Wenn ich den See seh, brauch ich kein Meer mehr

8. August 2022, AZ-Redaktion

Die Weltlage verbietet Flugreisen nach Hawaii. Doch liegt das Gute nicht sowieso viel näher? Marlon Rusch und Matthias Perrin auf der Suche nach der Riviera des Nordens – am Bodensee.

Uwe Poisel hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Der Sparkassenfachwirt war 13 Jahre lang stellvertretender Bürgermeister der baden-württembergischen Gemeinde Uhldingen-Mühl­hofen, einem staatlich anerkannten Erholungsort am Bodensee. An diesem Samstagnachmittag Ende Juli steht er auf der grossen Bühne des 40. Uhldinger Hafenfestes. Poisel moderiert die Preisverleihung der traditionellen Schrottregatta, sein Publikum hat bereits ordentlich Grauburgunder und Pils getankt, Poisel hat es spielend im Griff.

Zuerst vergibt er einen Sonderpreis an ein Boot, das spontan und ausser Konkurrenz bei der Regatta mitgefahren ist, ein Weidling ohne Motor: «Der Preis geht an zwei Jungs, die in einem Alter sind, wo man normalerweise nach Malle geht zum Ballermann, sich die Birne vollhaut und irgendwie nach Mädels Ausschau hält», sagt der Moderator. «Aber die zwei machen einfach zehn Tage Urlaub am Bodensee auf einem historischen Schiff. Das ist gigantisch!» Die Menge johlt und Poisel übergibt uns zwei Flaschen Bodensee-Secco «fruchtig & beerig».

Nun ist das natürlich eine schöne Geste, doch sie macht auch nachdenklich. Denn gerade deutet vieles darauf hin, dass eine derartige Reise am Bodensee im Grunde nicht ­«gigantisch» sein sollte, sondern die neue Normalität.

Klima, Covid, Krieg – wir leben in einer multiplen Krise. Gleichzeitig ist Ferien, und die Gewohnheit treibt uns in den Süden, an die Strände Frankreichs oder Italiens, nach Griechenland oder Kroatien. Fliegen aber ist tabu, die Corona-Sommerwelle macht Züge zur Gefahrenzone, und in Spanien werden neuerdings Temperaturen von 47 Grad gemessen.

Eine Zwickmühle.

Wobei: Liegt die Lösung nicht eigentlich direkt vor unserer Haustür? Der Bodensee, Landesgrenze dreier Staaten. Die Deutschen nennen ihr grösstes Binnengewässer mit einer Länge von 63 Kilometern, einer Tiefe von bis zu 250 Metern und einer Fläche von 536 Quadratkilometern auch liebevoll ­«Schwäbisches Meer».

Wir wollen den Test machen: Taugen die Bodenseeküsten zur ­Riviera? Bieten sie gar Qualitäten, die Ipanema und St. Tropez vermissen lassen? Schaffen sie es, in uns echte Ferienstimmung zu wecken?

Protokoll einer Erkundungstour – von Schaffhausen bis Überlingen.

Anpirschen
Schon zehn Kilometer östlich von Schaffhausen, im ­Gailinger Strandbad, kommen erste Feriengefühle hoch. Alles ist grösser als in den heimischen Badis, die Liegewiese, die Essensportionen, die Menschen, die sie verschlingen. Nur die Preise sind tiefer, und wir machen erste Bekanntschaft mit der süddeutschen Schorlekultur, die uns die kommenden Tage begleiten wird. Gibt es ein besseres Sommergetränk als kalte Johannisbeerschorle? Wir fragen uns, wieso es sowas in der Schweiz nicht gibt. Und vielleicht ist diese Frage bereits eine erste Antwort auf unsere Leitfrage. Der Retsina aus den Trauben von Dimitrios, dem Inhaber des romantischen Strandrestaurants auf Samos, schmeckt auch nur dort so gut, mit Salz im Mund und dem Sonnenuntergang vor der Linse.

Weitere zehn Kilometer östlich, in Stein am Rhein, wird die Welt grösser. Es gibt hier einen echten Hafen, auch wenn die Boote noch Namen wie «Rhybueb» tragen. Wir versuchen uns vorzustellen, wie Orte wie die Bibermühle oder die Klosterinsel Werd auf uns wirken würden, kämen wir als Touristen in die Gegend. Malerisch am Fluss gelegen, gespickt mit gut erhaltenen Mittelalter- und Renaissancebauten, sauberes Wasser, keinerlei Müll, fast keine Menschen.

Wir haben zwar das Büchlein «Ferienmüde» des Historikers Valentin Groebner an Bord, der schreibt, Tourismus sei eine «Rückkopplungsschleife der eigenen alten romantischen Versprechen auf Besichtigung des Echten». Doch wir kommen nicht drum herum: Die Bibermühle ist nicht genug, uns dürstet nach unbekannten Gewässern.

Medusen des Bodensees
Eingangs Untersee, am Hafen von Mammern, blitzt auf einmal die Kindheit auf. Als wir an einem gleissend hellen Nachmittag am Schiffssteg vorbeirudern, linsen wir neben dem weissen Ortsschild in eine kleine Kiesbucht hinein. Dort staksen zwei Buben mit runden Frisuren und Steckenbeinen durch das 25-grädige Wasser und türmen Seegras zu mächtigen Haufen auf. Die Haufen reissen uns in die Vergangenheit.

Es muss vor etwa 25 Jahren gewesen sein, als einer von uns, Steckenbeine und runde Frisur, mit der Familie auf die Insel Elba in die Strandferien fuhr. In der Erinnerung gibt es heute nur noch ein Bild: der Strand von Capoliveri, der nach tagelangem Regen übersät war von Quallen. Den ganzen Tag gingen wir Kinder den Strand auf und ab, sammelten die Quallen ein und türmten sie auf. Doch plötzlich kämpfte sich die Sonne durch die Wolken – und schmolz die Medusen zu einem einzigen glibberigen Haufen zusammen.

Der Ethnologe Marc Augé schrieb einst: «Am Strand verbringt man die Zeit, und die verbrachte Zeit lässt sich nur am Strand wieder einfangen. Fantasie und Gedächtnis verschmelzen im unschuldigen Verbrauch der verlorenen und wiedergefundenen Zeit. Erinnerungen sind am Strand genauso fiktiv und genauso wahr wie Träume. Jeder verliert sich hier, und jeder findet sich wieder.»

Mammern, das Capoliveri des Thurgaus.

Zigarren und Luxusyachten

Mit jedem weiteren Kilometer, den wir in den Untersee hineinrudern, weitet sich der Horizont. Und offenbar hat der Untersee nicht nur auf uns anziehende Wirkung. Linkerhand erscheint Gaienhofen, wo Hermann Hesse 1907 ein Haus baute und einige Jahre wohnte und arbeitete. In den 1940er-Jahren zogen sich Maler wie Otto Dix, die von den Nazis als entartet diffamiert worden waren, hierher zurück (siehe dazu «Zwischen Krieg und Frieden»). Auf der anderen Seite des Sees, im Schloss Arenenberg bei Mannenbach, wuchs im 19. Jahrhundert der spätere Kaiser Napoleon III. auf.

Wie sie wohl auf den See geschaut haben?

Wir haben jetzt das Dreiecksegel montiert und gleiten mit höchstens zwei Stundenkilometern über den Untersee, vorbei an verschlafenen Örtchen mit verlassenen Häfen wie Berlingen und Ermatingen. Und wie wir so gleiten, fragen wir uns: Was unterscheidet eigentlich Ferien von guten Ferien? Ist es vielleicht das Staunen?

Der Ort, an dem uns das Staunen einholt, ist das Naturschutzgebiet Wollmatinger Ried eingangs der Insel Reichenau und knapp vor der Hüppen-Hochburg Gottlieben. Der Ort ist das Eingangstor zum Bodensee.
Pappeln sind die Pinien der Bodenseestrände, hier aber dominiert ein anderes Gewächs: der Schilf. Die Luft steht, als wir uns einen Weg durch das seichte Wasservogelparadies bahnen. Dann taucht rechterhand die imposante Krüger-Werft auf, exklusive Schweizer Vertretung für Luxusyacht-Marken wie ­X-Shore oder Pirelli Sunseeker. Gerade wird die Casino Royale gewartet. Gleich bei der Werft ankert ein einsames Boot, darin ein braungebrannter Mann mit Strohhut und Zigarre, der uns wortlos mustert.

Gottlieben, Klischee der Karibik.

Von Lastenseglern und Dampfschiffen
Zwei Kilometer weiter fahren wir unter der alten Konstanzer Rheinbrücke hindurch in den Obersee hinein. Zwei Kilometer südlich wartet Christian Hunziker vor einem umgebauten alten Kornspeicher. Der 33-jährige Schaffhauser ist seit zwei Jahren Direktor des Seemuseums Kreuzlingen. Auf 1500 Quadratmetern wird hier die Geschichte des Sees dokumentiert, und der aufgeweckte Historiker hat sich darangemacht, die Dauerausstellung aus der Gründungszeit umfassend zu modernisieren.

Hunziker führt durch die Hallen, und wie er erklärt und erklärt, bekommen wir das Gefühl, anhand dieses Sees und seiner Entwicklung könnte man die ganze Welt erklären. Der Bodensee war lange Zeit in erster Linie der kostengünstigste Transportweg der Region. Seit dem 15. Jahrhundert fuhren Lastsegelschiffe Salz, Holz, Getreide oder Obst über das Wasser. Aus Schaffhausen wurde vor allem Wein seeaufwärts ins Allgäu exportiert (der Legende nach importierten die Schaffhauser dafür hochwertigeren Elsässer). Später kamen Dampfschiffe auf, im Frühling 1825 fuhr die «Max Joseph» aus Lindau erstmals bis Schaffhausen. Es sollte noch bis in die 1960er-Jahre dauern, bis der Bodensee langsam zum Freizeitsee wurde.
Wir horchen auf. Die Ferienreise mit unserem «historischen Schiff» folgt also keiner alten Tradition. Offenbar gibt es hier erst recht noch viel zu entdecken.

Keine Riviera ohne Touristinnen
Am nächsten Morgen gehen wir raus auf den See, die vier Kilometer lange Überfahrt nach Meersburg ist ruhig, und als wir auf halber Höhe nach Südosten blicken, in die Weite des Obersees, und am Horizont nichts erkennen können als Himmel und ein paar Segelmasten, fühlen wir uns tatsächlich wie Seefahrer.

Als wir in den Hafen von Meersburg hineinrudern wollen, fährt gerade ein Kursschiff ein, eines liegt schon im Hafen. Reger Verkehr. Der Meersburger Hafenmeister trägt Vokuhila und eine bunte Sonnenbrille aus den 80er-Jahren und macht nicht den Anschein, als könnte ihn irgendetwas aus der Ruhe bringen. Andere Hafenmeister, denen wir begegnen, sind bärbeissig bis arrogant, lassen einen spüren, dass sie allein entscheiden, ob wir hier sein dürfen oder nicht.

Hafenmeister sind eine besondere Spezies. Sie sind das Tor zur Welt, customer friendliness steht nicht in ihrem Jobprofil, ­dafür sind sie heute noch zum Anfassen, echte, analoge Menschen. Einen Gästeliegeplatz muss man auch heute nicht online buchen, man geht hin und plaudert.

Und ist es nicht gerade die Bärbeissigkeit, die auch am Bodensee einen Hauch Seefahrerromantik versprüht?

Der Name Meersburg hat streng historisch nichts mit dem Meer zu tun. Dennoch fühlen wir uns hier wie in einem kroatischen Touristenstädtchen. Am Hügel kleben eine Burg, ein barockes Schloss und eine ehemalige Bischofsresidenz und sorgen für die Grandezza, die die Preise in den Fischrestaurants unten beim Hafen in die Höhe treibt. Menschengruppen drängen durch die Fussgängerzone, Souvenirshops reihen sich an Hutläden und mittelmässige Eisdielen.

Wir spotten über Carreisegruppen, merken dann aber, dass wir uns an der eigenen Nase nehmen müssen. Gerade die Postkarten und Pauschaltouristen machen eine echte Riviera doch erst aus.

Meersburg, das süddeutsche Dubrovnik.

Brathend’l und Pfahlbauer
Vom Uhldinger Hafenfest, bloss fünf Kilometer westlich von Meersburg, erfahren wir zufällig. Und wie wir uns zwei Tage später nach der Schrottregatta mit zwei Flaschen Bodensee-­Secco zwischen tausenden taumelnden Süddeutschen wiederfinden, machen wir eine Erfahrung, die wir nicht unbedingt gesucht haben. Fünf Fanfarenzüge spielen auf, was einzigartig sei in der bodenseeischen Festlandschaft. Die Haut des Verkäufers der Hend’l und Hax’n Braterei ist ölig wie die seiner Brathend’l. Die Macarena-Dancesteps auf der Tanzfläche sitzen. Das Hafengelände ist ein einziger Ballermann.

Unmittelbar neben dem Festgelände harrt ein Weltkulturerbe der Dinge. Das Pfahlbaumuseum Unteruhldingen wird in zwei Tagen sein 100-Jahre-Jubiläum feiern und die Menschen an die Steinzeit erinnern. Und wie wir mit leichten Kopfschmerzen von Uhldingen weiterrudern und die Köpfe zwischen Hafen und Pfahlbaudorf hin- und herschwenken, müssen wir schmunzeln.

Uhldingen, Klein-Mallorca.

Wenig später nähern wir uns unserem Ziel. Wir fahren in Überlingen ein, und natürlich wird auch dort gefeiert. Doch am Promenadenfest an der längsten Uferpromenade des Bodensees weht ein anderer Wind, die Promenade ist gepflastert, der Rotary-Club serviert Saibling an Riesling-Schaum mit Kartöffele und Gemüse Julienne à 15 Euro. Und doch verlieren die Überlinger nicht die Bodenhaftung. Auf der Hauptbühne spielt am Sonntagabend die lokale Coverband Shadoogies auf: «Als nägschtes spielemer wieder einen vom King, Elvis Pressluft», sagt Sänger Tom Hazy, greift in die Rhythmus-Gitarre, und bald ist der Dorfplatz gefüllt mit jungen und alten Tanzpaaren in bester Festlaune.

So versprüht die Uferpromenade in der Abendsonne einen Schimmer Côte d’Azur, aber ohne Dünkel, Oligarchinnen und Taschendiebe.

Überlingen, das Saint-Tropez für Bodenständige.

Als wir wieder abgelegt haben und in der Dämmerung hinüberrudern zur Blumeninsel Mainau, hinter uns die glitzernden Lichter der Uferpromenade, ist klar: Was die Leute hier über ihren Bodensee sagen, ist wahr.

«Wenn ich den See seh, brauch ich kein Meer mehr.»