Die Haselburg

9. August 2022, Kevin Brühlmann

Als Kind liebte ich Bäume. Vor allem den Haselnussbaum. Er brachte mir die Welt näher. Oder die Erkenntnis, wie klein eine Welt sein kann.

Der Haselnussbaum war meine Burg. Er war weder besonders gross noch besonders klein und weder schön noch hässlich. Er trieb Dutzende Stämme aus dem Boden. Die einen ragten dick und knorrig in die Höhe, die anderen dünn und gerade, etwas wirr und ohne ersichtliche Ordnung, wie wenn sich ein Bub die Haare mit Gel aufrichtet. So ähnelte der Hasel zwar einem Strauch, war aber doch ein Baum.

Wir begannen, ein Baumhaus zu errichten. Den Boden schnürten wir aus Ästen zusammen, wie bei einem Floss. Auch die Leiter bauten wir aus Ästen. Für die Wände organisierten wir uns Bretter aus Sperrholz. Von meinem Vater lieh ich eine Stichsäge aus und schnitt Fenster und eine Tür aus. Nach wenigen Tagen hatten wir ein halbes Haus mit halbem Dach, und so blieb es in den kommenden Jahren, bis die Wände aufgeweicht und schief waren und der Boden morsch.

Der Haselnussbaum befand sich auf der zur Strasse hingewandten Seite des Hauses, in dem ich aufgewachsen bin. Die Strasse markierte eine Grenze, die dem Hasel nichts sagte, er wuchs, wohin er wollte, und so lernte ich, was die Gemeindeordnung ist. Wir erhielten einen Brief vom Bauamt, worin es hiess, Pflanzen dürften Nullkommanull Zentimeter auf die Strasse ragen. Mein Vater sägte ein paar Äste des Hasels ab. Der Baum sah nun etwas schief aus.

*

Irgendwie schmerzte es mich, den Hasel zu verletzen. Beim Klettern hatte ich jeden Zentimeter erkundigt, so weit mich die Äste trugen. Und sie trugen mich weit. Von meiner Haselburg aus hatte ich die Welt im Blick. Die Strasse, wo die grossen Jungs mit ihren frisierten Mopeds vorbeirasten, um die grossen Mädchen zu beeindrucken, das Küchenfenster mit dem Dampfabzug nebenan, die mir sagten, was es zu essen geben würde, den Briefkasten, den Himmel, die Lastwagen, die zur Druckerei nebenan fuhren, und die Katzen, die sich erbitterte Kämpfe um ihr Revier lieferten.
Überhaupt liebte ich es als Kind, auf Bäume zu klettern; je mehr die Menschen unten schrumpften, desto grösser wurde ich. Im Wald suchte ich mir oft einen jungen, dünnen Baum und kletterte so weit hoch, bis er sich zu biegen begann, und dann noch ein Stückchen weiter, einen oder zwei Meter vielleicht, worauf ich, fest an den Stamm geklammert, wie in Zeitlupe der Erde entgegenschwebte. Meine Füsse landeten sanft auf dem Boden. Wenn ich den Baum losliess, schnellte er wie ein Katapult zurück. Bald ragte er wieder so gerade und unversehrt in die Höhe, wie ich ihn angetroffen hatte.

Noch heute kann ich unendlich weit auf Bäume hochklettern, aber beim Besteigen einer Felswand macht sich schon nach zwei Metern ein mieses Gefühl im Magen breit.

Eines Nachts musste ich um den Hasel fürchten. Ein alter Bauer fuhr mit seinem Traktor in unser Gartentor, das von zwei kleinen Zementsäulen umrandet war. Wie der Bauer später der Polizei sagte, sei er auf dem Nachhauseweg gewesen, als er habe niesen müssen, worauf er sein Gebiss verloren habe. Als er nach den Zähnen tastete, zwischen Gas- und Bremspedal, habe er die Kontrolle über den Traktor verloren und sei ins Gartentor gekracht. Das war die offizielle Version der Geschichte, und soweit ich weiss, gab sich die Versicherung damit zufrieden; bei der inoffiziellen stand eine Beiz am Anfang. Jedenfalls war der Traktor hin-
über. Viele Liter Öl liefen in unseren Garten aus. Zwei Quittenbäume, die das Gartentor säumten, musste man fällen und einige Kubikmeter Erde ausheben. Aber der Hasel kam davon, und ich war glücklich.

*

Gleich hinter dem Hasel stand ein Lattenzaun, der unseren Garten vom Garten des Nachbarhauses trennte. Die Nachbarn, ein Mann und eine Frau, verheiratet, erschienen mir ab der ersten Begegnung alt und grau, obwohl sie damals kaum fünfzig gewesen sein mussten. Ihr Garten glich einem Schachbrett, das ständig poliert und nie benutzt wird. Wenn sie in die Ferien fuhren, einmal im Jahr Italien, beluden sie den Kofferraum mit Brot, Butter und aufgeschnittenen Wurstwaren für zwei Wochen, denn sie kannten ja die Italiener.

Der Haselnussbaum wuchs in die Ordnung der Nachbarn hinein. Ein paar Äste berührten beinahe ihre Dachrinne. Mein Vater und ich sägten recht viele Äste und auch ein paar der Stämme ab. Nun sehe der Hasel aus, sagte mein Vater, als habe ihm Straci die Haare geschnitten – Straci war der frühere Dorfcoiffeur, und bis heute, viele Jahre nachdem er seinen Salon aufgegeben hat, erzählen wir uns die Geschichte meines Onkels. Der Onkel, noch ein Kind, wurde von seiner Mutter, meiner Grossmutter, zum Haareschneiden verdonnert. Widerwillig suchte er Straci auf. «Wie willst dus?», fragte Straci. «Vorne so lang», sagte mein Onkel und zeigte mit seiner Hand knapp über seine Augen, «hinten so lang», er fuhr mit der Hand den Hinterkopf hoch, «und in der Mitte eine Treppe.» «Sowas mache ich sicher nicht!», rief Straci beleidigt. Mein Onkel: «Aber letztes Mal hast du mir die Haare auch so geschnitten.»

Immer mal wieder reklamierten die Nachbarn, der Hasel komme ihrem Haus zu nahe. Immer mal wieder, meistens nach der zweiten oder dritten Ermahnung, stutzten wir den Baum zurecht. Mit der Zeit nahmen die Reklamationen aber ab und der Umfang des Hasels zu. Irgendwann, so glaube ich zumindest, gaben es die Nachbarn auf. Es war ein Sieg gegen die Ordnung. Nur das Bauamt blieb weiter hartnäckig.

Schon lange wohne ich nicht mehr im Haus mit dem Haselnussbaum. Doch wenn ich daran vorbeispaziere, was dann und wann vorkommt, schaue ich mir den Hasel genau an. Beim letzten Mal kam er mir jünger und wilder vor als je zuvor.

Baumgeschichten
Bewundert, bewirtschaftet, emotionalisiert, entstellt: In unserer Sommerserie begeben wir uns auf die Suche nach besonderen Bäumen. .
Folge 1: Tanzlinde
Folge 2: Affenbaum
Folge 3: Mammutbaum