Arme Advokaten

14. Juni 2022, Mattias Greuter
Foto: Peter Pfister

Zwei Franken pro Fotokopie und Kosten, die in der Realität gar nicht ­angefallen sind: Das Obergericht beendet die Auswüchse in den ­Abrechnungen der Schaffhauser Anwältinnen und Anwälte.

Es war ein Pyrrhussieg. Ein Anwalt zog vor zwei Gerichte und forderte mehr Geld vom Staat für seinen Aufwand als Verteidiger. Er gewann zwar, doch das Obergericht kürzte gleichzeitig einen Teil der Entschädigung – nicht nur in diesem Fall, sondern auch für alle anderen Schaffhauser Anwältinnen und Anwälte gibt es in Zukunft weniger Geld. Diese hätten sich lange genug an der Staatskasse bedient und Kosten verrechnet, die gar nicht angefallen seien – so lässt sich der Kern des Urteils etwas zugespitzt zusammenfassen. 

Das Gericht nutzte also die Gelegenheit und führt eine neue Praxis ein, in der Fantasiegebühren der Vergangenheit angehören.

Hat der Anwalt seinem ganzen Berufsstand ein Ei gelegt?

Gefordert: 26 000 Franken

Im Juli 2019 verhandelte das Schaffhauser Kantonsgericht den Fall eines Mannes, der fremde Gespräche abgehört und aufgezeichnet haben soll. Schliesslich wurde der Mann freigesprochen, doch der Fall zieht sich bis heute hin. Es geht um Geld: die Entschädigung für die Anwaltskosten.

Der Verteidiger, der mit seinem Plädoyer den Freispruch erreichte, heisst Dieter Schilling, Partner bei der renommierten Kanzlei Onnen Schilling Rechtsanwälte mit repräsentativen Büros in der «Villa Rammersbühl» (unser Bild). Schilling ist ausserdem Kassier und Vizepräsident der Schaffhauser Anwaltskammer. Deren Präsident ist Jens Onnen, die andere Hälfte von Onnen Schilling.

Wenn ein Anwalt auf Freispruch plädiert, verlangt er gleichzeitig eine sogenannte Parteientschädigung: Der zu Unrecht Beschuldigte soll vom Staat für seine Anwaltskosten entschädigt werden.

Diese Entschädigung besteht nebst dem Honorar des Anwalts oder der Anwältin aus sogenannten Barauslagen, darunter Kopierkosten, Porto und eine sogenannte  «Seiten­pauschale» für den Sekretariatsaufwand.

Verteidiger Dieter Schilling verlangte für die Verteidigung des Mannes im Juli 2019 insgesamt rund 26 000 Franken.

Das Kantonsgericht aber setzte den Rotstift an und sprach eine pauschale Entschädigung von 10 000 Franken.

Der Anwalt legt Berufung beim Obergericht ein. Nicht gegen den eigentlichen Urteilsspruch – den Freispruch seines Mandanten –, sondern nur gegen die Höhe seiner Entschädigung. Schilling wollte mehr Geld aus der Staatskasse. Das Obergericht gab ihm Recht, und das Kantonsgericht musste noch einmal rechnen. Schliesslich erhöhte es die Parteientschädigung im Juni 2021 auf rund 13 000 Franken.

Doch Schilling (formell: sein Mandant, aber um diesen geht es im Grunde längst nicht mehr) war damit noch nicht zufrieden und legte erneut Berufung beim Obergericht ein. Seine neue Forderung: rund 22 000 Franken. Das Obergericht musste sich also erneut mit der Sache beschäftigen. Und dieses Mal schob es die Sache nicht ans Kantonsgericht zurück, sondern entschied sich mit Urteil vom
22. März 2022 für einen bemerkenswerten Schritt: Es packte die Gelegenheit beim Schopf, um Klarheit zu schaffen, was Anwälte verlangen können – und was nicht.

Das Gericht beschäftigte sich ausführlich mit der Frage nach dem richtigen Stundenansatz und der Anzahl Stunden, die für den Verteidigungsaufwand angemessen waren. Schliesslich kam das Gericht zu folgendem Schluss: 

Erstens ist ein Stundenansatz von 250 Franken akzeptabel – nicht 280 Franken wie von Schilling ursprünglich verlangt, aber auch nicht 240 Franken wie vom Kantonsgericht vorgesehen. Zweitens hat das Kantonsgericht den Zeitaufwand zu Unrecht gekürzt: Bis auf ein paar wenige Stunden folgt das Obergericht der Berechnung von Anwalt Schilling: knapp 67 Stunden Arbeit für die Verteidigung des Mannes, dem das Abhören von Gesprächen vorgeworfen wurde.

Weniger glücklich geht der Prozess für Schilling beim anderen Teil der Entschädigung aus: bei den Barauslagen.

2 Franken pro kopierter Seite?

Schilling hatte Kopierkosten für 436 Seiten geltend gemacht, doch das Gericht sah die Akten durch und befand: Nur 203 Kopierseiten waren notwendig.

Ins Gewicht fällt aber vor allem die Höhe der Kosten pro Kopie: Der Anwalt verlangte 2 Franken pro Seite und kritisierte, dass das Kantonsgericht die Entschädigung auf 1 Franken reduziert hatte. (Zum Vergleich: In einem Schaffhauser Kopiercenter kostet eine Seite
25 Rappen.)

Das Obergericht befand nun aber, der Ansatz von 2 Franken lasse sich «nicht rechtfertigen, sondern ist offensichtlich überhöht und stellt ein verstecktes Honorar dar.» Das Gericht verglich die Entschädigung mit anderen Kantonen und kam zum Entschluss: Angemessen sind 30 Rappen pro Seite.

Bleibt noch die sogenannte «Seitenpauschale». Gemäss üblicher Praxis haben die Schaffhauser Gerichte aus der Staatskasse bislang 10 bis 15 Franken pro A4-Seite bezahlt, die eine Anwältin beim Gericht eingereicht hat. Schilling verlangte 15 Franken. 

Diese Pauschale stammt aus einer Zeit, in welcher der Herr Advokat seine Plädoyers in ein Aufnahmegerät diktierte und die Kassette seiner Sekretärin zum Abtippen übergab. So arbeitet heute praktisch niemand mehr, also hielt das Obergericht fest, die Seitenpauschale sei «nicht mehr zeitgemäss» und «soweit ersichtlich eine schweizweit einmalige Praxis». Auch hier nutzt das Gericht die Gelegenheit, um alte Zöpfe abzuschneiden und einen Leitentscheid zu fällen. Es schrieb im Urteil, die Seitenpauschale stelle eine «versteckte Erhöhung des Stundensatzes dar», und schaffte sie ab.

Unter dem Strich resultierte eine Entschädigung von 18 088 Franken und 5 Rappen.

Das sind immerhin rund 80 Prozent mehr, als das Kantonsgericht ursprünglich gewähren wollte – Dieter Schilling hat gewonnen.

Mit dem Urteil wird jedoch eine neue Praxis festgehalten: Nicht nur Schilling kann fortan keine 15 Franken Seitenpauschale und 2 Franken Kopierkosten pro Blatt mehr einheimsen, sondern auch alle Anwältinnen und Anwälte, die mit Schaffhauser Gerichten zu tun haben. Neu gilt für alle: Die Seitenpauschale ist abgeschafft, und das Kopieren wird mit
30 Rappen pro Seite entschädigt.

Anruf bei Rechtsanwalt Dieter Schilling in der «Villa Rammersbühl». Hat er der gesamten Advokatenzunft einen Bärendienst erwiesen?

Nein, sagt Schilling. Die «Art und Weise» der Praxisänderung durch das Obergericht könne er «nicht nachvollziehen.» Er habe Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht. Vor allem moniert er den rückwirkenden Charakter des Entscheides, von dem aber parallel laufende Verfahren nicht betroffen seien – Dieter Schilling sieht das Gleichbehandlungsgebot verletzt. «Was ich störend finde: Wir waren zwei Mal vor Obergericht und haben zwei Mal recht bekommen. Der Dank dafür ist jetzt diese Praxisänderung», klagt er.

Schilling kämpft weiter. Die Schaffhauser Anwältinnen und Anwälte dürften ihm die Daumen drücken.