Gegen die Propaganda

30. April 2022, Nora Leutert
Ekaterina Glikman vor dem Tellbrunnen in Schaffhausen. Stefan Kiss

Journalismus, der Widerstand bedeutet: Als Vize-Chefredaktorin der Nowaja Gaseta Europa will Ekaterina Glikman aus dem selbstgewählten Schaffhauser Exil die russische Bevölkerung erreichen.

Es gebe kein gutes Schicksal mehr für Russland, sagt Ekaterina Glikman. Aber, und die Stimme der Journalistin erhebt sich in lebhafter Überzeugung, in jedem totalitären System gebe es jene, die widerständig seien. Und vielleicht auch einen Weg, um die zu erreichen, welche der Propaganda glauben.

Die letzte freie Zeitung

Vor einigen Tagen habe der Häftling eines russischen Gefängnisses auf der Redaktion der Zeitung Nowaja Gaseta in Moskau angerufen, erzählt Ekaterina Glikman. Er habe sein wöchentlich erlaubtes Telefonat dafür genutzt, um nachzufragen, wieso das Blatt nicht komme. Das ganze Gefängnis warte darauf. Auf die letzte grosse freie Zeitung Russlands, die dreimal wöchentlich – gerade auch in Berücksichtigung des fehlenden Internetzugangs von Inhaftierten – in Papierform erschien.

34 Tage lang seit Wladimir Putins Kriegserklärung gegen die Ukraine hielt die Nowaja Gaseta stand und meisterte das Unmögliche: Sie berichtete über einen Krieg, den man nicht beim Namen nennen durfte. Am 28. März stellte das unabhängige Medium mit seinen zuletzt rund 140 redaktionellen Mitarbeitenden das Erscheinen vorläufig ein. Um der Schliessung und der persönlichen Gefahr unter der verschärften Militärzensur zu entgehen.

Neue Aufgabe

Ekaterina Glikman öffnet die Tür ihrer Wohnung in der Schaffhauser Altstadt; ihrer selbstgewählten Heimat. Die 42-jährige Journalistin bittet in die Stube, die letzten Züge einer Zigarette rauchend. Es sei gerade alles etwas chaotisch, das sei eigentlich untypisch für sie, sagt sie und eilt, während sie redet, zurück in die Küche, um nach dem Kaffee zu sehen. Dann setzt sie sich munter an den Tisch, spricht der besseren Verständigung halber englisch, durchzogen mit Deutsch. Vor ihr liegt ein Haufen Ausgaben der Nowaja Gaseta. 20 Jahre lang schrieb Glikman für die Zeitung in Moskau. Während der letzten zweieinhalb Jahre als Korrespondentin von der Schweiz aus.

Für das Treffen legt die Journalistin eine Arbeitspause ein, sie schreibt gerade an einem Artikel über Bucha; vor einigen Tagen traf sie sich in Zürich mit einem älteren Paar, das während der russischen Belagerung aus der massakrierten ukrainischen Kleinstadt flüchten konnte.

Ekaterina Glikman muss sich erst daran gewöhnen, dass nun sie diejenige ist, die interviewt wird. Ihr kommt eine neue wichtige Rolle zu. Vor einigen Tagen launchte sie zusammen mit anderen ehemaligen Arbeitskolleginnen und -kollegen – juristisch getrennt von der Nowaja Gaseta in Moskau – die Nowaja Gaseta Europa. Glikman ist stellvertretende Chefredaktorin.

Sie kann neben Chefredaktor Kirill Martynow als eine der wenigen des Teams, welche sich in Sicherheit befinden, offen agieren. Die Verantwortung, das Repräsentieren, der organisatorische Stress seien neu für sie, sagt Glikman. «I was a very relaxed Journalist before», meint sie lachend. Sie war in den letzten Jahren Reporterin und schrieb lange Erzählstücke. Doch das kam nicht von ungefähr. Ekaterina Glikman ging einen langen journalistischen Weg. Ein Weg, der von Hoffnung und Enttäuschung erzählt und von dem, was Journalismus sein kann.

Die alte Redaktion

Gibt es Bilder von ihrem früheren Journalistinnenleben und der Redaktion in Moskau?

Sie glaube kaum, meint Ekaterina Glikman und geht rüber in ihr Arbeitszimmer in der Schaffhauser Altstadt-Wohnung. An der Wand hängen Bilder von prägenden Menschen. Und von Rüsselkäfern. Ekaterina Glikman, genannt Katia; Tochter eines Biologen und einer Geologin, aufgewachsen im demokratischen Zeitfenster der Perestroika mit ihren Umgestaltungs- und Reformideen, begeistert sich als Amateur-Forscherin für die kleinen robusten Lebewesen mit dem Chitinpanzer.

So kam sie auf Umwegen auch in die Schweiz: Vor einigen Jahren jagte sie in Thailand nach Rüsselkäfern – und lernte beim Reisen den Schaffhauser Daniel Thüler kennen. Die beiden wurden ein Paar und liessen sich in der Heimat des Journalisten nieder, der damals noch Chefredaktor beim Schaffhauser Bock war.

Ekaterina Glikman blickt in ihren Computer im Arbeitszimmer und klickt sich durch Bilderordner. Und tatsächlich: Sie findet Fotos von früher. «Now you made me nostalgic», sagt sie, während sie die Erinnerungen Revue passieren lässt: Die Fotos zeigen Ekaterina Glikman als junge Journalistin im Moskauer Büroalltag. Hier eine Besprechung im Gang der Redaktion, da eine ausgelassene Betriebsfeier mit den Kolleginnen und Kollegen. Auch Chefredaktor Dmitri Muratow, der vergangenen Dezember mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde, ist in beschwingter Geste auf den Bildern zu sehen.

Die Momentaufnahmen vermitteln Unbeschwertheit. Doch sie zeugen von einem zermürbenden Kampf für Freiheit und Wahrheit.

Ekaterina Glikman in der Redaktion der Nowaja Gaseta in Moskau, wohl im Jahr 2018.
Ekaterina Glikman in der Redaktion der Nowaja Gaseta in Moskau, wohl im Jahr 2018.

Ausgebrannt

Die Nowaja Gaseta ist seit fast dreissig Jahren die Stimme des unabhängigen Journalismus in Russland. Grosse Persönlichkeiten prägten das kremlkritische Blatt mit furchtlosen investigativen Recherchen. Sechs Mitarbeitende wurden seit dem Jahr 2000 ermordet, die Erschiessung Anna Politkowskajas 2006 ging um die Welt. Man versuchte, die Nowaja Gaseta immer wieder durch Angriffe und Schikane mundtot zu machen: Redaktionsmitglieder wurden zusammengeschlagen, bei der Arbeit im Büro durch amtliche Kontrollen gestört, mit Klagen und Verwarnungen der Medienaufsicht eingedeckt. Die Redaktion hielt stand. Sie arbeitete unter enormem Druck, leistete sich keine Fehler.

Ekaterina Glikman stiess 2002 zur Redaktion, wollte im jungen Alter von 20 Jahren direkt zum Investigativteam. Sie schrieb über abgelegene Regionen jenseits der Tundra, in die seit Jahren keine Journalistin je einen Fuss gesetzt hatte. Sie recherchierte über das kriminelle System, welches die Regierung mit illegaler Fischerei und Kaviarhandel aufrechterhielt. Später habe sie als junge Redaktorin zudem eine Zeitlang Anna Politkowskajas Texte redigiert, die damals schon ein Megastar war, erzählt Glikman und lächelt verschmitzt – ein Geheimnis zwischen ihr und dem damals zuständigen Chefredaktor. Dieser sei nicht mehr klar gekommen mit Politkowskajas Schreibflut. Jeder Artikel die Geschichte einer Person, die gekidnappt, gefangengehalten oder gefoltert wurde; im Versuch, mit Publizität für deren Sicherheit zu sorgen. «Also schrieb und schrieb sie», erinnert sich Glikman.

Die Ermordung der bewunderten Journalistin hinterliess Spuren bei Ekaterina Glikman. Ebenso die mutmassliche Vergiftung Juri Schtschekotschichins, ihres Vorgesetzten in der Investigativ-Abteilung, einige Jahre zuvor. Nach 2010 zog sich Glikman aus dem Journalismus zurück. «Ich war ausgebrannt, enttäuscht, habe mich machtlos gefühlt. Wenn du schreibst und publizierst, und nichts verändert sich in diesem korrupten System – was willst du tun?», schaut sie heute zurück. Sie wandte sich anderen Dingen zu, versuchte es mit Drehbuchschreiben.

Doch sie kam zurück zum Journalismus, zurück zur Nowaja Gaseta. Nur schrieb sie von nun an andere Geschichten.

Widerstand

«Ich änderte meinen Fokus», erzählt Glikman: «Von schlecht zu gut. Ich fing unbewusst an über gute Menschen zu schreiben.» Sie zeigt einen ihrer Artikel in einer der Zeitungen, die auf dem Tisch ihres Wohnzimmers in der Altstadt liegen: Ein Stück über den Schweizer IKRK-Arzt Marcel Junod und seinen weltweiten humanitären Einsatz während der beiden Weltkriege. Er ist mehr als vier Seiten in Tageszeitungsformat lang – so lang, wie man hierzulande kaum je Artikel liest.

Wo war der Idealismus der jungen Journalistin geblieben? Glaubte sie, mit diesen Themen etwas verändern zu können in Russland?

«Ja», erwidert Ekaterina Glikman. «Ich wollte mit vorbildlichen Beispielen – vor allem russische Persönlichkeiten – zeigen, wie man seine Würde, seinen Selbstrespekt in dem totalitären System behalten kann. Um für deine Sicherheit und für deine Familie zu sorgen, schlängelst du dich durch. Machst Dinge, die nicht deinen Werten entsprechen; Kompromisse, um zu überleben. Und doch ist es möglich, Widerstand zu leisten.»

Glikman nennt ein Beispiel: «Für eine Recherche reiste ich nach Sibirien, wo sich eine Tragödie abgespielt hatte: Eine Explosion in einer Kohlenmine, bei der fast 100 Männer getötet wurden. Die Bergbau-Company wollte die Ursache des Unfalls vertuschen. Es kam zur Explosion, weil sie sich zu wenig um die Sicherheit gekümmert hatte. Typisch, dass das in Russland passiert.»

Weil man sich nicht um Menschenleben schert?

«Ja, sicher», sagt Glikman. «Das ist die Geschichte meines Landes. Das Leben ist nichts wert. Menschenleben werden verschlissen und verschlissen.»

Sie habe ermitteln wollen, was passiert war und kam in diese Kleinstadt, in der plötzlich 100 gesunde Männer fehlten. «Ich traf einen Pensionär, der sein ganzes Leben lang Bergmann gewesen war, und die Füsse nicht stillhalten wollte. Er arrangierte für mich geheime Treffen mit anderen Bergarbeitern und schleuste mich zum Unglücksort. Es war sehr gefährlich für ihn, mir zu helfen.»

Sie haben über ihn als Vorbild geschrieben?

Damals nicht, entgegnet Glikman. «Ich musste ihn anonym halten. Aber später schrieb ich mehrfach über ihn. Immer wenn etwas Ungerechtes passierte, muckte er auf. Er ging an das russische Gericht – es gibt keine Chance, am russischen Gericht zu gewinnen, wenn du nicht Teil der Regierung bist. Also gewann er nie. Doch er tat es trotzdem, klagte Ungerechtigkeiten an, wenn kleine Autoritäten das Gesetz brachen. Er versuchte es.»

Und heute? Wie viele Leute versuchen wohl heute in Russland Widerstand zu leisten? Zumindest im Kopf?

«Jetzt? Das weiss niemand. Glauben Sie keiner soziologischen Umfrage. Die sind auf Kreml-Linie. Sie werden in westlichen Medien teilweise zitiert, weil die Leute im Westen nicht verstehen, wie schlimm es um die Diktatur in Russland steht.» Das russische Volk sei vergiftet worden, sagt Ekaterina Glikman. Sie sieht das Experiment, das Putin mit den Russen macht, als einzigartig in der Geschichte der Menschheit: Wie die Bürgerinnen und Bürger über so lange Zeit und in solcher Totalität gehirngewaschen wurden.

Medienzukunft eines Landes

Die Nowaja Gaseta Europa will dem entgegenhalten. Das neue Online-Medium zielt vor allem darauf, die Leute in Russland zu informieren. Doch wie erreicht man die russische Bevölkerung? Die Website wurde vor einigen Tagen gelauncht, wie lange sie in Russland zugänglich sein wird, ist eine Frage der Zeit. Um sie zu Hause in Russland weiterhin lesen zu können, muss man auf seinem Computer einen VPN-Zugang ins Ausland einrichten. In Estland und Lettland soll zudem bald eine gedruckte Version der Nowaja Gaseta Europa erscheinen. Doch das grosse Problem, erklärt Ekaterina Glikman: «Die Leute, die in Russland Fernsehen schauen – die wollen uns nicht lesen.»

Die Vize-Chefredaktorin hält sich aber auch hier an einen Schimmer der Hoffnung. Denn trotz Propaganda: Die ökonomische Situation in Russland verschlechtert sich, viele wollen das Land verlassen. Die Leute würden merken, dass etwas nicht stimme, sagt Ekaterina Glikman. Spätestens dann, wenn die Nachrichten der getöteten Söhne zurück in die Kleinstadt kämen. «Natürlich kann man sich den Tod schönreden und von Heldentum sprechen. Aber du willst nicht, dass deine Kinder sterben – auch nicht einen sinnvollen Tod. Das Risiko, dass mehr junge Männer mobilisiert werden, verunsichert die Menschen. Sie glauben der Regierung, gleichzeitig haben sie Angst. Also setzen sie sich an den Computer und googeln nach ‹Mobilisierung›.»

Tun sie das, finden sie einen Artikel der Nowaja Gaseta – einer Zeitung, die sie sonst niemals lesen würden: einen Artikel von Ekaterina Glikman über die Zwangsrekrutierung, ja die Männerjagd in Donezk und Luhansk. Glikman sprach telefonisch mit jungen Männern, die sich versteckt haben, und mit solchen, die gegen ihren Willen in den Krieg geschickt wurden. Das habe funktioniert, sagt Glikman: «Ein riesiges Publikum, über 1,4 Millionen, klickte auf den Artikel, viel mehr als uns normalerweise lesen.»

Noch ist die Nowaja Gaseta Europa neu, man weiss nicht, wie die Journalistinnen und Journalisten werden vorgehen können. Viele befinden sich in Moskau – die Ausreise ist schwierig. Und einige wollen auch nicht gehen. Nobelpreisträger und Chefredaktor der ursprünglichen Nowaja Gaseta, Dmitri Muratow, zum Beispiel. Er entschied, für die Zukunft des Journalismus in seinem Land zu bleiben, seine Berufskollegen und Leserinnen nicht zu verlassen.

Am 7. April wurde Muratow im Abteil eines Nachtzugs Opfer eines Anschlags und mit einem Kanister roter Farbe attackiert.

Ekaterina Glikman sagt, ausser der leicht veräzten Augen gehe es ihm ok. «He is a tough guy.»

Und sie selbst, hat sie keine Angst vor Angriffen?

Das werde sie oft gefragt, sagt Glikman lächelnd. Für sie unverständlich – sie ist eine andere Welt gewohnt, Journalismus zu machen. Die Tür zu Hause in der Schaffhauser Altstadt schliessen ihr Mann und sie neuerdings aber dennoch ab.

Denkmal für die ermordete Journalistin Anna Politkowskaja vor der Redaktion.