Die Monster vom Rheinfall

12. September 2022, Sharon Saameli
Gigax links, sodann Remo Keller und Roman Maeder und ganz rechts Kooni. Fotos: Robin Kohler
Gigax links, sodann Remo Keller und Roman Maeder und ganz rechts Kooni. Fotos: Robin Kohler

Aller Anfang ist Karton: Kooni, Milk + Wodka und Gigax im Gespräch über Silikon, Prekarität und widerständige Freunde.

Es ist kein gewöhnlicher Sonntag am Rheinfall. Inmitten des touristischen Juwels dieses Kantons hat eine Biester-Parade die Macht an sich gerissen: Katzen mit scharfen Zähnen und Klauen erklimmen Hochhäuser, Skelette räkeln sich auf einem Bett, eine Babushka droht mit vergifteter Milch, ein Fuchs jagt einen Jagdhund, eine grimmige Kreatur ist «immer noch sauer», und in alldem kämpfen zwei Bestien miteinander, oder vielleicht umarmen sie sich auch.

Die Kreaturen, die hier im Reigen tanzen, entstammen den Köpfen und Händen vierer Menschen: Roman Maeder und Remo Keller, bekannt als Milk + Wodka; Kooni, die der AZ-Leserinnenschaft von Monatsrückblicken und Wimmelbildern bekannt ist, sowie von Gigax aus Zürich. Und die Tanzhalle für den Reigen ist die Galerie Reinart. Auch das ist kein Zufall. An diesem Sonntag ist Vernissage, und Christian Erne, Leadsänger der Punkband Grüze Pack, hält eine kurze Ansprache: Hier treffe das Lumpenproletariat der Kunst auf den Rheinfall, man müsse kämpfen für einen Raum wie diesen, sich auflehnen gegen den Kommerz, die etablierte Kunstwelt. Auch die Existenz der Galerie Reinart ist gefährdet, seit sie diesen Sommer unbegründet die Kündigung erhalten hat (s. AZ vom 9. Juni 2022).

Als die Vernissage am späteren Nachmittag im Abklingen begriffen ist, setzen sich die vier Kunstschaffenden auf eine Bank. Während rundherum Touristen Glace schlecken und Kameraobjektive schwingen, beginnen wir zu reden.

Christian Erne sagte in seiner Ansprache: «Eine andere Kunst ist möglich und muss möglich sein.» Er meinte damit euch. Warum ist eure Kunst anders, in Abgrenzung wozu?

Kooni Es ist Kunst, wie man sie nicht auf dem Kunstmarkt findet. Sie ist nischig, und das ist eine Entscheidung, die wir alle getroffen haben. Wir fragen uns: Worauf haben wir selber Bock? Ich glaube, dass eine kommerzialisiertere Kunst viel mehr Kompromisse mit sich bringen würde. Aber: Diese Entscheidung gegen diese Kompromisse bringt auch viele Opfer. Es ist einfach nicht wahnsinnig gut bezahlt.

Remo Genau, die Preise unterscheiden sich auch. Bei uns gibt es drei Nullen weniger.

Roman Ich denke, die Umstände und Umfelder, in denen wir uns bewegen, sind andere. Ich sehe darin einen Versuch, eigenständig zu sein und etwas Besonderes zu machen. Ich weiss nicht, ob das jedes Mal gelingt, aber das ist sicher mein Antrieb: visuell und inhaltlich zwischendurch, nebendran, von unten herauf Kunst zu machen.

Gigax Das ist eine schöne Beschreibung. Mir haben viele Leute gesagt, ich müsse aufhören, mit Karton zu arbeiten. Das würden nur Art-Brut-Künstler tun, die Leute in der Psychiatrie (Art Brut ist ein Sammelbegriff für Kunst von Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder einer geistigen Behinderung, Anm. d. Red). «Hör einfach auf mit diesem Trash», hiess es. Dabei finde ich Trash gut! Ich mag, dass der Karton keine perfekte Oberfläche hat, sondern Runzeln und Flecken. Er hat schon eine Gebrauchsgeschichte und ist nicht so aalglatt wie Silikon oder Stahl – oder schon eine Leinwand. Derzeit sieht man einfach so viel Silikon.

Ausschnitte aus den Werken von Kooni …
… und Milk + Wodka

Ist es also eine Abgrenzung von Hochglanzmagazinen, vom Polierten und Kommerzialisierten, die eure Arbeiten verbindet?

Kooni Ich bin nicht sicher, ob wir uns so aktiv dafür entschieden haben. Es ist einfach passiert.

Roman Das glaube ich auch. Man ist Fan von Freaks, fühlt sich wohl mit komischen Leuten, liebt seltsame Kunst. Dann ist es schon geschehen. Aber ich bemühe mich nicht, als Künstler kommerziell erfolgreich zu sein – das könnte man aber machen. Darum ist es vielleicht eben doch eine bewusste Entscheidung.

Kooni Klar, gerade bei Aufträgen fällt man immer wieder Entscheidungen. Und bei gewissen Kulturinstitutionen springt dann relativ wenig Geld raus. Aber für Clubs wie das TapTab, das ich sehr gerne mag, zeichne ich viel lieber als für eine Werbeagentur.

Wie ist denn Kunst ausserhalb des Kunstmarktes möglich? Seid ihr so nicht automatisch Teil dieses Systems?

Kooni So oder so jonglieren wir ja tausend Dinge. Eine Ausstellung wie hier, in der Reinart, ist für uns alle ein Bonus, das machen wir neben vielem anderen. Ich mache nebenher ja auch Tätowierungen und erfülle verschiedenste Aufträge.

Roman Wir haben unsere Musik: Remo und ich spielen beide in Bands, wir haben Nebenjobs und viele andere Projekte. Das ist eine Überlebensstrategie.

Gigax, was sind deine Überlebensstrategien?

Gigax Offenbar gehen wir alle ähnlich damit um. Wir können keine finanziellen Luftsprünge machen, müssen uns beschränken. Das finde ich teilweise schon schwierig. Bis ich den Aufsichtsjob im Museum hatte, kam bei mir gar kein fixer Lohn rein. Das hat gestresst. Die Arbeit mit Karton kam sicher auch aus der Not heraus – ich konnte mir einfach keine Leinwand und keine Ölfarben leisten, die habe ich jeweils zu Weihnachten geschenkt bekommen.

Roman Ja, weil das Budget oft beschränkt ist, muss man improvisieren. Dass wir für diese Ausstellung einen Transport per Auto hatten, war für uns bereits Luxus. Meistens verpacken wir die Werke wetterfest und so, dass wir sie zu zweit mit dem Zug transportieren können.

Kooni Früher habe ich das auf jeden Fall als Chrampf wahrgenommen. Kein fixer Lohn, und trotzdem musste die Miete bezahlt werden, das Handy, die Krankenkasse. Um mit dieser Unsicherheit jahrelang klarzukommen, braucht es nebst Spontaneität auch ein grosses Selbstbewusstsein.

Wie lange hält man das aus?

Gigax Im Endeffekt kommt es nicht darauf an, wie viel Stutz du hast, sondern wie gern du es machst. Sonst hast du den Biss nicht. Vielleicht ist Strategie einfach, sich durchzuwursteln und spontan zu bleiben.

Roman Ehrlich gesagt fällt mir das nicht immer wahnsinnig leicht. Musik machen, Malen: Das ist viel und es ist verwirrend und mühsam und braucht Organisation. Aber ich kann auch nicht aufhören oder mich für das eine oder andere entscheiden. Und manchmal macht es mir auch wieder Spass, das ist definitiv wichtig.

Remo Klar, sonst würden wir das schon lang nicht mehr machen.

Kooni Bei mir hat sich das in den letzten zwei Jahren verändert. Die Aufträge sind stabiler und mein Puffer dadurch viel grösser geworden … Seltsamerweise macht mich auch das unruhig. Jetzt kommen einfach andere Struggles, Steuern zum Beispiel.

Die materiellen Umstände verändern das kreative Schaffen.

Kooni Logisch. Ich habe lang auf Karton oder Altpapier gearbeitet. Für meine Bachelorarbeit musste ich ein Budget schreiben, es waren 750 Franken drin. Meine Mentorin meinte nur: «Spinnst du?» Dabei war mir klar, dass ich ohnehin alles aus dem Abfall hole. Ich hätte früher viel länger rumstudiert, ob ich mir jetzt diese Tattoomaschine kaufen soll oder ob ich mir den teuren Pinsel leisten kann. Das ist heute anders.

Roman Vielleicht ist auch das ein gemeinsamer Nenner von uns vier. Auch Remo und ich haben mit Karton begonnen. Weil die aber mit der Zeit kaputt gehen, haben wir auf Leinwand gewechselt. Nicht nur, weil die Leute Langlebigkeit schätzen, sondern weil ein weisser Hintergrund praktischer ist für die leuchtenden Farben, mit denen wir arbeiten. Den braunen Karton mussten wir erst grundieren, und da hat er sich bereits gewellt. (lacht)

Wie kam es denn, dass ihr zusammen ausstellt?

Kooni (zu Remo und Roman) Das müsst ihr beantworten, ihr habt uns ja angefragt. Aber Milk + Wodka waren für mich schon immer riesige Vorbilder. Darum habe ich nur geantwortet: Geil, ja!

Roman Und Gigax hat genau gleich reagiert. Dann war für uns auch schon klar, dass es stimmig ist.

Gigax Mir wurde nahegelegt, mir deine Arbeit anzuschauen, Roman. Jemand sagte: «Der macht auch so Zeug, so bunte Monster.» Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf.

Seht ihr auch inhaltliche Gemeinsamkeiten?

Kooni Mich interessiert die Kombination aus einem Bild und einem Satz. Ein Witz neben einer Zeichnung ergibt sofort eine neue Ebene. Das ist bei Milk + Wodka auf jeden Fall auch so. Gigax kannte ich vorher nicht, aber die Parallele mit dem Karton ist mir aufgefallen. Und jetzt passt es einfach zwischen uns.

Roman Und dann haben wir natürlich die Monster gemeinsam, die Fabelwesen. Und die Freude am Basteln: Als ich das Monster-Mobil sah, kam mir in den Sinn, dass wir schon ganz ähnlich gearbeitet haben. Diese Verbindungen sitzen tief, obwohl wir alle einen anderen Hintergrund haben.

In der Eröffnungsrede hiess es: Gigax macht Monster, weil Gigax Monster machen muss.

Gigax Das habe ich nicht so gesagt. Aber als er es gesagt hat, fand ich: Das passt eigentlich.

Wer sind diese Kreaturen?

Gigax Sie sind weder Mann noch Frau, weder Tier noch Mensch, sie sind fantastisch und trotzdem echt. Das ist visuell spannend für mich – und ab und an auch ein emotionaler Prozess. Nicht unbedingt im Schlechten. Die Monster sind widerständige, rebellische Freunde, die ich mir so erträume. (lacht laut)

Kooni Wenn ich zeichne, überlege ich nicht, ob ich einen Fuchs male oder ein Wesen mit Hörnern. Ich suche vielmehr nach einem Ausdruck. Manchmal reichen dafür eine Linie fürs Maul und zwei Punkte für die Augen, und der Ausdruck sitzt. Und manchmal malt man tausend Linien, und auf dieser Suche passiert ganz viel nebenher. Dann ist die Ausbeute, die schliesslich an der Wand hängt, das Ergebnis dieser Ausdruckssuche.

Gigax Für mich sind es richtige Charaktere geworden. Ich schaue sie mir an, und manchmal denke ich: Oh, der sieht jemandem, den ich kenne, total ähnlich.

Remo Ein Porträt!

Gigax Ja, aber wenn du das den Leuten sagst, sind sie so irritiert!

Roman Bei mir, bei uns sind die Monster auch Ausdruck eines Experiments. Wir setzen bestehende Figuren neu zusammen, vermischen Geschlechter und andere Merkmale und erfinden dadurch etwas Neues. Das ist grafisch wie symbolisch spannend. Oft frage ich mich erst im Nachhinein, was das jetzt bedeutet.

Die Monster sind also nicht per se gefährlich, kein Alptraum, sondern etwas viel Verspielteres, Spontanes.

Kooni Ich nenne sie ja viel eher «Viechli». Und die können positiv wie negativ sein, wie Menschen auch.

Gigax Eine Serie bei mir hiess «Creatures», Kreaturen, eine andere «Biester». Das Biest gefällt mir besonders. Oft sagt man ja von weiblich sozialisierten Menschen, sie seien «so ein Biest». Die hat Haare auf den Zähnen! Das ist doch cool. Sie haben scharfe Krallen und Zähne, sie können sich wehren und sind widerständig. Aber sie können auch sehr gesellig sein.

Roman Unsere Figuren haben manchmal auch scharfe Zähne. Bei Remo ist die Mimik oftmals noch etwas grimmiger.

Kooni Was sagt das wohl über euch beide aus, über euer tiefstes Inneres? (lacht)

Roman Das sind eben die grossen Fragen. Aber wie gesagt: Die Monster sind nicht nur fies. Sie sind auch Freunde.

Gigax Lustig: Wir alle suchen nach Ausdruck und Mimik in den Gestalten. Irgendetwas verarbeiten wir damit ja vielleicht schon.

Die Ausstellung «Arts Not Dead» im Neuhauser Kunstraum Reinart dauert bis zum 9. Oktober, offen ist sie samstags und sonntags, 16 bis 18 Uhr, oder auf Anfrage. In der Museumsnacht, am 17. September zwischen 17 und 24 Uhr, gibt es zudem eine Midissage mit Live-Musik.