«Wir wollen die Gesellschaft auch herausfordern»

26. April 2022, Marlon Rusch
Tamino Kuny (links) und Julian Wäckerlin vor der Gaskugel am Lindli. Foto: Robin Kohler
Tamino Kuny (links) und Julian Wäckerlin vor der Gaskugel am Lindli. Foto: Robin Kohler

Eine neue Generation von Architektinnen und Architekten provoziert mit der Abkehr von gewohnten Prozessen. Es lohnt sich, ihnen zuzuhören. ­Ein Stadtrundgang mit Julian Wäckerlin und Tamino Kuny vom ZAS*.

«Man ist nicht realistisch,
indem man keine Idee hat.»

(Max Frisch, «Wir selber bauen unsre Stadt», 1953)

Wie man mit Julian Wäckerlin und Tamino Kuny in bester Flaneurmanier durch den Schaffhauser Frühling spaziert, mit offenen Augen und gänzlich ohne Eile, rutscht es Wäckerlin irgendwann über die Lippen: «Weisst du, manchmal schauen wir unsere Arbeiten an und stellen fest: Wir haben ja fast nichts gemacht.» Er lächelt verträumt und fügt an: «Als Architekt stelle ich mir gern die Frage: Was will ich nicht bauen?»

Man lächelt unweigerlich zurück angesichts der Unbeschwertheit dieser jungen, aufrichtigen Architekten, die sich dem Kampf gegen den Primat der Ausnützungsziffer verschrieben haben. Und man freut sich darüber, dass ihre Ansichten nun offenbar auch in Schaffhausen auf Anklang stossen.
Wäckerlin und Kuny, ETH-Absolventen mit Jahrgang 1990 und 1993, haben kürzlich einen Pflock eingeschlagen in der hiesigen Architekten-Welt – respektive eine Linde gepflanzt.

Als eines von zwanzig Planerteams haben sie ein Projekt für den Wettbewerb Neugestaltung Kammgarnhof eingereicht. Ein alles andere als alltägliches Projekt. Kuny und Wäckerlin haben sich erdreistet, sich über die Bestellung der Ausschreibung hinwegzusetzen: Da war etwa ein Parkhaus gefordert – doch die beiden haben schlicht keines geplant.
Ihr Projekt «Lindentanz» schaffte es deshalb zwar wie erwartet nicht in die Ränge, doch es hat in der breit abgestützten Jury «vehemente Diskussionen» ausgelöst. Und es wurde besonders gewürdigt: Das Projekt «zelebriert den Geist des Ortes», schrieb die Jury, es sei «ein Weckruf für einen Paradigmenwechsel hin zu einer ressourcenschonenden Planung und Gestaltung unserer Stadträume».

Kurzum: ein Ritterschlag.

Die beiden jungen Architekten gehören dem ZAS* an, einer Gruppe von 20 bis 30 jungen Zürcher Architektinnen, die sich zusammengefunden haben, um die Art und Weise zu hinterfragen, wie die heutige Gesellschaft mit der gebauten Welt umgeht. Das Online-Magazin Republik widmete dem Kollektiv kürzlich eine ausschweifende Reportage und nannte die Planerinnen und Planer «jung, klug und ziemlich cool», sie seien «Revoluzzer», die «schlicht und einfach das Vokabular der Bürokratie des Bauwesens beherrschen».

Der Name des Kollektivs ist angelehnt an die Zürcher Arbeitsgruppe für Städtebau, kurz ZAS, die zwischen 1959 und 1989 für eine humane Stadt kämpfte, die nicht von grossen Generalunternehmen flächendeckend neu überbaut und um ihre Geschichte gebracht wird.

Und darum geht es auch dem ZAS*: keine kurzsichtigen Überbauungen, dafür Verdichtung, Stadtwerdung als vielschichtiger Prozess, angestossen durch genaues Beobachten, durch Achtung vor der Geschichte und der Umwelt; als Prozess, der sich von starren Strukturen löst und sich traut, auch einmal hunderte von Jahren in die Zukunft zu schauen.

Doch taugen die Rezepte des Zürcher Kollektivs auch für Schaffhausen? Und wie sieht er aus, dieser «Paradigmenwechsel», den Tamino Kuny und der Schaffhauser Julian Wäckerlin mit ihrem Kammgarn-Projekt angetönt haben? Die beiden sind am Ostermontag für einen Spaziergang angereist – mit einem Rucksack voller Ideen.

Gaswerkareal

Nach dem Auszug von SH Power will die Stadt das Gaswerkareal am Lindli ab 2024 entwickeln. Wohnungen sollen entstehen, ein Quartiertreffpunkt, Läden, Gastronomie. Doch gedacht wird grösser: Ein Perimeter, der bis zur Altstadt reicht, soll mit einer neuen Promenade aufgewertet werden, die Rheinuferstrasse könnte autofrei werden, indem der Verkehr auf die Buchthalerstrasse hinter dem Gaswerkareal geleitet wird.

Kuny und Wäckerlin haben sich erste Gedanken gemacht zum Rheinufer Ost, obwohl sie keine Firma sind, praktisch keine Bauerfahrung haben und es nicht unter die ausgewählten Planerteams geschafft haben.

Doch nicht gleich ein konkretes Projekt eingeben zu müssen, entspricht eigentlich durchaus ihrer Philosophie: «Es ist nicht unsere Art, etwas Fixfertiges zu erarbeiten und der Bevölkerung dann zu sagen: Schaut, so ein Areal bekommt ihr», sagt Tamino Kuny. «Wir wollen zuerst eine Methode vorschlagen, dann ein Projekt.»

Solche Sätze sorgen bei Menschen aus der Planungsbranche, die vertraut sind mit dem Kreditbewilligungsprozess unserer direkten Demokratie, natürlich für Hühnerhaut auf den Unterarmen. Ein Projekt (und vor allem sein Preisschild) muss zuerst von der Stimmbevölkerung bewilligt werden, danach werden Planerinnen gesucht, die sich Gedanken machen, wie man das umsetzen könnte. So läuft das hierzulande.

Doch ergibt das überhaupt Sinn?

Kuny und Wäckerlin sagen, man müsse eine Ausschreibung hinterfragen können, die Bevölkerung zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zu Überlegungen befragen, etwas entstehen lassen, darauf reagieren. «Wir sehen Architektur nicht als reine Dienstleistung, wir wollen die Gesellschaft auch herausfordern», sagt Kuny.

Sind die beiden einfach Utopisten?

Streift man mit den jungen Architekten durch das Gaswerkareal, staunt man darüber, wo ihre Augen hinwandern. Diese bleiben nicht nur an den Gebäuden kleben, sondern auch an kleinen Pflänzchen, die mit dem Asphalt kämpfen. Dann wiederum wird von der augenblicklichen Vergänglichkeit aus der ganz grosse Bogen geschlagen: «Was bedeutet eine Uferlinie?», fragt Wäckerlin in die Frühlingsluft. «Wie sieht es am Rhein in 200 Jahren aus? Was ist, wenn sich die Autos langsam, leise und umweltfreundlich bewegen – kann man dann die Rheinuferstrasse nicht belassen, wo sie heute ist? Schliesslich ist sie ja bereits gebaut, der Asphalt liegt auf der Erde, die Energie ist investiert. Wieso nochmals eine neue Strasse legen?»

Die beiden stehen vor der ausrangierten Gaskugel und die Frage kommt auf: Wie fühlt sich diese an, wenn man drin steht? Nie würden sie ein derart ikonisches Relikt abreissen, ohne es zuvor zumindest erfahrbar gemacht zu haben. Wer weiss, was sich dabei ergeben könnte. Und man fragt sich, was eigentlich genau Architektur ist und wo sie ihre Grenzen hat. Jedenfalls geht es hier um weit mehr als ums Bauen. Es ist vielmehr ein Spiel der Sinne.

Die beiden Freunde haben denselben Albtraum – den «Masterplan». Doch irgendwie klingt das alles auch ziemlich vage. Auf solche Gedanken könnte man ja auch ohne ETH-Studium kommen, wirft man ein. Nun lächelt auch Kuny: «Ist doch super.»

Der Unterschied zeigt sich wenig später auf dem Kammgarnhof: Die Überlegungen der beiden Architekten sind trotz der grossen Reduktion äusserst präzise. Von einer Utopie fehlt plötzlich jede Spur.

Kammgarnhof

Der Spaziergang führt vom Lindli über das neu gebaute Rheinufer West zur Kammgarn. «Die Rheinuferstrasse ist eine Bausünde wie die Hardbrücke in Zürich», sagt Wäckerlin. «Das hat aber auch seine Faszination. Es braucht sich bloss etwas Kleines zu verändern, dann wird es hier plötzlich toll.» Mit Tempo 30 etwa wäre der Zugang des Kammgarnhofs zum Wasser bereits deutlich verbessert.

Das klingt hier alles langsam wie ein Motto:­ Chancen statt Probleme.

Parallel zur Rheinuferstrasse liegt der Kammgarnhof im Halbschatten, heute ein Parkplatz. Im Zentrum des Planerwettbewerbs stand, dass die Autos in den Untergrund verschwinden sollen, in ein neu gebautes Parkhaus.

Die Rosskastanie auf dem Kammgarnhof hat noch eine Lebensdauer von 50 Jahren. Was kommt danach? Foto: Robin Kohler
Die Rosskastanie auf dem Kammgarnhof hat noch eine Lebensdauer von 50 Jahren. Was kommt danach? Foto: Robin Kohler

Das Projekt «Lindentanz» von Wäckerlin und Kuny hat andere Pläne. Es beruft sich auf den Hof als klösterlicher Baumgarten, wo ein Orkan im Jahr 1738 eine gigantische Linde zerstörte, in deren Geäst sich eine Gastwirtschaft befunden hatte. Der Hummus, der heute unter dem Parkplatz liegt, soll nicht einem Parkhaus weichen, er soll Nährboden sein für einen neuen, künftigen Baumgarten.

Kuny und Wäckerlin haben einen Hain aus Zerreichen neben der heutigen Kammgarn-Terrasse geplant, dort, wo heute die 100-jährige Rosskastanie steht. Auf der anderen Seite des Platzes, neben der Rheinuferstrasse würde eine quaderförmige Tanzlinde gepflanzt und anschliessend «konstruiert», ins Geäst des Baumes sollen Bretterböden gezogen werden, Generation für Generation könnte weitere Plattformen anlegen und unterschiedlich besetzen.

Dazwischen, auf dem heutigen Parkfeld, haben sich die Architekten auf einen Kubus beschränkt, auf einen Leitungskanal unter dem Boden, um etwa temporär eine Bühne aufzubauen und betreiben zu können. Grossomodo aber bliebe der Platz leer. Einschnitte in den Asphalt würden dafür sorgen, dass sich kleine, anarchische Gewächse bilden, um das Mikroklima zu verbessern.

Unter der Woche könnten hier nach wie vor Autos parkieren, gleich viele wie im bestellten Parkhaus Platz hätten, am Wochenende würde man den Platz vielleicht für Autos sperren und anderweitig nutzen. «Für uns bedeutet Architektur nicht nur, Baupläne zu machen, sondern auch Nutzungspläne», sagt Julian Wäckerlin, und Tamino Kuny ergänzt: «Wieso sollen wir all den Beton in die Erde pumpen, in einen Raum, der nur für Autos bestimmt ist, wenn gleich nebenan verschiedene Parkhäuser nicht ausgelastet sind? Wo man nicht weiss, wie die Mobilität in 50 Jahren aussehen wird? Indem man einen Raum nur für Autos baut, verbaut man sich auch ganz viel Potential.»

Überall Löcher zu buddeln, das sei eine typische Schweizer Idee, sagt Wäckerlin. In Italien sei ein Platz ohne Autos oder ein Strand ohne Zufahrtsstrasse langweilig, in Frankreich seien Autos ebenso kein Problem. «In der Schweiz haben wir halt genügend Geld für Tiefgaragen. Wie viel graue Energie da aber drin steckt – die Transportwege, Bagger, Kräne, Zementmischer – das ist nie ein Thema.»

Die Jury urteilte folgendermassen über «Lindentanz»: «Die Rohheit im Ausdruck, die dem Projektvorschlag innewohnt, legt ein Gewicht auf den Kulturbetrieb mit grösseren Veranstaltungen und zelebriert den Charme des Gewöhnlichen im Alltagsbetrieb.» Das Projekt ist ein deutlicher Kontrast zum Siegerprojekt, bei dem der Kammgarnhof in verschiedene Abschnitte mit klarer Funktion unterteilt wurde. Das Projekt ist stark an der heutigen Kastanie ausgerichtet, die gemäss Baumprotokoll noch eine Halbwertszeit von 50 Jahren hat. Und dann?

Wo beim Siegerprojekt die Tiefgarageneinfahrt platziert wird, stünde bei Wäckerlin und Kuny die Tanzlinde. Ihr Projekt ist das mit Abstand CO2-ärmste und günstigste der zwanzig eingereichten Projekte. Das Geld, das so eingespart würde, hätten die beiden jungen Planer darin investiert, jemanden anzustellen, der die Linde pflegen würde.

Das Budget hätte wohl für viele Jahre gereicht.

Man hört den beiden zu, und langsam zeichnet sich noch ein Motto ab: «Sowohl als auch» statt «entweder oder».

Güterbahnhof

Eine halbe Stunde später am anderen Ende der Altstadt. Hier, im Güterbahnhof, ganz hinten, wo der Zugang zwar offen ist, sich jedoch mit jedem Schritt der Eindruck verfestigt, dass man hier irgendwie nicht sein sollte, liegt ein U-Boot.

«Nautilus» haben Julian Wäckerlin, Tamino Kuny und ihre Kollegin Meghan Rolvien das ausrangierte Dienstgebäude aus der Feder des SBB-Hofarchitekten Max Vogt getauft. Und dieses «Nautilus» aus dem Jahr 1968 wollen sie auftauchen lassen.

2021 haben die beiden einen Brief mit Anregungen an die SBB geschickt: Sie wollten «einige Themenfelder öffnen» und versuchen, «die schwierige Ausgangslage des Gebäudes in Potenziale umzudeuten».

Jetzt schlendern sie den Gleisen entlang durch die riesige, verlassene Gedankenspielwiese Güterbahnhof. Das Dienstgebäude liegt mitten im Gleisfluss. «Das ist natürlich orange Zone», sagt Wäckerlin, orange wie die Leuchtwesten der Gleisarbeiter. Die Sicherheitsauflagen hier seien streng, aber das könne man sich ja auch zu Nutzen machen. Wäckerlin lächelt wieder.

Statt mit vorauseilenden Bedenken jegliche Kreativität im Keim zu ersticken, solle man sich zuerst einmal Zeit nehmen für eine Idee.
Es gebe ja auch nicht-menschliche ­Akteure, Pflanzen, kleine Tiere, Pilze, die einen Beitrag zur städtischen Vielfalt leisten könnten. Wenn die Sicherheitsauflagen für Menschen und grosse Tiere streng seien, müsse man eben um sie herumplanen.

Ausserdem sei das Dienstgebäude über die Fulachbrücke von oben her zugänglich. Wenn unten, auf Gleisebene, orange Zone sei, könne man sich in einem ersten Schritt ja mal oben breit machen. Im ersten Stock und auf dem Dach fahren ja keine Züge. Die Architekten schreiben: «Das Gebäude könnte über minimale bauliche Massnahmen wieder mit dem umliegenden Territorium verflochten werden: Unter- und Überführungen, Treppen, Lifte, Luftbrücken, mobile Zugänge.» Die Zeitzonen, in denen sie denken: 7, 21 und 200 Jahre.

«Zuerst würden wir hier aber die Türe zum Areal aufmachen, ein kleines Planungsbüro vor Ort einrichten, Leute der SBB zum Austausch einladen, Fachstellen, Anwohnerinnen und Anwohner. Da gibt es Wohnungen, die neue Moschee, hinten die Brauerei, Gewerbe – das schreit nach Austausch», sagt Kuny.

Klar, ein solches Gebäude wie die «Nautilus» würde man heute nicht mehr so bauen. «Aber heute steht es nunmal da, oder?»

Epilog

Wenig später sitzen die beiden bei vegetarischem Kottu Roti und indischem Bier in der Unterstadt, umgeben von mittelalterlichen Fassaden. Wie sieht sie denn aus, die ideale Stadt? «Puh, die gibt es nicht», sagt Wäckerlin. Dann erzählt Kuny, dass er kürzlich zum ersten Mal in Florenz gewesen sei: «Eine Stadt, die für ihre Architektur bekannt ist, die mehrheitlich aus einer Epoche stammt, aus der Renaissance. Das merkt man, wenn man sich darin bewegt. Rom ist viel geschichteter, da zeigen sich an beinahe jeder Strassenecke tausende Jahre Geschichte. Das finde ich viel spannender.»
Es sei ja erstaunlich, sind sich die beiden einig, dass eine Generation von Gebäuden, diejenigen aus den 50er-, 60er- und 70er-Jahren, derzeit geradezu aussortiert werde. «Schwamendingen etwa wird gerade komplett ersatzneugebaut!» Daran sehe man, dass es in der Architektur darauf ankomme, was für eine Generation Menschen gerade an den Schalthebeln der Macht sitzen und bestimmen können, wie die Welt aussehen soll. «Doch wie nachhaltig ist das angesichts dessen, dass Ästhetik dauernd im Wandel ist?»

Man sitzt da, isst, trinkt und glaubt, es wäre – gerade angesichts all der globalen Krisen – nicht verkehrt, wenn mehr Leute wie Julian Wäckerlin und Tamino Kuny mit ihren sanften, umsichtigen Methoden an diesen Schalthebeln sitzen würden.