Lindieren

19. Juli 2022, Nora Leutert
Die Schützenlinde mit ihren Galerien auf einem Kupferstich von Conrad Meyer aus dem Jahr 1652 (links unterhalb Bildmitte). Bilder: Stadtarchiv

Schaffhausen hatte früher eine
Beiz in einem Baum. Warum fasziniert uns die
Schützenlinde so sehr? Teil 1 einer bäumigen Serie.

In einer Baumkrone sitzen, einen kühlen Krug Bier in der Hand. Die Sonne schimmert durchs Blätterdach, man kriegt einen Imbiss gereicht, schaukelt im Geäst hin und her, vielleicht spielt Musik. Frei sein wie ein Vogel, unbefangen wie ein Kind.

Klingt das nicht nach dem Stoff, aus dem die Träume der bedrängten und nervösen Bürgerin der Moderne gemacht sind?

Die Menschen der Frühen Neuzeit hatten es getan und man kann fast nicht anders, als in ungläubiger Begeisterung den Kopf zu schütteln und ihnen dies als verdammt coole Aktion anzurechnen: eine Gartenwirtschaft in einer Linde; eine Beiz in einem Baum. So geschehen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert in Schaffhausen.

Die Schützenlinde stand auf dem Areal der heutigen Kammgarn, wo früher der Baumgarten angelegt war und das ehemalige Haus der Bogenschützen; sie war die kuriose Sehenswürdigkeit der Stadt.

Man stelle sich das vor! Wie man heute durch das Gebiet um den Mosergarten streift und den verlorenen Garten imaginiert, lässt man sich völlig übertölpeln, hinreissen und wegtragen. Fast möchte man einen Baum umarmen. Was hat diese Schützenlinde nur an sich, dass sie die Fantasie so beflügelt?

Halt in einer zerrissenen Welt

Das beginnt schon bei der Gattung Linde, Tilia, per se. Die Linde ist so ein Baum; man kann «Faszination Linde» in Google eintippen und weiss bereits, dass man auf ein gewichtiges kulturgeschichtliches Essay der NZZ stossen wird. Dieser Baum ist einer, von dem man sagen kann: Er bewegt.

Und er beruhigt. Die Linde ist festes Inventar der Idylle und der deutschen Dichtung. Ein Dorfplatz, eine Kirche, ein Brunnen, eine Linde. Sie verkörpert das behütende weibliche Prinzip und steht im kollektiven Bewusstsein für Wohlstand, Gerechtigkeit, Geborgenheit und Gemeinschaft: In ihr verdichten sich die Sehnsüchte nach Schutz und Halt in einer sich entfremdenden, modernen Gegenwart. So wie bereits für den Wanderer aus Schuberts Winterreise, der in die Fremde aufbricht (gedichtet von Wilhelm Müller):

Am Brunnen vor dem Thore

Da steht ein Lindenbaum:

Ich träumt’ in seinem Schatten

So manchen süßen Traum.

(…)

Nun bin ich manche Stunde

Entfernt von jenem Ort,

Und immer hör’ ich’s rauschen:

Du fändest Ruhe dort!

Die Linde mit ihren herzförmigen Blättern ist der Liebling des Volkes, der das Zentrum des Dorfes bildete und unter dem man sich traf und tanzte. Die Gebrüder Grimm kannten sogar ein Wort für den Tanz unter der Linde: lindieren. Ein Verb, das aus bäuerlicher Anschauung heraus mit höfischer Endung gebildet wurde, um das dörfliche Vergnügen vornehm aufzuwerten.

Zechen auf Staatskosten

Die Schaffhauser Schützenlinde im Baumgarten nun war ein ganz besonderes Gebilde. Es gab auch weitere Linden dieser Art, doch angeblich keine von solcher Grösse. Ein Gerüst mit Bretterboden war in die untersten Äste gezimmert und auf zwölf steinernen Säulen abgestützt, die kleineren Äste bildeten Blätterwand und -dach.

Bis zu 18 Tische fanden darin Platz – und anscheinend ebenso ein Springbrunnen, mit dem die speisenden Gäste ihren Wein kühlen und sich vergnügen konnten, wie der lokale Chronist Johann Jakob Rüeger schreibt: «Uf diser linden stat ein springender brunnen gantz lustig und lieblich, mit dem die, so uf diser linden zêrend, nit nun den win küelen, sonder auch in andere weg ir kurtzwil haben köndend.»

Nicht nur die Schaffhauser Schützen und Bürger gönnten sich einen geselligen Umtrunk oder ein einfaches Mahl in dem «lustigen und wit verrüembten (berühmten) lindenboum» (Rüeger). Auch offizielle Empfänge und Bankette der Obrigkeiten fanden in der Linde statt; auswärtige Gäste wurden an den besonderen Ort im Baumgarten geführt. Und die Ratsherren liessen sich nach getaner Arbeit gerne selbst dort nieder, um auf Staatskosten miteinander zu «zehren», wie der Historiker und ehemalige Stadtarchivar Hans Ulrich Wipf unter anderem aus alten Stadtrechnungen ermittelte.

Die Romantisierung der Welt

Noch herrlicher als diese Linde ist wohl nur die Vorstellung davon. Dieser Baum, den es nicht mehr gibt, in den man reinsteigen konnte; ja, dieses Baumhaus bezeichnenderweise, mit dem wir diese Sommerserie über Bäume beginnen, ist der ideale Projektionsraum für Sehnsüchte. Und je länger man über die Schützenlinde nachsinnt, desto mehr entlarvt sie einen: Wenn wir an diese verlorene Tanzlinde denken, denken wir an uns selbst. Es geht um unsere Sehnsucht nach einem ursprünglichen, freien und sorglosen Leben im Einklang mit der Natur.

Und ist das nicht immer so, wenn wir einzelne Bäume individualisieren, emotionalisieren, romantisieren?

In der Romantisierung lauert Gefahr: Sie kann Rationalität ausklammern; Zusammenhängen wie Ökologie, Klimaschutz und gesellschaftlicher Gerechtigkeit zuwiderlaufen. Pure Egozentrik und Reaktionsmus sein.

Vielleicht jedoch revoltiert sie auch. Für den Dichter Novalis heisst, die Welt zu romantisieren: sie «als Kontinuum wahrzunehmen, in dem alles mit allem zusammenhängt. Erst durch diesen poetischen Akt der Romantisierung wird die ursprüngliche Totalität der Welt als ihr eigentlicher Sinn im Kunstwerk ahnbar und mitteilbar.» Das bedeutet Erkennen und Bewusstsein gegenüber Menschheit, Natur und Klima.

Die Schützenlinde auf einer Stadtansicht von Johann Jacob Mentzinger, 1644.

Kulturelle DNA

Das Faszinosum Schaffhauser Schützenlinde jedenfalls hat gesellschaftliche Strahlkraft. Als die Bevölkerung 1982 über den Kauf des Kammgarnareals abstimmte, dürfte die Linde zum Ja beigetragen haben: Hans Ulrich Wipf legte in einer historischen Analyse in den Schaffhauser Nachrichten dar, dass es sich beim Kammgarnareal schon immer um ein städtisches Erholungsgebiet von überaus grosser Bedeutung für das gesellschaftliche Leben gehandelt hatte. Die Schützenlinde spielte dabei eine prominente Rolle.

Vierzig Jahre später inspirierte die Linde das Projekt zweier junger Architekten im Wettbewerb um die Gestaltung des Kammgarnhofs: Das Projekt Lindentanz von Julian Wäckerlin und Tamino Kuny gewann zwar nicht, wurde aber speziell gewürdigt (siehe AZ vom 21. April 2022).

Und die Schaffhauser Schützenlinde selbst? Diese fiel in der Nacht vom 18. auf den 19. August 1738 einem fürchterlichen Sturm zum Opfer. Sie war den Leuten dermassen ans Herz gewachsen, der städtische Rat beschloss gleich schon am folgenden Tag spontan, dass wieder eine Linde gepflanzt werden solle. Dies dauerte allerdings noch eine Weile und die neue Linde wurde, ehe sie zur Wirtschaft werden konnte, 80 Jahre später wieder durch einen Sturmwind entzweigehauen und riss zwei Kinder in den Tod.

Was von der berühmten ehemaligen Schützenlinde bleibt, ist das Lindenlied des Schulmeisters Johann Konrad Maurer, der jene verhängnisvolle Gewitternacht bezeugt haben will und dem Lindenbaum ein dichterisches Denkmal setzte (rudimentär übertragen):

Mithin war auch dieser Baum,

Wegen seinem weiten Raum

Und der Grösse sondergleichen,

dass gewisse Stadt-Wahrzeichen,

Dann wer den nicht sahe stehn

Hat die Stadt auch nicht gesehen.

Und geblieben ist heute neben diesen Zeilen auch die Lust darauf, zu lindieren.

Baumgeschichten
Bewundert, bewirtschaftet, emotionalisiert, entstellt: In unserer Sommerserie begeben wir uns auf die Suche nach besonderen Bäumen.
Folge 2: Affenbaum
Folge 3: Mammutbaum