Die Polizei hat die 1.-Mai-Feier und den Klimastreik mit einer ganzen Reihe neuer Vorschriften belegt. Die Klimajugend lässt sich davon abschrecken und bläst ihre Demo ab.
Die Stadt Schaffhausen zieht ein neues Regime im Umgang mit bewilligten Demonstrationen auf. Erlaubt ist nur noch, was nicht stört, scheint die Devise zu sein. Hat das mit den unbewilligten Corona-Demos zu tun?
Am 29. März beantwortete der Stadtrat eine Kleine Anfrage von Christian Ranft (AL/SP). Darin hatte der Grossstadtrat eine Auskunft darüber erbeten, wie der Stadtrat nach den Corona-Demonstrationen mit Bewilligungen für politische Kundgebungen verfahren will.
Wir erinnern uns: Für drei grosse Umzüge hatten die Veranstalter keine Bewilligung eingeholt. Am 28. August 2021 entschied die Stadtpolizei, die Demonstration mit mehreren hundert Teilnehmern vor Ort spontan zu bewilligen, ebenso am 15. Januar 2022.
Einzige Auflage: eine vorgegebene Route durch die Innenstadt. An diese hielten sich die Massnahmengegner und Rechtsextremen, die unter dem Lärm der Trychler und Lautsprecherdurchsagen durch die Stadt zogen, bei mindestens einer Gelegenheit aber nicht und überquerten die Bachstrasse.
In der Antwort auf Christian Ranfts Kleine Anfrage erklärte der Stadtrat, die spontanen Bewilligungen der Corona-Demos würden für andere Kundgebungen keine Folgen haben: «Wir werden nicht von der bewährten Bewilligungspraxis abweichen.» Wer eine Kundgebung durchführen will, muss auch in Zukunft ein schriftliches Gesuch stellen und hoffen, dass dieses von der Stadtpolizei bewilligt wird. Mit dieser Praxis habe man «jahrelang gute und problemlose Erfahrungen» gemacht, schreibt der Stadtrat. Ändern werde sich also nichts.
Jetzt zeigt sich: Das stimmt nicht. Neue Routen werden vorgeschrieben, dazu gibt es eine ganze Reihe von Auflagen, die einer Einschränkung der von der Verfassung garantierten Versammlungsfreiheit gleichkommen.
Der AZ liegen mehrere Bewilligungsschreiben für Kundgebungen vor, die zeigen: Die Bewilligungspraxis hat sich sehr wohl geändert. Nach den Corona-Demonstrationen ist sie deutlich strenger geworden. Die Leidtragenden sind aber nicht die Corona-Demonstrierenden, die gar nicht um eine Bewilligung ersuchen – sondern die Veranstalter anderer Kundgebungen, die sich an die Regeln halten wollen: der Klimastreik oder die 1.-Mai-Feier.
Nur noch eine Route
Als Matthias Frick, Präsident des Gewerkschaftsbundes, in diesem Jahr die Bewilligung für die Kundgebung am 1. Mai beantragte, staunte er jedenfalls nicht schlecht.
Die Route – seit vielen Jahren immer die gleiche, von der Vorstadt über die Schwertstrasse und auf der Bahnhofstrasse einmal runter und wieder hoch und schliesslich zum Fronwagplatz – werde dieses Jahr nicht bewilligt, so die Stadtpolizei. Stattdessen werde dem 1. -Mai-Umzug eine andere Route vorgegeben: Fronwagplatz–Vordergasse–Kirchhofplatz– Webergasse–Vorstadt–Fronwagplatz. Ein Rundlauf, der sich fast ausschliesslich durch die Fussgängerzone bewegt also.
Für Matthias Frick ist das unverständlich. «Es stört mich, dass wir nicht die übliche Bewilligung bekommen», sagt er. Auf Nachfrage bei der Stadtpolizei habe diese aber kein Entgegenkommen gezeigt, sondern auf der neuen Route bestanden. Als Begründung seien Sicherheitsbedenken angeführt worden und explizit auch die vergangenen Corona-Demos erwähnt worden.
Den Klimastreikenden, die für den 9. April einen Aktionstag und eine Kundgebung planten, ging es ähnlich. «Wir hatten eigentlich eine andere Route beantragt, über die Bachstrasse, um Präsenz zu zeigen», erklärt Vincent Will vom Organisationskomitee Klimastreik. In der von der Stadtpolizei ausgestellten Bewilligung wurde ihnen aber die gleiche Route vorgeschrieben wie dem 1.-Mai-Umzug. Wird in Zukunft jede Demonstration in Schaffhausen diese Route nehmen müssen?
Das ist sehr gut möglich, denn auf Nachfrage hat Stadträtin Christine Thommen eine ganz andere Erklärung dafür, warum nicht über die Bahnhofstrasse marschiert werden darf: die Elektrobusse. Diese müssten regelmässig die Ladestationen am Bahnhof anfahren können, erklärt sie. Ansonsten müsste der Busverkehr unterbrochen werden, wie Abklärungen mit dem VBSH ergeben hätten. Das erklärt die neue Einschränkug für den 1. Mai, nicht aber die gegenüber den Klimastreikenden.
Strengere Auflagen
Die Route ist aber nicht das Einzige, das sich für Demonstrationsveranstalter geändert hat. «Wir werden mit immer neuen und strengeren Auflagen konfrontiert», erläutert Vincent Will.
Zum ersten Mal steht in der Demonstrationsbewilligung für den Klimastreik etwa: «Das Bemalen des öffentlichen Untergrundes mittels farbiger Kreide oder Ähnlichem ist verboten», und: «Die Verwendung von Lautsprecheranlagen ist nur für Durchsagen bzw. Reden in Zimmerlautstärke gestattet.» Mit anderen Worten: Ihr dürft demonstrieren, aber bitte so, dass es möglichst niemand merkt. Auch die Reden und die Musik am 1. Mai dürfen nur noch «in Zimmerlautstärke» erklingen.
Für Will sind diese Auflagen «überraschend und aus der Luft gegriffen». Viele der Auflagen lesen sich wie die Hausordnung eines Internats: die Mittagsruhe einhalten, nicht laut sein, nicht an den falschen Stellen stehenbleiben, den Verkehr nicht behindern, nicht Stickern, nicht Flyern.
Einfach ignorieren sollte man die Regeln aber nicht. Denn das Bewilligungsschreiben enthält den Hinweis: «Vom Veranstalter kann Ersatz für Schäden verlangt werden, die auf eine Verletzung der Bewilligung zurückzuführen sind.» Erschwerend kommt hinzu, dass der Gesuchstellende laut Bewilligung für alle Teilnehmenden der Demonstration verantwortlich ist.
Manuela Hugentobler, Generalsekretärin der demokratischen Jurist*innen Schweiz, sieht in den Auflagen einen Versuch, Demonstrationen immer weiter einzuhegen: «Mit den übertrieben strengen Auflagen will man womöglich eine Grundlage dafür schaffen, später dem Verantwortlichen Kosten auferlegen zu können.» Denn die Wahrscheinlichkeit, dass irgendeine Teilnehmerin doch zur Kreide greift oder einen Sticker klebt, ist relativ gross – und vom Veranstalter kaum zu kontrollieren.
Nicht nur der Klimastreik, auch der Gewerkschaftsbund ist mit immer strengeren Auflagen konfrontiert. Ein einfacher Vergleich zeigt: Im Jahr 2015 enthielt die Bewilligung für die 1.-Mai-Feier noch 10 Auflagen, dagegen werden in der Bewilligung von 2019 ganze 21 Auflagen aufgeführt. Und in diesem Jahr sind es sogar 26. Matthias Frick bestätigt, dass die Auflagen für die 1.-Mai-Feier immer weiter verschärft wurden. «Mit der Verselbständigung der Verkehrsbetriebe kam zum Beispiel hinzu, dass man uns androhte, ‹jegliche Aufwände durch Behinderungen› des Busverkehrs in Rechnung zu stellen», erzählt er.
Kostenüberwälzung angedroht
Die Androhung, Kosten auf den Bewilligungsnehmer abzuwälzen, hat System. Denn in den neueren Bewilligungsschreiben für sowohl Klimastreik als auch 1.-Mai-Feier wird der Veranstalter nicht nur gewarnt, dass er für Schäden «vollumfänglich haftet», sondern auch, dass ihm Kosten für einen eventuell nötigen Polizeieinsatz auferlegt werden können.
Diese Androhung ist aber problematisch. Man spricht von einem «chilling effect», einer erhofften Abschreckungswirkung. Sie könnte dazu führen, dass sich manche gar nicht mehr trauen, Kundgebungen durchzuführen, aus Angst vor möglichen Kosten. «Das ist eine starke Einschränkung von Grundrechten», stellt Juristin Manuela Hugentobler fest.
Dazu kommt: Obwohl die Kostenüberwälzung neu in den Auflagen für die Demonstrationsbewilligungen aufgeführt wird, gibt es dafür eigentlich keine ausreichende gesetzliche Grundlage. In Artikel 28 des Polizeigesetzes heisst es zwar: «Werden durch private Grossveranstaltungen aussergewöhnliche Einsätze der Polizei notwendig, können den Veranstaltern anfallende Kosten auferlegt werden.» Aber eine so allgemeine Formulierung habe aufgrund der Unberechenbarkeit der Folgen für den Gesuchsteller einen noch grösseren Abschreckungseffekt, erklärt Manuela Hugentobler. Das stellte auch das Bundesgericht in einer Grundsatzerklärung zum «chilling effect» fest und erklärte einen ähnlichen Artikel im Luzerner Polizeigesetz deswegen für nicht verfassungskonform.
Juristin Hugentobler rät, allfällige Kostenüberwälzungen, die auf Grundlage solcher Bewilligungen verfügt werden, unbedingt anzufechten.
Klimastreik abgesagt
Ist eine Abschreckungswirkung das eigentliche Ziel der neuen Restriktionen für Demonstrationen in Schaffhausen? Wenn ja, zeigt die Strategie bereits Erfolg. Denn die Klimastreikenden haben sich entschlossen, am 9. April keinen Aktionstag in Schaffhausen zu veranstalten und sich stattdessen dem Klimastreik in Winterthur anzuschliessen.
Für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen des Klimastreiks sei es «nicht zumutbar», erklärt Vincent Will, dass während der Kundgebung eine Person für alle verantwortlich ist. Die Klimastreikenden suchten das Gespräch mit der Polizei, aber stiessen dort auf taube Ohren. An den Auflagen werde sich nichts ändern, habe diese geantwortet und das Organisationskomitee auf die Möglichkeit eines Rekurses an den Stadtrat hingewiesen.
«Für uns ist die Durchführung des Klimastreiks unter diesen Bedingungen nicht möglich», sagt Vincent Will. Und: «Es wird immer schwieriger, das Recht auf Demonstrationen auszuüben.»