Methusalem

15. August 2022, Marlon Rusch

Die Schüppel-Eiche in Ramsen ist der älteste Baum der Region. Sie hat ein ganzes Dorf geprägt. Und umgekehrt.

Die Schüppel-Eiche wurde in turbulente Zeiten hineingeboren. Als sich ihr Spross einige hundert Meter nördlich des Dorfs Ramsen durch die Erde kämpfte, hatte Bischof Ulrich III. von Konstanz gerade die Pfarrei Ramsen dem Kloster St. Georgen in Stein am Rhein einverleibt. Das Kloster war heilfroh um den Fruchtzehnten von 267 Malter, den die Ramser in der Folge abzugeben hatten (ein Malter glatte Frucht entsprach damals 130 1/6 Litern). Im Gegenzug stand das Dorf fortan unter dem Schutz der mächtigen Österreicher. Man schrieb etwa das Jahr 1360, es sollte noch weit über hundert Jahre dauern, bis Kolumbus Amerika entdeckt, doch der Baum dürfte sich schon damals so wenig um geopolitische Petitessen geschert haben, wie er es heute tut.

Die Schüppel-Eiche ist über 650 Jahre alt. Sie ist Schaffhausens ältester Baum. Für die Ramserinnen aber ist sie mehr als das. Für sie ist die Eiche Identität, Konstante, gemeinsamer Nenner. Um den Baum ranken sich zahlreiche Legenden. Es beginnt bereits bei den Begrifflichkeiten.

Einst soll in der Gegend ein Edelfräulein gelebt haben, das über riesige Ländereien verfügte. Da das Fräulein kinderlos blieb und einen Dorf-Oberen gut leiden konnte, versprach sie diesem vor ihrem Tod, die Ramser sollen von ihren Gütern «au en Schübel» bekommen. So sei das rund 50 Hektaren grosse Stück Laubwald mit Buchen und Eichen am Ramser Dorfrand, heute kein Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, zu seinem Namen gekommen: Schüppelwald.

Beim Zahnarzt

Die Schüppel-Eiche gedieh prächtig. Wie fast alle Bäume, die ein greisenhaftes Alter erreichen, steht sie nicht direkt im Wald, wo sie von allen Seiten von anderen Bäumen bedrängt worden wäre. Am äussersten Waldrand, gewissermassen als Vorposten, konnte sie über all die Jahre geruhsam in die Breite gehen.

Eines Tages erreichte der Baum eine würdige Statur und strahlte derart viel Autorität aus, dass man begann, den Platz «unter der Eich» als Gerichtsstätte zu benutzen. Wenn sie einen Streit beizulegen hatten, kamen die Ramser hierher, zur Schüppel-Eiche.

Irgendwann bekam der Baum einen weiteren Namen: Zigeuner-Eiche. Der Wald hat eine lange Tradition als Zufluchtsort, sei es für Fahrende oder für Geflüchtete während des Zweiten Weltkriegs. Einer von ihnen bezeichnete den Schüppel in seinen Erinnerungen als «Wald der Menschlichkeit». 1870 soll ein Lagerfeuer die Eiche angebrannt haben, worauf sich im Stamm ein Hohlraum bildete, in dem Ramser Schulkinder ihre Schulhefte verbrannt haben sollen. 1906 liess die Gemeinde den hohlen Stamm zumauern wie einen faulen Zahn, den man plombiert. Die Baumärzte orientierten sich am Menschen. Dabei funktioniert bäumische Anatomie nach ganz anderen Regeln.

Ein Baum in mehreren Klimazonen

Die Schüppel-Eiche ist eine Erscheinung. Heute steht man vor einem Urzeitmonster mit einem Stammumfang von bis zu 6,8 Metern, übersät von Knollen, Wucherungen, Rissen und Moos. In der Krone weist der Baum zwar einige tote Äste auf, doch jetzt, im Sommer, hat die Sonne den Baum wie jedes Jahr aufs Neue lebendig gemacht, er treibt aus, frische Blätter wachsen, weich und grün. Die Schüppel-Eiche steht auch 2022 in ihrer ganzen Pracht.

Anders als ein Mensch ist ein Baum alt und jung zugleich, er stirbt und lebt, baut ab und baut auf. Dadurch, dass sich Bäume nicht drehen und verschiedene Seiten verschiedenen Witterungen ausgesetzt sind, können sie gewissermassen gleichzeitig in verschiedenen Lebensräumen gedeihen. Ein halbes Jahrtausend Sonne oder Schatten – sowas hinterlässt Spuren am Baum. Als die ZEIT vor einigen Jahren eine alte Linde porträtierte, schrieb der Reporter: «Als Mensch wäre die Linde ein Neunzigjähriger, dessen linkes Bein verfault und der sich am rechten Bein die Muskeln seiner Jugend antrainiert.»

Die Schüppel-Eiche hat als Stieleiche eine Lebenserwartung von bis zu 1000 Jahren, in Ausnahmefällen können Stieleichen gar bis zu 1400 Jahre alt werden. Und mit ihrem bereits hohen Alter ist die Eiche in Ramsen auch besser auf den Klimawandel vorbereitet als jüngere Bäume. Über die Jahrhunderte hat sie üppige und dürre Jahre erlebt, diverse Warm-kalt-Wechsel. Sie hat gelernt, mit Krisen und Extremsituationen umzugehen, sie ist zur Überlebenskünstlerin geworden. Gut möglich, dass sie noch einige hundert Jahre hier steht.

Vor rund 150 Jahren setzten die Ramserinnen und Ramser um die Schüppel-Eiche drei Linden. Sie sollten als Ersatz dienen, sollte die Eiche eines Tages nicht mehr da sein. Heute haben auch die Linden bereits ein stattliches Alter erreicht.

Gnädingers Kraftort

Wie wir seit dem ersten Teil dieser Sommerserie über Schaffhauser Bäume wissen («Lindieren», siehe Box am Ende des Texts), verkörpert die Linde das Weibliche, das Behütende, sie steht für Gerechtigkeit, Geborgenheit, Gemeinschaft. Die Linde ist gewissermassen eine Bäumin. Die Eiche ist ihr Gegenstück. Sie verkörpert das Männliche, sie hat hartes Holz, ist unverrückbar, der heilige Baum des Göttervaters Zeus, allein in Europa Nationalsymbol von mehr als einem Dutzend Staaten.

Kein Zufall, ist die Schüppel-Eiche ein Sehnsuchtsort von starken, ausschweifenden Männern.

Der Schauspieler Mathias Gnädinger aus Ramsen kam bis zu seinem Tod 2015 hierher, um seine Texte zu üben. Er sass da, tigerte umher, fluchte, beruhigte sich wieder. Die «Schüppel-Ooch», wie die Einheimischen den Baum nennen, war Gnädingers Kraftort. Schon sein Onkel, der verstorbene Maler Josef «Seppel» Gnädinger, malte den Baum wieder und wieder. Der eine operierte hier beim Schüppel-Wald mit sonorer Stimme, der andere mit ausladendem Pinselstrich.

Doch die Gnädingers, Ramsens wohl berühmteste Exportgüter, haben den Baum nicht für sich gepachtet.

An einem Montag Anfang August wartet Hansueli Holzer bei der Schüppel-Eiche, ein quirliger Mann von 75 Jahren. Der Künstler hat den Baum immer wieder gemalt, seit er ihn vor 45 Jahren «kennengelernt» habe. Mit feinem Pinselstrich, was Kollege Seppel Gnädinger zeitlebens nicht verstehen konnte. Und fein ist auch Holzers Stimme, als er erzählt, wie er den Baum über die Jahre nicht nur malte, sondern immer wieder auch verletzte – um der Schüppel-Eiche Gutes zu tun.

Der Medizinmann

Holzer fand, es sei schade, dass der Hohlraum im Stamm der Schüppel-Eiche zugemauert worden war. Also schnitt er den Baum beim Eingang in den Hohlraum immer wieder an, auf dass sich dieser selber regenerieren möge. Holzer geht auf die Knie und zeigt, wie er nur das Kambium verwundete, die Gewebeschicht direkt unter der Rinde, gewissermassen die Schaltzentrale, die für das Wachstum des Baumes zuständig ist.

Vielleicht hat es tatsächlich mit Holzers ständigen Interventionen zu tun, dass die ­Eiche angefangen hat, das Mauerwerk langsam zu verinnerlichen.

Und wie man so da steht, unter diesem ­Giganten, würde man gern wissen, was er sonst noch alles verinnerlicht hat – abseits der bekannten Geschichten. In den über 200’000 Tagen, an denen er nun bereits hier steht. An der Peripherie des Dorfes Ramsen. Und doch mitten in seinem Zentrum.

Baumgeschichten
Bewundert, bewirtschaftet, emotionalisiert, entstellt: In unserer Sommerserie begeben wir uns auf die Suche nach besonderen Bäumen.
Folge 1: Tanzlinde
Folge 2: Affenbaum
Folge 3: Mammutbaum
Folge 4: Haselnussbaum