Gute 13 Jahre lang war das Cardinal ein Anker im Schaffhauser Kneipen- und Kulturleben, bis es am 2. April zum letzten Mal die Tür und den Zapfhahn öffnete. Kurz davor traf die AZ die Wirtsleute zum Abschiedsgespräch.
AZ Salomé Jaquet, Samuel Hartmann, starten wir mit der vielleicht schwierigsten Frage: Warum hört ihr mit dem Cardinal auf?
Salomé Das ist überhaupt nicht schwierig.
Samuel Nein, gar nicht. Wir sind müde.
Salomé Mir möged nüm. Die Pandemie hat es gezeigt. Und uns noch müder gemacht.
Samuel Und sie hat uns Zeit eingeräumt, um zu reflektieren: Wollen wir das noch 20 Jahre lang machen? Eher nicht.
War der Entscheid wirklich ein Wollen und nicht ein Müssen?
Salomé Ja. Zuvor haben wir ja 13 Jahre durchgearbeitet. Der Lockdown hat uns mal aus dem Ganzen rausgerupft. Mir wurde auch plötzlich bewusst: Als ich hier anfing, war ich 28 (schnippt) und ups, plötzlich bin ich 42. Vielleicht ist das jetzt die letzte Gelegenheit, noch etwas Neues zu starten.
Was hat euch müde gemacht?
Samuel Die Verantwortung, die wir tragen: Ich vergleiche es oft mit einem Boot, das man auf Kurs halten muss. Über die ganzen 13 Jahre hat sich so viel in der Gesellschaft und in der Gastronomie verändert. Und auch wir haben uns verändert. Zum Glück konnten wir das, sonst hätten wir nicht überlebt. Das war wohl das Gute an unserem breiten Startkonzept zwischen Restaurant, Bar und Kultur: Dass wir nicht etwas Bestimmtes durchbängeln mussten. Essen machte am Anfang 10 Prozent unseres Umsatzes aus, mittlerweile sind es über 50 Prozent. Der Arbeitsdruck in der Küche ist dadurch enorm gestiegen. Wir beide waren das erste Mal in diesen dreizehn Jahren energetisch an einem Punkt, wo nicht der eine den andern auffangen konnte.
Ihr habt das Cardinal 2008 zu fünft eröffnet. Die andern drei sind nach und nach bald abgesprungen. Ihr beide habt den Laden ganz übernommen. Hättet ihr die Verantwortung lieber auf mehr Schultern verteilt?
Salomé Seit wir beide in der Küche sind, hat uns schon jemand gefehlt, der für den Service und für die Veranstaltungen verantwortlich ist. Wir können uns ja nicht vierteilen. Wir haben uns auch mal überlegt, noch jemanden ins Leitungsteam zu nehmen. Aber auch nur halbherzig.
Ihr habt das Cardinal immer als Projekt mit Ablaufdatum gesehen, oder?
Salomé Immer! Die Idee war nie, dass wir das so lange machen.
Samuel Wir führen es schon mindestens acht Jahre länger als ursprünglich gewollt.
Salomé Als wir anfingen, plante ich, nur ein bisschen mitzuhelfen.
Samuel Ich auch. Ich dachte, ich mache hier die Tontechnik. Ich wollte doch nicht ein Restaurant leiten, um Gottes willen nicht!
Salomé Sicher nicht! (lacht) Doch wir wollten nicht, dass der Laden einfach eineinhalb Jahre später wieder bachab geht, weil wir es nicht hinkriegen …
Samuel … So, wie es alle prognostiziert haben. Wir hatten auch einen gewissen Stolz, zu zeigen, dass wir nicht ein Haufen verhängter Vollpfosten sind, die gleich pleite machen. Dabei war mir und Salomé ehrlich gesagt richtig mies zumute, nachdem wir damals die Firma gegründet hatten: Wir wollten einen Tag später wieder raus, weil wir spürten, dass das eine monströse Verantwortung ist, von der wir nicht wussten, ob wir sie tragen können. – Konnten wir aber, wie wir bewiesen haben.
Trotzdem: Habt ihr das Cardinal zu wenig nachhaltig aufgegleist? Euch zu sehr verschlissen?
Samuel Den Vorwurf kann man uns schon machen. Dinge wie Sicherheitsmassnahmen, Risikoanalyse … – nein, sorry, wir sind keine Geschäftsleute.
Salomé Nein, sind wir nicht. Aber wir sind mit Liebe bei der Sache, mit sehr viel Liebe.
Ihr seid keine Geschäftsleute. Aber seid ihr Wirte geworden?
Beide Ja.
Salomé Ich glaube, das trägt man in sich drin oder nicht. Ich bewirte gerne Leute, ich fand nie, dass das eine niedere Tätigkeit sei.
Wir sind keine Geschäftsleute, wir sind Gastgeber.
Samuel Hartmann
Samuel So kann man es wohl sagen: Wir sind keine Geschäftsleute, wir sind Gastgeber.
Salomé Wir wollten mit unseren Konzerten und Veranstaltungen nie Geld machen. Wir wollten, dass etwas Tolles läuft in Schaffhausen.
Samuel Wir haben damals ein Bedürfnis nach einer Lokalität wie dem Cardinal festgestellt. Es war ein Bedürfnis, das wir selbst hatten. Ist eigentlich blöde, dass wir diese Kneipe selber aufgemacht haben, dachte ich damals. Dann können wir ja gar nie hingehen (lacht).
Wie sah das Beizen-, das Nachtleben aus vor 13 Jahren?
Salomé Komplett anders!
Samuel Da war tote Hose. Man ging in einem Restaurant essen, und danach musste man in eine Bar oder in einen Club weiterziehen, wo schlechte und laute Musik lief. Man konnte nirgends einfach so sein: sein Bier trinken, irgendwo, wo es schön ist und wo gute Musik gespielt wird.
Es gab nichts zum Verweilen, zum Hängen.
Samuel Und alle Beizen waren orange, das hat mich so genervt… (Streicht über die Wand im Cardinal): Deshalb haben wir hier drin Baby-blau gestrichen.
Das Cardinal, die Antithese.
Salomé Schon, ja. Mittlerweile braucht es das Cardinal ja nicht mehr unbedingt, es ist so viel Neues enstanden.
Ihr habt ziemlich viel Konkurrenz gekriegt. Durch hippe Orte wie die Rhybadi, die Neustadtbar oder das Barkada Burger. Was hat das mit euch gemacht?
Salomé Wir wurden schon überrascht, gerade durch die Rhybadi. Wir hatten coole Sommer hier, im Cardinal-Garten, locker, mit DJ draussen bis spätabends. Als die Rhybadi 2017 neu eröffnete, war hier oben plötzlich nichts mehr los. Da erschraken wir echt. Gehörten wir plötzlich zu den Läden, die im Sommer Flaute haben?
Samuel Wir sagten uns, gut, die Rhybadi ist jetzt gerade frisch eröffnet, der Hype legt sich wieder. Das Jahr darauf lief es uns dann aber genau gleich mies. Da wurde es auch finanziell stressig. Deswegen machten wir 2019 auch zum ersten Mal Sommerpause. Im Nachhinein war wohl der einzige Fehler, den wir gemacht haben: dass wir uns zurücklehnten, als es uns so stabil lief. Dass wir erwarteten, dass es nun einfach so bleibt.
Salomé Eine Zeitlang mussten wir nur die Tür aufmachen, und die Leute kamen. Als das nachliess, war das für mich ein Schock.
Das nimmt man dann wohl auch persönlich: Haben wir was falsch gemacht, wieso kommen die Leute nicht mehr? Sind wir nicht mehr in?
Samuel Natürlich, das ist mega heftig. Diese Fragen stellt man sich, wenn sich etwas verändert, ohne dass es eine klare Ursache gibt. Und klar nimmt man es persönlich. Aber wir haben uns in den vergangenen Jahren auch wieder gut aufgefangen.
Ihr habt mehr auf die Küche gesetzt. Dafür habt ihr weniger Konzerte veranstaltet.
Salomé Die Konzerte liefen nicht mehr gut. In ganz Schaffhausen schienen die Konzerte nicht mehr so gut besucht. Ich habe noch Zeiten erlebt, da sind – egal, wer spielt – alle dahingerannt.
Heute laufen Partys besser. Und es wird viel Stoff konsumiert.
Salomé Drogen sind und bleiben immer, immer ein Thema. Nur Zigaretten sind heute weniger in.
Samuel Es wird weniger geschlotet, ja. Wir brauchen heute keinen Zigarettenautomaten mehr, es reicht, fünf Päckchen pro Woche hinter der Bar zu haben.
Salomé Getrunken wird auch weniger. Aber Drogen, die waren immer da und werden immer da bleiben. Heute ist es einfach öffentlicher geworden.
Samuel Enthemmter.
Wie hat sich der Ausgang sonst verändert?
Salomé Jetzt, durch die Pandemie hat es sich nochmals stark verändert. Wir haben gerade dieses Wochenende darüber gesprochen: Die ganz Jungen wissen gar nicht, wie man ausgeht. Die haben das nicht erlernt. Ihnen fehlen zwei Jahre Vorerfahrung.
Samuel Wenn du vor der Pandemie 16 Jahre alt warst und jetzt plötzlich 18 bist und ausgehen darfst, dann ist das schon komisch.
Ihr hattet am vergangenen Wochenende eine Party, einen Rave hier im Cardinal für ein junges Publikum.
Salomé Ja, eine heftige Party (lacht).
Wie war’s denn, ist es eskaliert?
Salomé Es war friedlich und lieb. Aber schon etwas heuschreckenschwarm-artig (lacht): Es war knallevoll, die Bar wurde gestürmt…
Samuel … als wüssten manche nicht, dass man am Tresen warten muss und nicht immer als Erster bedient wird.
Salomé Die Jungen sind ausgeflippt, sie haben geravt. Es ist auch schön, dass das noch einmal hier drinnen hat stattfinden können. Auch wenn wir selbst damit nichts mehr zu tun haben, wir sind viel zu alt dafür.
Würdet ihr das noch wollen: Mit einer viel jüngeren Kundschaft weitermachen?
Salomé Wir würden es einfach anders machen. Wir haben jetzt ein sehr junges Team: Diesem würden wir die Verantwortung übergeben und es machen lassen. Wir hatten immer unglaublich tolle Teams, und auch in das jetzige haben wir vollstes Vertrauen. Wir selbst würden das Tagesbusiness, die Küche, die Administration machen. Aber die Raves? Da würden wir unseren Jungen den Schlüssel in die Hand drücken …
Samuel Den Content der Partys machen wir ja schon lange nicht mehr selbst. Ich habe keine Ahnung mehr. Und es interessiert mich ja auch nicht. Das heisst, ich finde es läss, wenn die Partys stattfinden – aber ich will ja nicht mehr partizipieren, um Gottes willen nicht.
Will eure Generation nicht mehr ausgehen?
Salomé Die will sicher mal ein Konzert besuchen gehen.
Samuel Die Leute, die in den ersten fünf Jahren im Cardinal waren, die kommen mittlerweile selten. Es gibt solche, die sich früher jedes Wochenende hier die Kante gaben (schaut zum Fenster), und plötzlich schieben sie einen Kinderwagen durch die Gegend. Als Beizer selbst aber stehst noch am gleichen Punkt wie früher.
Bleibt die Zeit in der Beiz stehen?
Samuel Vielleicht schon. Das macht einem auch nachdenklich. Nicht dahingehend, dass man sich denkt, ohje, jetzt habe ich etwas verpasst. Ich wollte nie Kinder, ich finde es nicht schlimm, keine Familie zu gründen. Aber man ist einfach immer weiter entfernt von den Leuten, die in die Beiz kommen. Die sind statisch jung.
Salomé Als Beizerin hat mir das Sozialleben auch angefangen zu fehlen: Den Abend verplanen, ein Wochenende weggehen. Vergiss es, das geht einfach nicht.
Würdet ihr mir empfehlen, in Schaffhausen eine Kneipe aufzumachen?
Beide Hm. Ähm. Öh. (Lachen)
Samuel Überleg es dir gut. Und stell dir vor allem die Frage, was du damit erreichen willst. Willst du dich bereichern, dich finanziell absichern oder dir ein chilliges Leben verschaffen? Wenn ja: Lass es sein.
Salomé Ist es dein grösster Traum, willst du das dein Leben lang machen? Dann tue es.
Samuel Ich denke, im Moment ist es gastronomisch keine so schlaue Idee, einen fixen Standort zu haben. Die Pop-up-Kultur ist gerade das grosse Ding – macht allerdings alle Alteingesessenen hässig. Jetzt, wo das Cardi zugeht, haben wir die Hütte jeden Tag ausverkauft. Das ist, weil es flüchtig ist. Es ist wie eine Jagd nach Trophäen.
Am 1. April kocht ihr zum letzen Mal. Was passiert danach mit dem Cardinal?
Samuel Es wird weitergehen und wieder ein gastronomisches Lokal hier geben, so viel ist klar. Aber was genau, das wissen wir noch nicht, das muss die Hauseigentümerin letzten Endes entscheiden. Wir wünschen uns, dass es etwas von Dauer sein wird. Wir haben viel in diesen abgelegenen Standort investiert und sind stolz, dass wir ihn beleben konnten – er soll nicht einer jener verfluchten Orte werden, der ständigem Wechsel unterworfen ist.
Und was sind eure Pläne?
Samuel Ich habe noch keinen Plan. Ich arbeite nun erst einmal im El Bertin und mache im Taptab die Tontechnik. Ich will auch einfach mal Angestellter sein. Bevor ich etwas Neues angehen kann, muss das Cardinal abgeschlossen sein, und dann muss ich erstmal den Kopf lüften. Das Ende des Cardinals wird so happig für mich, ich weiss noch gar nicht, was dann geschieht. Ich weiss nur, dass mir der Schlüssel zu diesem Ort wahnsinnig fehlen wird.
Salomé Ja, es fliessen im Moment viele Tränen. Wir weinen viel.
Die Schliessung war unsere Entscheidung, aber sie macht auch Angst.
Salomé Jaquet
Das ist schon ein zweites Zuhause, das für euch wegfällt.
Salomé Die Schliessung war unsere Entscheidung, aber sie macht auch Angst.
Samuel Es ist wie ein Teil von einem Selbst, den man abschneidet. Alles hier drin haben wir selbst gemacht. Jede Lampe haben wir selbst montiert.
Was sind deine Pläne, Salomé?
Salomé Ich habe keine Pläne. Ich hätte noch Lust, nochmal etwas zu lernen. Aber erstmal muss ich wirklich Ferien haben.
Ab auf Kreuzschifffahrt?
Salomé Oh nein, das wär äusserst stressig für mich, dann lieber Burger braten.
Samuel (Lacht) Ja, auf Ferien freue ich mich auch. In diesen 13 Jahren hatten wir gerade ein einziges Mal Zeit dafür.