Sneaker-Showdown

8. Juli 2022, Luca Miozzari
Nicolas Rimoldi schaut auf die weissen Sneakers von Alain Berset. Fotos: Peter Pfister
Nicolas Rimoldi schaut auf die weissen Sneakers von Alain Berset. Fotos: Peter Pfister

Wer sah besser aus: Schaffhausen oder der Bundesrat? Eine Reportage.

Jedes Jahr darf ein Bundesrat wünschen, wohin das Klassenreisli geht. Und dieses Mal war Ignazio Cassis dran. Neben seiner Heimat Tessin hatte er sich für einen Abstecher nach Schaffhausen entschieden. Wieso?

Kleine Geografielektion mit Cassis: Kürzlich habe der Bundesrat in Genf den «far west-ä» der Schweiz besucht, nun den «great north-ä», dann werde man in den «deep sauss-ä» reisen und im Oktober schliesslich ins Val Mustair, in den «far east-ä». «Somit werden wir tatsächlich alle vier Ecken der Schweiz mit unserer symbolischen Präsenz markiert haben.» Dann zeigt Cassis in Richtung des Rheinfalls und erklärt: «Wenn Sie den Blick über die Windungen des Rheins hinwegschweifen lassen, sehen Sie einen Fluss, der unseren Bergen entspringt, dann zu einem internationalen Strom wird, der Lebensader einer zentralen europäischen Region, die sich schliesslich in die Nordsee eingiesst. Und dieses Bild ruft uns einmal mehr die Bedeutung der Schweiz im Herzen Europas in Erinnerung.»

Vor einer Woche stand Cassis also am offenen Herzen Europas, auf der Terrasse des Schlössli Wörth, und sprach in die Fernsehkameras. Mitgebracht hatte er seine sechs Gspänli. Und einen Mann im Funktionsshirt. Er heisst André Simonazzi und ist scheinbar sowas wie der Lehrer oder Klassensprecher.

Auf jeden Fall stand ich, ein schlecht vorbereiteter Regionaljournalist, neben Cassis auf dieser Terrasse, irgendwo zwischen zwei Teams des SRF und anderen nationalen Medien. Die Bundeskanzlei hatte Journalistinnen zur Plauderstunde mit der Landesregierung geladen, bevor sie die Bevölkerung auf die Sieben loslassen würde. Ich bin hingegangen, weil ich sehen wollte, wie sich der Bundesrat unserer Stadt präsentiert. Und Schaffhausen sich dem Bundesrat.

Es laufe ab wie immer, informierte Simonazzi die anwesenden Presseleute. Ich hatte keine Ahnung, was das heisst, fand es aber wenig später heraus. Immer wenn ich mich Viola Amherd näherte, um sie auf ihren lustigen Hut anzusprechen, winkte mich eine Fotografin zur Seite. Offenbar gibt es so eine Art Schonfrist, in der Bundesrätinnen nur fotografiert aber nicht interviewt werden dürfen. Ist diese abgelaufen, stellt man sich kreisförmig um die gewünschten Interviewpartner und dreht sich im Uhrzeigersinn, bis man an der Reihe ist. Ein schönes Ritual.

Ich stellte mich also in den Zirkel um Alain Berset und beobachtete das Treiben auf der Terrasse.

Das interessante am Bundesratsreisli ist ja, dass die Bundesrätinnen und Bundesräte «privat» unterwegs sind und sich dementsprechend verhalten und kleiden, wie sie es angeblich in der Freizeit tun. Und wenn sich Politikerinnen und Politiker mal nicht, wie sonst immer, so langweilig wie möglich kleiden, wird’s spannend. Denn Mode drückt immer auch aus, wie man gerne gesehen werden will, bewusst oder unterbewusst. Ueli Maurer hatte zum klassischen Dad-Look gegriffen: Joggingschuhe, weite Hose knapp unter dem Bauchnabel und darin ein Poloshirt. Guy Parmelin, Kurzarmhemd und eine Art Safari-Hut, strahlte eher grossväterliche Vibes aus. Viola Amherds weisser Hut war indessen an Originalität unübertroffen. Wirklich stilsicher wirkte nur einer: Alain Berset. Hellblaues Hemd, dunkelblauer Veston, Jeans, Sneaker und eine Leder-Schiebermütze. Fast schon ikonisch.

Endlich war ich an der Reihe.

«Bundesräte, die denken, sie hätten die Medien verstanden, schmeicheln ihnen. Bundesräte, die die Medien verstanden haben, kritisieren sie.» Das hatte ich kürzlich in der NZZ gelesen. Ich wandte die umgekehrte Strategie an.

Wie es denn komme, dass er von allen Bundesrätinnen und Bundesräten immer am besten gekleidet sei, fragte ich Alain Berset.

Berset, offensichtlich geschmeichelt, lachte. «Das beurteilen Sie, ich werde dazu nichts sagen.»

Kein Modeberater?

Nein, sagt er, er diskutiere oft mit Freunden über Mode. Aber sein Outfit habe er selbst zusammengestellt. Als wollte er es beweisen, hebt er einen seiner strahlend weissen Sneaker auf Kniehöhe. Die habe er diese Woche neu gekauft. Und die Mütze trage er nur, weil er nicht viel Sonne vertrage, sagte er, während er sich mit der Hand über die Glatze streicht.

Nachvollziehbar, sagte ich, und strich über meine eigene.

Wir plauderten noch einige Minuten, dann verwickelte ihn der SN-Journalist neben mir in ein Gespräch über Corona, und ich machte einen stillschweigenden Abgang.

Ich könnte jetzt noch Bundesrätin Amherd nach ihrem Hut fragen, dachte ich. Oder nach ihrem Streit mit Ueli Maurer ums Armeebudget. Oder Simonetta Sommaruga nach ihrer Meinung dazu, dass wir den Rheinfall bald in der Nacht abschalten. Oder ob wir über diese zweite Fäsenstaubröhre nochmal reden können.

Aber dann hätte ich mich wieder in einen neuen Interviewzirkel anstellen müssen. Und für die wichtigen Fragen schien heute ohnehin nicht der Tag zu sein. Ausserdem war es kurz vor Mittag und ich verspürte Hunger.

Viola Amherd und ihr Hut begrüssen ein Kleinkind.

Es regnet Bundesräte

Eine halbe Stunde später in der Schaffhauser Altstadt. Im Kafi Vordergässli sitzt SN-Chefredaktor Robin Blanck, SVP-Kantonsrat und Obstbauer Josef Würms füllt an seinem Marktstand Aprikosen von einer Kiste in die andere. Die Menschentraube, die sich etwas weiter unten vor der Kirche St. Johann gebildet hat, scheint sie nicht zu interessieren.

Fetzen von Blasmusik wehen mir entgegen, als ich den Platz betrete, die Knabenmusik spielt «It’s Raining Men». Die Menge besteht hauptsächlich aus Menschen in der zweiten Lebenshälfte, hohe Poloshirt-, Mammut- und Jack-Wolfskin-Dichte. Auf dem Brunnenrand hat sich wie angekündigt eine Gruppe aus dem Umfeld von Massvoll und den Freiheitstrychlern versammelt und fordert per Kartonschild die «Aufarbeitung der Pfnüsel-Massnahmen». Ihr selbsternannter Anführer, Nicolas Rimoldi, ragt Zigarre paffend aus der Menschenmasse wie ein Winston Churchill der Verirrung.

Ich schnappe mir ein offeriertes Chäs-
chüechli von einem der Stände. Es schmeckt fad.

Wegen welchen Mitglieds des Bundesrats sie denn hier sei, frage ich eine ältere Frau neben mir.

Wegen Sommaruga, sagt sie, die fände sie echt stark. Normalerweise wähle sie ja FDP. Aber Cassis gefalle ihr nicht so, der sei wohl besser als Arzt denn als Bundesrat. Ihr Mann sei da anderer Meinung, sagt sie, und zeigt auf einen älteren Herrn, der etwas weiter vorne steht. Er winkt uns zu.

Ob sie denn mit Sommaruga sprechen wolle?

Nein, nur zuschauen. Sie wolle nicht provozieren, sagt sie. Ah ja, die AZ lese sie amigs auch.

Blitzauftritt Bundesrat. Über den Durchgang vom Münsterplatz erscheint die Regierung, begleitet von grimmig dreinblickenden Männern in Anzügen, die sich über den Platz verteilen. Es beginnt das grosse Redenschwingen.

Staatsschreiber Stefan Bilger sorgt für Nachschub an sauberen Weingläsern. Links im Bild die Anhänger von Massvoll.

Raphaël Rohner und der Giftbecher

Stadtpräsident Peter Neukomm erzählt am Mikrofon von der Lebensqualität, die die Energiestadt Schaffhausen biete, vom regionalen Naturpark, dem Randen, dem Rhein.

Regierungsrätin Cornelia Stamm Hurter versuchts auf italienisch, Ignazio Cassis auf Deutsch. Beide erzählen die Geschichte von Bundesrat Stefano Franscini, der 1854 die Wiederwahl als Tessiner Nationalrat verpasste und dann von den Schaffhausern gewählt wurde, und von irgendeiner mir unbekannten tiefen Verbundenheit zwischen den beiden Kantonen, die dieses 170 Jahre alte Ereignis begründet hätte. Bis auf ein paar «Lügner»- und «Liberté»-Rufe vom Brunnen her, als Cassis zum Ende seiner Rede auch noch auf die Pandemie zu sprechen kommt, bleibt es während der Reden erstaunlich still auf dem Platz.

Das Mikro ist aus. Die Chäschüechli sind mittlerweile ebenfalls ausgegangen, stattdessen gibt es geschnittenes Ruchbrot und etwas Zopf. Und um die Bundesratsmitglieder bilden sich Kreise von Menschen mit dem Handy im Selfiemodus.

Ich sehe Nicolas Rimoldi mit Ueli Maurer sprechen, die Stimme gedämpft, ich verstehe nichts. Aber die beiden wirken seltsam vertraut.

Von der Seite spricht mich ein Mann an, fragt nach meinem Jahrgang. Er wolle junge Menschen für seine Sache gewinnen, er kämpfe für Freiheit und Gleichheit. Ob er denn hier sei, um mit Berset zu sprechen, frage ich. Nein, das sei Zeitverschwendung, sagt er und überreicht mir seine Visitenkarte.

«Mami, ich ha em Berset es Glas Wisswii brocht», ruft eine Frau neben mir.

Was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: André Simonazzi, der die ganze Zeit über immer neben Berset stand, hatte dem Bundesrat das Glas gleich wieder aus der Hand genommen. Offenbar bestand Vergiftungsgefahr. Später sah ich Stadtrat Raphaël Rohner dasselbe versuchen, auch er blitzte an Simonazzi ab.

1200 Gläser Wein habe man bereits ausgeschenkt, verkündet Staatsschreiber Stefan Bilger übers Mikrofon. Zwischenzeitlich seien die sauberen Gläser ausgegangen. Jetzt habe es wieder. Ich nehme keines. Vom Wilchinger kriege ich immer Kopfschmerzen.

Ich entdecke ein bekanntes Gesicht. Normalerweise ist er Polizist, heute ist er irgendetwas zwischen Bodyguard und Geheimagent. Dunkler Anzug, Knopf im Ohr und eine Sonnenbrille, die er abnimmt, als er mich sieht. Er lacht und erzählt, er habe gerade einen Mann mit drei Hunden beobachtet, der die Menschentraube gesehen, einmal gebuht und dann kehrt gemacht habe.

Was sie denn tun würden, wenn die Leute da – ich deute in Richtung des Brunnens – Probleme machen, Eier werfen oder so, frage ich. Evakuieren, meint er. Wen, die Schwurbler? Nein, den Bundesrat. Und wohin? An vorher definierte Punkte. Bevor ich ihn weiter nerven kann, schreit es in seinem Ohr, und er legt angestrengt die Hand drüber. Ich verabschiede mich, und er setzt die Sonnenbrille wieder auf.

Guy Parmelin (ganz links) und ein Polizist in Anzug (ganz rechts) lauschen den Reden.

Wer macht mit beim «Great Reset»?

Während überall Selfies geknipst und Gegenstände für Autogramme herumgereicht werden (unter anderem ein Schweizer Wehrkalender von 1939 und das Fell einer Tamboure der Knabenmusik), beobachte ich die geschlossen angetretenen Regierungsvertreter von Stadt und Kanton. Niemand trägt Krawatte, man gibt sich betont locker. Unterdessen habe ich offenbar verpasst, wie Rimoldi mit Berset gesprochen hat. Als ich mich zum Gesundheitsminister durchgekämpft habe, ist der Zigarrenmann schon wieder weg. «Ihren Job möchte ich nicht haben», sagt ein Mann zu Berset, und macht ein Selfie mit ihm. «Sie händ grad es Foti vom Tüüfel gmacht!», ruft eine Frau, die in der Nähe steht und eine Schweizerfahne schwenkt.

Der Teufel, denke ich mir, trägt also heute nicht mehr Prada, sondern weisse Sneaker.

Wenig später, als der Bundesrat nach gut einer Stunde von Anzugmännern hinter die Kirche zu drei blauen Lieferwagen eskortiert wird, sehe ich die Frau wieder. «Mached nid mit bim Great Reset», schreit sie, während sie Simonetta Sommaruga hinterherrennt. «So etz gönd hei», herrscht ein Mann sie wütend an. Sie lächelt. «Ah hoi, Michi!» Die beiden scheinen sich von früher zu kennen.

Am Aufgang zu Gleis 5 entdecke ich noch ein bekanntes Gesicht. Woher kenne ich nur so viele Polizisten? Er trägt Uniform statt Anzug und bewacht den Zug, den die Landesregierung gleich nehmen wird. Extrazug ins Tessin – klingt verlockend. Ob ich einsteigen könne, frage ich ihn. Er lacht und verlangt meinen Ausweis.

In Stilfragen chancenlos

Wer hat denn nun besser ausgesehen heute, frage ich mich auf dem Nachhauseweg, Schaffhausen oder der Bundesrat? Und wird die Landesregierung jemals wieder hierherkommen, ins Herz Europas?

Wenn man von den paar Vergiftungsversuchen und den faden Chäschüechli absieht, hat Schaffhausen den Bundesrat eigentlich ziemlich freundlich empfangen. In Stilfragen, muss man jedoch festhalten, hatte Schaffhausen der Landesregierung wenig entgegenzusetzen: Geheimagenten in schlecht sitzenden Anzügen, Jack-Wolfskin-Hemden, gespielte Lockerheit. Alles unterlag Bersets blendend weissen Sneakers. Dieses Duell verlor übrigens auch Nicolas Rimoldi: Er trug blaue Halbschuhe aus Stoff.