zeit geblieben, diese Menschen haben Wichtigeres zu tun. Namentlich: die Welt retten. Das sagt zumindest der menschgewordene White-Saviour-Komplex am Rednerpult. Er hat in Südostasien ein Luxushotel aufgebaut, um den Menschen vor Ort eine Arbeit zu geben. Und eine Schule natürlich, weil Bildung wichtig sei. Man müsse schliesslich ins «human capital» investieren, sonst könne dort nie ein funktionierender Markt entstehen. Um das zu verdeutlichen, lässt er ein Video abspielen, in dem die Kinder seiner Schule mit grossen Augen in die Kamera schauen und Michael Jacksons «We are the World» singen.
«Wow», murmelt die Frau, die neben mir sitzt, und nickt emphatisch.
Aber mit einer Schule und einem Luxushotel gab sich der Mann nicht zufrieden. Weil er ein Künstler sei, habe er auch ein «House of culture and music» bauen lassen, um den Kindern ihre «Wurzeln» zurückzugeben. Dann betont er, dass er zwar ein «tough guy» sei, aber dass er wegen der grossen Verantwortung, die er trage, manchmal nachts weine.
«Amazing», murmelt die Frau neben mir.
Schliesslich setzt der Mann am Rednerpult noch zu einem Rundumschlag gegen staatlich finanzierte Entwicklungshilfe an. Unicef sei «nutzlos», und beim Dezernat für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), hier wechselt er ausnahmsweise auf Schweizerdeutsch, würden nur «Sesselfurzer» arbeiten. Private Initiativen seien viel effizienter. «Verschwendet das Geld nicht», sagt er zum Schluss. «Eure Firmen haben es in der Hand!»
Wiederum ein emphatisches Nicken meiner Sitznachbarin, die sich fleissig Notizen macht. In der Kaffeepause nach dem Referat kommen wir ins Gespräch. Sie wohnt und arbeitet in Singapur, hat dort ein eigenes Medienhaus gegründet. Und sie schreibt Kinderbücher. Zum Beispiel eines, das der Jugend in Ostasien beibringen soll, sich nicht nur über Schulnoten und Leistungen zu definieren.
Dann unterbricht ein älterer Herr unsere Unterhaltung. Er würde sie gerne dem CEO irgendeiner Firma vorstellen, sagt er, und deutet diagonal durch den Raum. Sie verabschiedet sich eilig.
Die Kaffeepause soll nicht ungenutzt bleiben.
Selbstdarstellung
So mitgerissen von der Rede wie die Frau aus Singapur scheint hier kaum jemand zu sein. Doch in der Kaffeepause tauen sie auf, die Anführer. Das «Networking» sei der Hauptgrund, wieso er hier sei, erzählt mir ein junger Versicherungs-Manager aus Hongkong bei einem vom Stars offerierten Silserbrötchen.
Er hat zunächst nur Positives zu sagen zu den Referaten. Als wir auf den ehemaligen General einer westlichen Militärmacht zu sprechen kommen, der uns gerade per Videoschalte den Ukrainekrieg erklärt hat, sagt er, er habe dessen Einschätzungen spannend gefunden. Ich sage, es sei etwas seltsam, wie oft der Militär habe betonen müssen, dass die Nato eine «rein defensive Allianz» sei, obwohl ihm niemand widersprochen hatte. Der Versicherungsvertreter stimmt zu. «Ja, er hat es mindestens einmal zu oft gesagt.»
So wirklich wohl scheint sich hier niemand zu fühlen. Die heiklen Themen spricht man lieber nicht von sich aus an. Man gibt sich interessiert, probiert sich vorteilhaft zu präsentieren.
Später sehe ich den Versicherungsmann, am Rhein ausser Sichtweite der anderen Teilnehmenden eine Zigarette rauchen.
Die «Networking Coffees», die als feste Programmpunkte zwischen den Referaten eingeplant sind, erinnern an Speed-Dating. Man versucht offenbar, möglichst viele Kontakte zu knüpfen. Idealerweise natürlich nicht mit dem schlecht angezogenen Regionaljournalisten im Raum.
Durch genug Aufdringlichkeit gelingt es mir, einen jungen Kader aus der Flugbranche ins Gespräch zu verwickeln. Er sehe das Stars als eine Art Weiterbildung, sagt er. Ob er denn auch die Welt retten wolle, frage ich. Nein, ihm sei bewusst, dass das hier «ein Elfenbeinturm» sei, und dass die Realität, zurück am Arbeitsplatz, wieder eine ganz andere sein werde. Schlussendlich gibt er zu, dass es auch ihm vor allem um die internationalen Kontakte gehe. Dann erklärt er mir, wieso Langstreckenflüge nie dekarbonisiert werden könnten, wie man einen Markt für synthetisches Kerosin aufbauen könnte und was es dafür für Regulierungen bräuchte.
Also doch bisschen die Welt retten, und ganz viel Networking. Aber wozu eigentlich? Diese Menschen sehen nicht aus, als bräuchten sie demnächst einen neuen Job. Sie sind zwar relativ jung (zwischen 30 und 40), aber haben sich in ihren Unternehmen bereits etabliert. Was bringt es ihnen, sich mit Menschen aus anderen Branchen zu vernetzen? Und was machen eigentlich all diese weisshaarigen Männer zwischen den Jungspunden? «Leaders of tomorrow» sind sie beim besten Willen nicht.
Ich würde noch einen Tag unter den Hochleistungsmenschen verbringen müssen, um dieses Konstrukt zu verstehen.
Machterhalt
Am Montag geht das Symposium im Konferenzsaal des Hotels Vienna House in Schaffhausen weiter. Den Morgen füllt eine Abfolge von «Lessons in Global Leadership», unter anderem vorgetragen von Arbeitgeberverbands-Präsident Valentin Vogt. Zusammenfassung: Alles ist entweder eine «Risk» oder eine «Opportunity» oder beides zugleich. Dann folgen sogenannte «Leadership Dialoges» in Kleingruppen, bei denen ich nicht dabei sein darf.
Beim Mittagessen, einer Art «Networking Coffee» aber gemütlicher, darf ich wieder mitmachen. Und prompt setzt sich einer der älteren, weisshaarigen Männer zu mir an den Tisch. Er erzählt mir schmatzend und auf Schweizerdeutsch von seiner Karriere in Südamerika und Asien, nicht ohne da und dort ein paar rassistische Stereotype einfliessen zu lassen.
Die älteren Teilnehmer scheinen um einiges entspannter zu sein als die Jungen. Sie sind entweder «Board-Members» oder Berater des Symposiums oder der «Partner», also der Firmen, die dieses finanzieren.
Das Stars sei keine Job-Börse, bestätigt mir der Weisshaarige, dafür gebe es andere Veranstaltungen. Die Teilnehmenden am Stars würden von ihren Vorgesetzten in der eigenen Firma nominiert, nur die besten Mitarbeitenden dürften kommen. So könne man gewährleisten, dass die «Qualität der Menschen» am Symposium hoch bleibe. Denn «schlechte Menschen» würden einen «Gesichtsverlust» für das Stars bedeuten. Auf Nachfrage, was denn «schlechte Menschen» ausmache, schweift er ab.
Aber um Menschen scheint es hier am Symposium sowieso nur am Rande zu gehen. Nicht einmal um Karrieren. Das Stars ist ein Mittel, das sich grosse Firmen leisten. Um ihre fleissigsten Mitarbeitenden zu belohnen und zu gewährleisten, dass das Unternehmen auch zukünftig Zugang zu denselben elitären Kreisen hat wie bisher. Und um dem vielversprechendsten «human capital» das Gefühl zu geben, es rette die Welt, während es wohl oft ziemlich genau das Gegenteil tut.
Der Appetit ist mir mittlerweile vergangen, und ich beschliesse, den eigentlich spannend klingenden Vortrag am Nachmittag über die Zukunft von Robotern sausen zu lassen.