Verwunschen

3. August 2022, Doerte Letzmann
Fotos: Peter Pfister

Am Rhein zieht ein Riese die Menschen in seinen Bann. Über die bemerkenswerte Geschichte und Wirkung eines Mammutbaumes.

Es ist ein heisser, aber ungewöhnlich bedeckter Morgen am Lindli. Läuft man den Weg am Rhein entlang Richtung Stadt, ist er bald nicht zu übersehen: der Mammutbaum, der alle anderen Bäume überragt. Er ist 30 Meter hoch und misst mehrere Meter im Umfang. Seine Zweige ragen wie riesige Arme vom enormen Stamm ab und tragen grosse, dunkelgrüne, weiche Nadeln. Von Grün Schaffhausen ist er als Baum Nr. 2931 gelistet.

Er ist nicht allein, sondern hat ein Geschwister, das neben ihm steht. Es ist etwas kleiner und dünner im Stamm, aber in der Krone noch weiter und dichter.

Baum 2931 ist aber nicht nur eine Nummer. Beschäftigt man sich mit seiner Geschichte, dann ist klar: Dieser Baum ist speziell. Er übt nicht nur eine magische Anziehungskraft auf die Menschen aus. Er macht sie auch ein bisschen verrückt.

Steht man neben dem imposanten Baum an diesem drückenden Morgen am Rheinufer, der Kopf leicht benebelt von der Hitze, dann lässt sich erahnen, warum.

Wissenschaftlich betrachtet handelt es sich bei Nr. 2931 um einen Riesenmammutbaum, einen Sequoia giganteum. Er kommt aus Kalifornien. Sein Name ist abgeleitet vom Namen des amerikanischen Ureinwohners Se-Quo-Yah, der von 1770 bis 1843 lebte. Lange wurden die Riesenmammutbäume allerdings in der Botanik als Wellingtonia oder Washingtonia bezeichnet, deren Namen englische und amerikanische Pflanzenforscher prägten. Auch im Schaffhauser Stadtarchiv ist in alten Akten von der «Wellingtonia» die Rede.

Der Riesenmammutbaum kann über 100 Meter hoch und bis zu 12 Meter breit werden. Und sie werden sehr alt: Einer der ältesten Riesenmammutbäume ist rund 3500 Jahre alt.

Unser Lindli-Riese ist mit 130 Jahren recht jung. Und doch gibt sein kurzes Leben Aufschluss über die gartengeschichtliche Kultur des Lindli – und über die merkwürdige Wirkung, die Bäume auf Menschen ausüben können.

Botanische Schönheit

Warum und wann genau Nr. 2931 gepflanzt wurde, ist nicht mehr ganz nachzuvollziehen. In den 1890er–Jahren wollte man die Uferpromenade verschönern, aber «einen Rückschritt brachte der Bau des Gaswerks, das mit seinen Kesseln und Kohlenwagen einen brutalen Einbruch in die schöne Natur der Rebberge am Rheinhang verursachte», schreibt Kurt Bächtold in seinem Beitrag zur Geschichte des Lindli.

1897 erwarb die Stadt das Gaswerk und auch die Ufergrundstücke und beschloss, das hässliche Bauwerk hinter einer Baumkulisse verschwinden zu lassen.

Wahrscheinlich stammen die beiden Mammutbäume aus dieser Zeit, denn fremdländische Botanik war damals in Mode. Der ideale Garten sollte abwechslungsreich, aussergewöhnlich und malerisch sein und in Korrespondenz zur Architektur stehen.

«All diese gestalterischen und botanischen Wünsche erfüllte der Riesenmammutbaum in besonderem Masse», schreibt Agnes Kirchhoff in ihrer Geschichte der Riesenmammutbäume in Schweizer Gärten. Er ist schlank, hat eine pyramidale Form, kommt als Einzelbaum und in einer Gruppe zur Geltung und wächst unglaublich schnell. Seit 1853 war der kalifornische Exot auch in Europa erhältlich. «Ein Muss für jeden Villenbesitzer».

Es lag also nahe, einen Riesenmammutbaum zu wählen, um das markante Gaswerk zu verstecken.

Ungewöhnliche Abneigung

Dass Nr. 2931 heue noch steht, ist nicht selbstverständlich. Mehrmals stand seine Zukunft in Frage. Auch, weil ein Mann sich darauf einschoss, ihn, und nur ihn, loswerden zu wollen.

Herr Hess-Studer, ein Lehrer, der in der Rheinhaldenstrasse 32, dem Haus direkt hinter Baum Nr. 2931 lebte, wandte sich im April 1940 an das städtische Baureferat. Er verlangte, «die übergrosse Wellington-Föhre zu entfernen, da dieselbe seit Jahren unser Haus ganz wesentlich benachteiligt». Die Ziegel seien wegen des Schattens einer übermässigen Verwitterung ausgesetzt und durch die fehlende Besonnung würde sein Haus entwertet.

Was zunächst plausibel klingt, stellte sich als übertrieben heraus: Die Forst- und Güterverwaltung der Stadt Schaffhausen kam zu dem Schluss, dass der Baum nicht schuld sei an der Ziegelverwitterung. Denn das Haus Rheinhaldenstrasse 31, welches hinter dem anderen Mammutbaum stehe, habe keine solchen Probleme. Die fehlende Sonne sei ausserdem kein Grund, den Baum zu entfernen. «Ästhetisch würde die Lindli-Promenade durch die Entfernung der Wellingtonia erheblich einbüssen, da beide Bäume zusammengehören und ein Ganzes bilden», schreibt die Verwaltung in einem Brief an das Baureferat.

Baum Nr. 2931 schien aber in Herrn Hess- Studer eine spezielle Abneigung hervorzurufen. Als die Stadt nämlich im Dezember des gleichen Jahres einige Linden am Lindli entfernen wollte, weil sie zu dicht standen, empörte er sich. Einer Entfernung der Linden könne er nicht «mit gutem Gewissen» zustimmen.

Beide Mammutbäume am Lindli, rechts Nr. 2931.

Im Bann des Baumes

Der Lehrer war jedoch nicht die einzige Gefahr für Nr. 2931. Als 1968 die Ferngasleitung verlegt wurde, grub man ganz nah an den Wurzeln der beiden Riesen am Rhein. So nah, dass man sogar Wurzelteile abschnitt. Die Stadt wies ihre Gärtnerei damals an, «alles vorzukehren, was die Erhaltung der beiden grossen Mammutbäume am Lindli sicherstellt».

Vielleicht, weil sie sich der Bedeutung der Bäume für die Bevölkerung bewusst war. Denn zahlreiche Anekdoten bezeugen, dass der Mammutbaum schon lange eine seltsame Attraktion für sie ist. Als würden die Leute mehr in ihm sehen als eine Pflanze.

Der Baum ziehe «Tree-Hugger» an, erzählt Daniel Böhringer von Grün Schaffhausen, der sich mit seinem Team um die Bäume kümmert. Das sind Menschen, die Bäume umarmen, weil sie in ihnen eine besondere «Energie» vermuten. Eine Frau vom oberen Lindli sei einige Zeit regelmässig vorbeigekommen. Und ein Kollege von ihm habe einmal in der Baumkrone übernachtet vor 40 Jahren.

Auch Artgenossen von Nr. 2931 erleben diese Art von Projektion. Etwa eine Sequoie in Oberhasli in Luzern, um die Menschen offenbar 1930 herumtanzten. Was macht der Baum mit ihnen?

Es ist verständlich: Dieser Baum ist nicht wie andere Bäume. Seine rostrote Rinde ist dicker und scheint undurchdringbar. Sie zieht sich am Baum in groben und vielfältigen Mustern entlang wie Lavagestein an einem Vulkan. Sie fühlt sich feucht und fast schwammig-weich an. Man kann sie nicht so leicht in Brand setzen wie die Rinde anderer Bäume. Der Baum wirkt verwunschen und mysteriös, so, als würde er eine ganze Welt in sich verstecken.

Auch Kinder und Jugendliche fühlten sich zu Nr. 2931 und seinem Geschwister hingezogen. Die kleineren spielten dort früher Verstecken, die grösseren sammelten sich nachts und am Wochenende auf der Wiese um seinen Stamm, hörten Musik – und hinterliessen Müll, erzählt Daniel Böhringer. Doch «der Baum mag keine Verdichtung», sagt der Stadtgärtner. Keine Menschen, die auf seinen Wurzeln herumtrampeln.

Der stumme Riese reagierte nämlich mit einer dünneren Nadeldichte. Vor fünf Jahren schritt Grün Schaffhausen ein und verteilte lockere Komposterde um die Bäume herum – und grenzte das Gebiet ab. Die Jugendlichen bleiben nun fern, die Mammutbäume haben ihre Ruhe und wirken gesünder.

Die Menschen mögen Nr. 2931 wohl wesentlich lieber, als er sie. Vielleicht liegt seine fast mystische Anziehungskraft auch gerade darin begründet.

Baumgeschichten
Bewundert, bewirtschaftet, emotionalisiert, entstellt: In unserer Sommerserie begeben wir uns auf die Suche nach besonderen Bäumen. .
Folge 1: Tanzlinde
Folge 2: Affenbaum