Fluchthilfe via Tinder

22. April 2022, Sharon Saameli
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Das Ausmass der Freiwilligenarbeit für aus der Ukraine Geflüchtete ist enorm. Doch die ­parastaatlichen Strukturen haben ihre Tücken.

Bald zwei Monate ist es her, seit die russischen Truppen einen Angriffskrieg gegen die Ukraine gestartet haben. Gemäss Schätzungen des UNHCR haben inzwischen über fünf Millionen Menschen das kriegsversehrte Land verlassen – es handelt sich um die grösste Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. In der Schweiz haben sich Stand Mittwoch schon 37435 Geflüchtete registriert; der Kanton Schaffhausen meldet aktuell deren 430; schon deutlich mehr, als der nationale Verteilschlüssel vorsehen würde.

Die Solidarität, die den Ukrainerinnen und Ukrainern entgegenschwingt, ist enorm. So enorm, dass das Schaffhauser Sozialamt schon kurz nach Beginn des Kriegs eine Anlaufstelle eigens für Freiwillige aufgebaut hat. Das ist auch als Versuch zu verstehen, einen Überblick über das breite zivilgesellschaftliche Engagement zu bekommen. Denn dadurch, dass sich ukrainische Geflüchtete frei in der Schweiz bewegen und niederlassen können, entglitten sie der behördlichen Kontrolle teilweise. Und die freiwilligen Initiativen können ihre Tücken haben.

Die Hilfsbestrebungen sind vielfältig: PHSH-Studierende sowie Schulklassen in Neunkirch und Stein am Rhein etwa sammelten Spendengelder über den Verkauf von Gebäck; städtische und kantonale Kirchenverbände in Schaffhausen schickten Sachspenden und über 10 000 Franken an christliche Organisationen in der Westukraine; Vereine organisierten Solikonzerte oder spendeten den Erlös von Kleider- und Schuhsammlungen. Andere helfen jenen, die bereits hier angekommen sind: mit Einsätzen im Durchgangszentrums Friedeck etwa (AZ vom 7. April 2022), mit Unterstützung bei Behördengängen – oder auch mit der Aufnahme von Geflüchteten im eigenen Zuhause.

Dabei fällt auf: Eine Ballung dieses Engagements und ganz besonders der privaten Unterbringung findet man in Schaffhausen nicht unbedingt in der Stadt. Sondern im Klettgau.

«Ich helfe mir selber»

Wer die Gründe dafür verstehen will, landet zuallererst vor dem Restaurant Gemeindehaus in Beringen. Und bei seinem Besitzer: Albin von Euw. Auf die Frage, wie er denn sein Herz für Geflüchtete gefunden habe, fährt er sich durch die Haare. «Ich helfe nicht den Ukrainerinnen, ich helfe mir selber.» Er habe einfach viel Glück gehabt im Leben. Was ihn antreibt, ist also schlechtes Gewissen – der Wunsch, etwas zurückzugeben. Zuallererst gespürt habe er dies in Kolumbien, letztes Jahr, wo er während einiger Monate für eine NGO arbeitete und Baracken baute für venezolanische Geflüchtete.

Sein Privatleben stellt er seither hinten an. «Ich habe mir gesagt: Ok, das mit de ­Wiiber lömmer sii», erzählt der ledige 45-Jährige. «Stattdessen will ich lieber Menschen helfen. Das bringt mir mehr.»

Dann begann der Ukrainekrieg.

In von Euws Gästehaus gab es Platz. Er meldete sich bei Campax – eine Organisation, die mit der Schweizerischen Flüchtlingshilfe Privatunterkünfte vermittelt – als Host an. Der Weg über die Behörden ging ihm aber nicht zackig genug: Von Euw begann, in den sozialen Medien nach Kontakten im Osten zu suchen, und bot bald der 20-jährigen Sasha, ihrer Mutter und ihrem zehnjährigen Bruder seine Unterkunft an. Das war nur der Anfang. Am Tag der Einreise seiner Gäste gründete er die Facebookgruppe «Schaffhausen Ukraine Hilfe» (aktuell 125 Mitglieder), wo er nicht nur Herzchen, die von einer Ukrainerin gestrickt worden sind, weiterverkaufen will. Sondern auch regelmässig festhält, was ihn umtreibt.

Albin von Euw in seiner Lounge im Restaurant Gemeindehaus, Beringen. Foto: Robin Kohler
Albin von Euw in seiner Lounge im Restaurant Gemeindehaus, Beringen. Foto: Robin Kohler

Dazu gehört auch, dass er über Tinder mit Hunderten Frauen in Kiew in Kontakt steht. «Nicht immer einfach, wenn dir ein 20-jähriges Mädchen schreibt, sie hätte so unglaublich Hunger, und du kannst nicht helfen», schreibt von Euw vor ein trauriges Emoji. Als er in der Lounge seines Restaurants sitzt und mit der Zigarette in der Hand über seine Matches scrollt, erzählt er, dass er helfen wolle, Informationen über die Schweiz weiterzugeben. «Viele glauben, sie könnten sich die Schweiz nicht leisten. Da erkläre ich ihnen, dass der Staat für sie aufkommt.» Und warum gerade über die Dating-App Tinder? «Ich habe sonst keine Möglichkeit, mit Leuten vor Ort in Kontakt zu kommen. Ich bin nicht zum Flirten oder Daten da. Es ist ja gut und recht, wenn die mich deswegen liken, aber ich habe keine Zeit für so Gspässli», sagt von Euw.

Vor Ausbeutung schützen

Albin von Euw bewegt sich in einem heiklen Feld. Wer flüchtet, ist auf Unterstützung angewiesen: für Transport, Unterkunft, Nahrung, Arbeit. Das macht verletzlich und ausbeutbar – nicht nur, aber besonders für Frauen auf der Flucht sind sexualisierte Gewalt und Menschenhandel Realität. Die Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ), mit welcher der Kanton Schaffhausen zusammenarbeitet, fordert aus diesem Grund unter anderem direkte Transporte in die Schweiz, nicht nur aus der Ukraine, sondern auch aus Afghanistan, Griechenland oder Libyen, sowie eine Ausweitung des Schutzstatus S für alle Opfer von Menschenhandel. Das Staatssekretariat für Migration startete Anfang vergangene Woche eine Kampagne, die auch Ratschläge enthält, wie sich Geflüchtete vor Missbräuchen schützen können, sowie Notfallnummern und Adressen der kantonalen Opferberatungsstellen (in Schaffhausen ist dies die Fachstelle für Gewaltbetroffene – ein Frauenhaus gibt es im Kanton nicht).

Stand Heute hat der Beringer Albin von Euw schon dreissig Menschen in die Schweiz geholt. Sie kommen bei Kollegen und Bekannten von ihm in der Gegend unter. Er sagt, dass er sich der Ausbeutungsproblematik bewusst sei. «Natürlich sind die Leute vorsichtig. Du überlegst dir als junge Frau zwei Mal, zu wem du gehst, du bist ihnen ja auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Darum ist viel Vertrauen wichtig.» Die 20-jährige ­Sasha helfe ihm etwa bei Übersetzungen, das unterstütze den Vertrauensgewinn; demnächst wollen die beiden zusammen nach Warschau reisen, um für die Schweiz als Zufluchtsort zu werben. Idealerweise würden Geflüchtete direkt nach Schaffhausen kommen, sagt von Euw, «damit ich sie sehe und in der Nähe bin, wenn etwas ist». Sie zu völlig fremden Menschen zu schicken, dabei sei ihm selber unwohl.

Dass der Kanton die Freiwilligenarbeit koordiniert, hat genau damit zu tun: Das Sozialamt will nach Möglichkeit vor einer Platzierung Gastgeberinnen wie Geflüchtete kennenlernen und darüber aufklären, was eine Wohngemeinschaft für alle Parteien bedeutet. Gerade auch darüber, welche Rechte die Geflüchteten haben – und welche Unterstützung das Sozialamt leisten kann. «Die Botschaft, sich mit uns in Verbindung zu setzen, ist angekommen», sagt Sozialamtschef Andi Kunz. Allerdings geschieht gerade, womit das Sozialamt gerechnet habe: Die ersten Gastfamiliensettings brechen auseinander. Fälle von mutmasslicher Ausbeutung seien ihm bis anhin nicht begegnet. «Es gibt vereinzelte Fälle, in denen die Erwartung für Leistung und Gegenleistung übersteigt, was in einer WG üblich wäre. Wir haben in einem Fall den Hinweis erhalten, dass erst Kost und Logis versprochen wurde – und die Geflüchteten dann den Haushalt machen sollten. Sie haben sich dann aber selber aus diesem Verhältnis befreit.»

Die Wege der Freikirchen

Manchmal sind es auch bereits bestehende Beziehungen, die Menschen aus der Ukraine direkt Schaffhausen ansteuern lassen. Oder eben: den Klettgau.

In Hallau etwa hat sich Anfang März, knapp zwei Wochen nach Kriegsbeginn, eine Grossfamilie aus der südwestlichen Ukraine eingefunden: drei Mütter mit insgesamt 15 Kindern, eine Schwester und ein Ehemann. Die Ortswahl am äusseren Rand des Kantons Schaffhausen – kein Zufall.

Die Familie ist befreundet mit dem Verein DCG Hallau, der in der Ukraine landwirtschaftliche Strukturen aufbaute und begleitete. Für Elisabeth und Ernst Gasser war klar, dass sie die Familie zu sich einladen wollte, nachdem der Krieg ausgebrochen war. Die Gruppe fand erst im rumänischen Bukarest Unterschlupf, bevor einige Mitglieder des Vereins sie dort abholten und mit Minibussen nach Schaffhausen brachten. Einige Geflüchtete kamen bei ihnen unter, andere im DCG-Vereinslokal Friedau, ein Teil hat inzwischen eine eigene Wohnung erhalten. Das Lokal bietet eine Küche und einen Aufenthaltsraum, und gemäss Klettgauer Bote konnten die Kinder bereits mit der DCG-Jungschar Zeit verbringen. Auch die Einschulung geht voran.

Elisabeth Gasser klingt entspannt, als sie den Telefonhörer abnimmt. Auch nach einem Monat Zusammenwohnen. «Es ist eine Herausforderung, aber wir lernen, einander besser zu verstehen. Ich glaube, das gelingt auch. Und mit der Zeit ergibt sich das Nächste.» Als sie ausführt, wie der Verein DCG mit der Familie verbunden ist, benennt sie diese oft als «Freunde» – solche Freunde habe der Verein im Übrigen auf der ganzen Welt.

«Uns ist wichtig, dass solche Vorhaben an den Bedürfnissen der Geflüchteten ausgerichtet sind.»

Andi Kunz, Chef Kantonales Sozialamt

Für «DCG Hallau» findet man im Netz kaum Resultate. DCG steht kurz für Die Christliche Gemeinde, geläufiger ist sie den meisten unter dem Begriff Norweger-Bewegung. «Wir haben bestimmt, so zu leben, wie es Gottes Wort vorsieht», fasst Elisabeth Gasser dies zusammen. Die grösste DCG-Gemeinschaft des Landes verzeichnet bis heute die Ostschweiz, wo die Bewegung einst Wurzeln schlug. Die Grossfamilie, die aus der Ukraine nach Hallau flüchtete, ist Mitglied der freikirchlichen Gemeinde.

Der ideale Ablauf

Sozialamtschef Andi Kunz bestätigt, dass Kirchen und, auf dem Land, gerade auch Freikirchen eine grosse Rolle spielen, wenn es ums Engagement für Geflüchtete geht. So gut und wichtig dieses ist: «Uns ist wichtig, dass das Vorhaben wohlüberlegt, nachhaltig und an den Bedürfnissen der Geflüchteten ausgerichtet ist.» Eine Freikirche aus der Region sei unlängst auf das Sozialamt zugegangen, weil sie eine Gruppe Geflüchteter in einer Schaffhauser Gemeinde einquartieren wollte. «Ich werde hellhörig, wenn mir gesagt wird, die Geflüchteten würden dann tagsüber am kirchlichen Programm teilnehmen», sagt Kunz. Missionarische Bestrebungen will er jener Kirchgemeinde nicht unterstellen. «Teilweise handelt es sich auch bei den Geflüchteten um Personen, die bewusst den kirchlichen Weg wählen.»

Im konkreten Fall habe er sich mit den kirchlich Verbundenen mehrfach ausgetauscht; jenen leuchtete dann ein, dass eine gruppenweise Aufnahme von wenigen Wochen nicht sinnvoll und insbesondere für die schulpflichtigen Kinder keine gute Lösung sei. «Aber eigentlich ist dies der optimale Ablauf: Jemand hat eine Idee, die er oder sie umsetzen will, und kommt auf uns zu. Dann weiss man über die Bedingungen Bescheid und kann einen bewussten Entscheid fällen.»

Dass die Kantonsbehörde bei parastaatlichen Strukturen Vorsicht walten lässt und sie unter ihre Obhut bringen will, erstaunt an sich nicht. Die Vorsicht hat offensichtliche Gründe – nicht in jedem Fall lässt sich guter Wille von ungewollten Folgen trennen. Inzwischen habe das Sozialamt aber einen guten Überblick darüber, wer sich wo sinnvoll betätigen kann. Dass die vielfältigen Formen zivilgesellschaftlicher oder kirchlicher Freiwilligenarbeit abebben würden, zeichnet sich zurzeit noch nicht ab.

Erfahrungsgemäss wird dies früher oder später aber eintreten. Auch im Klettgau.