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17. Mai 2022, Simon Muster
Unser Autor am Denken.
Unser Autor am Denken.

Die Schaffhauser Nachrichten haben einen neuen Typus von Experten ­gefunden: den «self-­made-Experten». Eine Glosse.

In Krisen sind sie besonders wichtig: Experten. Journalistinnen brauchen sie, um Dinge zu erklären, um einzuordnen, um Thesen zu stützen. Aber Expertinnen brauchen auch Journalisten: Wer zitiert wird, gewinnt an Einfluss.

Bis anhin konnte man in Zeitungen drei Typen von Expertinnen finden:

Der Idealfall: Diese Expertin weiss, wovon sie spricht, und ist in den Augen der Öffentlichkeit auch glaubwürdig. Sie kennt ihr Fachgebiet, bringt Licht in das Dickicht einer immer komplexeren Welt und tut das in einer Sprache, die der Laie versteht.

Der Interessenvertreter: Dieser Experte kennt sein Fachgebiet auch – aber von innen und aus einer Betroffenheit heraus. Er ist der Unternehmer, der Steuererhöhungen für juristische Personen kommentiert; der Geflüchtete, der sich zum Frontex-Referendum positioniert.

Der Universalgelehrte: Eigentlich dachte man, er sei spätestens mit dem französischen Existenzialismus ausgestorben. Aber es gibt ihn noch, den Intellektuellen, der zu jedem Thema Auskunft gibt. Für seine Gesellschaftsdiagnosen muss der Universalgelehrte weder das Fachgebiet studiert noch eine relevante persönliche Erfahrung gemacht haben.

Wichtig ist nur, dass er mit grossen Thesen aufwarten kann, gerne auch auf Kosten von Genauigkeit und Ambivalenzen: Cancel Culture? Holocaust! (Adolf Muschg). Die Ukraine? Soll sich ergeben! (Alice Schwarzer). Die AHV? Dem Untergang geweiht! (Lukas Bärfuss).

(Der Mann): Er ist eigentlich kein eigener Typus, sondern vielmehr die grösste Schnittmenge des Idealtypus, des Interessenvertreters und des Universalgelehrten: Untersuchungen zeigen, dass über 70 Prozent der zitierten Expertinnen und Experten in den Schweizer Medien Männer sind.

Nun aber haben die Schaffhauser Nachrichten in den letzten Wochen einen bisher unentdeckten Typus Experten gefunden.

Nummer 4: Den «self-made-Experten».

Ein neuer Experten-Typus entsteht

Das erste Mal aufgetaucht ist er Ende April unter dem Namen Erich Brennwald. Als er gelesen habe, dass das Architekturbüro Hofer&Kick einen zweiten Turm im Munotgraben bauen wolle, der als Notausgang funktionieren soll, sei er ins Grübeln gekommen, sagte Brennwald, langjähriger Ressortleiter beim städtischen Hochbauamt, gegenüber den SN. «Das war sicherlich gut gemeint, aber es darf doch nicht sein, dass ein so dominantes Bauwerk den Blick auf den Munot stört», stellt Brennwald gegenüber den SN fest.

Brennwald hatte eine bessere Idee: eine einfache Metallkonstruktion als Notfalltreppe.

Mit der Idee war Brennwald gemäss SN bereits an den Munotverein und ans städtischen Bauamt gelangt, wo er aber auf taube Ohren stiess. Davon liess sich Brennwald aber nicht entmutigen, er ging zu den SN, die seinem Vorschlag ohne Umsetzungschancen eine ganze Seite einräumten.

Wir lernen: Ein self-made-Experte wartet nicht darauf, dass seine Expertise gefragt wird – er bietet sie an.

Ein Macher ist auch Henri Haist, Verpackungsunternehmer aus Neunkirch. Anfangs Mai meldete er sich auf der SN-Redaktion mit einer Idee. Es geht um den Engekreisel, wo es seit Längerem regelmässig zu Staus kommt, was für rote Köpfe bei Autofahrerinnen und bürgerlichen Politikern sorgt. Inzwischen hat das kantonale Bauamt ein Testregime eingeführt, doch dieses verlagere das Problem nur zum Galgenbucktunnel, erklärte Haist den SN.

«Spätestens jetzt drängt sich die Frage auf: Weshalb erhält Haist in dieser Zeitung überhaupt Gelegenheit, sich zu äussern?», fragte die Zeitung gleich selber in ihrem Text. Tatsächlich ist für die Leserin auf den ersten Blick nicht ersichtlich, warum hier ein Verpackungsunternehmer über die Verkehrsführung am Engekreisel referiert.

Doch die Zeitung lieferte die Antwort gleich selbst: Haist sei sich das genaue Beobachten und Tüfteln gewohnt, er sei ein «Problemlöser». Diese Qualität beweist Haist mit einer erstaunlichen Erkenntnis gegenüber den SN: «Wer nicht kreisen muss, hat im Kreisel nichts verloren.»

Wie bei Brennwald leitete auch Haist aus seiner Erkenntnis eine bestechend einfache Lösung ab: Beim Engekreisel brauche es eine Durchgangsspur. Dass der Regierungsrat einen ähnlichen Vorschlag im Februar bereits mit Verweis auf Sicherheitsgründe und den Naturschutz verworfen hat, ist für den self-made-Experten unerheblich.

Ich denke, also bin ich … ein Denker

Die Fähigkeit, sich selbst mit Vorschlägen anzubieten, die bereits diskutiert und verworfen worden sind, unterscheidet den self-made-Experten von anderen Expertinnen. Man könnte gar zum Schluss kommen, die SN blasen hier Ideen, die sonst in der Leserbriefrubrik verelenden würden, auf ganze Zeitungsseiten auf.

Spätestens hier drängt sich bei Ihnen vielleicht die Frage auf, was eigentlich mich, den Autor dieser Zeitungsseite, qualifiziert, über Experten zu urteilen? Nun, vor ein paar Jahren habe ich an der Universität ein Philosophiestudium mit einer Arbeit über Expertise abgeschlossen; meine Mutter nennt mich seither einen «Denker». Zudem bin ich ein Mann. Ausserdem habe ich mich mit dem unerschütterlichen Selbstbewusstsein eines wahren self-made-Experten in der Redaktionssitzung «anerboten». Oder um es angelehnt an die unsterblichen Worte von Henri Haist zu sagen: Wer keine Meinung loswerden muss, hat in der Zeitung nichts verloren.