Ein sicherer Hafen auf Zeit

29. März 2022, Mascha Hübscher
Sklarenko (links) und Puntschart 1945 in Schaffhausen. Bild: Stadtarchiv Schaffhausen
Sklarenko (links) und Puntschart 1945 in Schaffhausen. Bild: Stadtarchiv Schaffhausen

Vor 77 Jahren überquerte ein Flüchtling aus der Ukraine die Schaffhauser Grenze.
Die unglaubliche Geschichte von Wassilij Sklarenko.

Mitte der Achtzigerjahre ging das Leben in einem kleinen Dorf in der ukrainischen Steppe einen gemächlichen Gang. Ein Bauer bestellte von frühmorgens bis Sonnenuntergang seinen Kartoffelacker und das Weizenfeld, seine Frau sorgte für die Hühner und Kühe auf dem Hof.

Doch eines Tages stand auf ihrem Acker plötzlich ein Fremder, stellte sich als Bekannter eines deutschen Historikers namens Oswald Burger vor und verkündete, dass sich die deutsche Geschichtsschreibung für den Kleinbauern interessierte. Ein Ruf aus der Vergangenheit.

Der gesuchte Mann hiess Wassilij Sklarenko. 1923, mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor, war er im Tausendseelendorf Iwankowitschi, 30 Kilometer südwestlich von Kiew, zur Welt gekommen. Früh schloss er sich den Jung-Kommunisten an und wurde bald Mitglied einer Partisanengruppe, die gegen die deutsche Besatzungsmacht kämpfte. Doch der Widerstandskampf war von kurzer Dauer. Im Frühjahr 1942 wurde Sklarenko festgenommen und als Kriegsgefangener nach Deutschland gebracht.

Die Reise endete im KZ Dachau. Dort wurden am jungen Ukrainer zahlreiche medizinische Versuche durchgeführt, monatelang lag er in der Sanitätsbaracke. Doch Ende April 1944 änderte sich plötzlich die Lage.

Operation «Magnesit»

Die Alliierten flogen einen Angriff auf Friedrichshafen und zerbombten das Herz der Rüstungsindustrie der deutschen Wehrmacht. Die Nazis mussten reagieren.

Berlin beschloss, die zerstörten Rüstungsbetriebe wieder aufzubauen – jedoch unter der Erde. Für das wahnwitzige Vorhaben unter dem Decknamen «Magnesit» benötigten sie eine grosse Menge Zwangsarbeiter und stampften in Überlingen-Aufkirch eigens für den Stollenbau ein KZ-Aussenlager für 800 Häftlinge aus dem Boden. Auch Wassilij Sklarenko wurde ins Baulager verlegt.

Der Plan der Nazis: Innert 100 Tagen sollten 100 000 Quadratmeter unterirdische Fläche aus dem weichen Molassegestein gegraben werden. Täglich starben dutzende Zwangsarbeiter an Mangelernährung, Schwäche und bei Unfällen in den einstürzenden Stollen. Bereits drei Monate nach Beginn wurde die geplante Arbeitsfläche auf weniger als die Hälfte reduziert. Die Misshandlungen blieben, bis zur Befreiung sollte ein Viertel der Gefangenen ums Leben kommen.

Flucht nach Süden

Wassilij Sklarenko und sein österreichischer Mithäftling Adam Puntschart hatten nichts mehr zu verlieren. Obwohl immer wieder Fluchtversuche gescheitert waren, scharrten sie sich in der Nacht vom 21. auf den 22. April 1945 in einem Schienenwagen voller Gestein im Stollen ein. Ihre Leidensgenossen überschütteten den Gesteinshaufen mit Dieselöl, um die Bluthunde am Eingang abzulenken. Und tatsächlich, der Abtransport blieb unbemerkt.

Von Sternen und vom Moosbewuchs der Bäume geleitet irrten die beiden Geflüchteten Richtung Schweizer Grenze. Bei Konstanz überquerten sie schwimmend den Rhein, fünf Tage später standen sie auf der Feuerthaler Brücke.

Die selbstgebauten Bomben, mit denen sie sich in die Luft sprengen wollten, sollte ihr Fluchtversuch scheitern, versenkten sie im Rhein. Jahrzehnte später sollte sich Sklarenko gegenüber der AZ in knappen Worten erinnern: «Die Soldaten auf der Brücke fragten, wo wir herkämen. Ich sagte, ich sei Russe. Sie brachten uns zur Polizei, dort hatten wir es gut, wir bekamen Kaffee und etwas zu essen.»

Die Geschichte Sklarenkos liest sich heute wie das Drehbuch eines Thrillers. Doch damals, in den Wirren des Krieges, in einem Schaffhausen, das plötzlich mit einer Flüchtlingswelle konfrontiert war, verschwand er in einem behördlichen System.

Flüchtlingsstadt Schaffhausen

Am Spitzenwochenende Ende April 1945 wurde die Grenzstadt geradezu von Flüchtlingsströmen überrannt. Schweizweit wurden in wenigen Tagen über 13 000 Menschen, die vor dem NS-Regime geflohen waren, behördlich erfasst.

In Schaffhausen war das oberste Ziel, die Ankömmlinge schnellstmöglich landeinwärts weiterzutransportieren. Eine Nacht in der Munotstadt sollte Kranken vorbehalten bleiben. In einer Pressemitteilung vom 25. April schrieb der Schaffhauser Stadtpräsident Walther Bringolf, dass von den 5 500 aufgenommenen Flüchtlingen vom 21. bis 25. April 4 000 bereits «weiterspediert» werden konnten. Dank Unterkünften in der Emmersberg-Turnhalle, Flüchtlingsbaracken beim Zeughaus, Nachtlager im Schützenhaussaal und an weiteren Orten war die Unterbringung gesichert.

Für die Verpflegung sorgte die städtische Suppenküche, die Eisen- und Stahlwerke stellten ihre Glühöfen zur Verfügung, um die Kleidung der Geflüchteten zu desinfizieren.

Es sei ein «selbstverständliches Gebot der Menschlichkeit, rasche und grosszügige Hilfe zu leisten und sich nicht durch engherzige Überlegungen behindern» zu lassen, so der Schaffhauser Stadtrat vor 80 Jahren.

Bei der Heimschaffung konnte es der Schweizer Regierung dann aber nicht schnell genug gehen. Als die sowjetische Regierung Anfang August 1945 sämtlichen russischen Zivilflüchtlingen und ehemaligen Kriegsgefangenen befahl, in die Heimat zurückzukehren, setzte der Bundesrat die Forderung auch für jene Menschen um, die sich dem Befehl widersetzen wollten.

Es war bekannt, dass unter dem stalinistischen Regime ehemalige Kriegsgefangene als ehrenlos betrachtet und zahllose unter ihnen liquidiert wurden. Dennoch schaffte die offizielle Schweiz zur Wahrung der guten Beziehungen zur Sowjetführung die Geflüchteten nach einer Gnadenfrist aus, «sobald die Verhältnisse es erlauben». Es sei nicht Aufgabe des Staates, die Versprechen einer anderen Regierung an ihr Volk anzuzweifeln.

Unvergessen

Sklarenko landete nach einigen Tagen in Schaffhausen im Internierungslager Unterbach im bernischen Meiringen. Auch dort wurden nach Kriegsende Repatriierungsbefehle erteilt.

Doch zurück in seine Heimat wollte Sklarenko nicht. Stattdessen leistete er in der Roten Armee zwei Jahre Militärdienst im besetzten Deutschland. Wie er sich der Heimkehr widersetzen konnte und es in die Reihen der sowjetischen Soldaten geschafft hat, ist unklar. Dort verlor sich seine Spur.

In Überlingen und Schaffhausen aber ging die spektakuläre Flucht der beiden KZ-Häftlinge Sklarenko und Puntschart nicht vergessen. Als sich der Überlinger Historiker Oswald Burger in den frühen Achtzigerjahren für sein Buch «Die Heimat ist weit…» mit dem Arbeitslager und dem Schicksal Puntscharts befasste, nahm er auch die Suche nach dem verschollenen Ukrainer auf.

Und er wurde fündig. Zwischen Kühen, Kohl und Himbeeren.

Wassilij Sklarenko bei seinem Besuch in Schaffhausen im Oktober 1992, als ihn die AZ zum ­Gespräch traf.
Wassilij Sklarenko bei seinem Besuch in Schaffhausen im Oktober 1992, als ihn die AZ zum ­Gespräch traf.

Von der Kolchose an den Rhein

Nach dem Einsatz für die Rote Armee war Sklarenko in sein Heimatdorf zurückgekehrt, wo er bald einen Kartoffelacker, eine Horde Nutztiere und einen Gemüsegarten unterhielt.

Seine Fluchtgeschichte glaubte ihm in der ehemaligen Sowjetunion niemand. Und dass sich nun jemand aus Überlingen für ihn interessieren würde, kaufte er diesem Besucher aus Deutschland Anfang der Achtziger zuerst ebensowenig ab.

Das Foto der beiden Ex-Häftlinge bei ihrer Ankunft in Schaffhausen, das der Besucher bei sich trug, schaffte jedoch Vertrauen. Die Einladung nach Überlingen und Schaffhausen nahm Sklarenko berührt an.

1992, nachdem Ausreiseschwierigkeiten den Besuch um Jahre hinausgezögert hatten, stand der unterdessen knapp 70-jährige Mann wieder auf der Feuerthaler Brücke und erinnerte sich. «Gute Menschen haben mir geholfen», sagte er und lächelte in die AZ-Kamera. Elf Jahre später ist er achtzigjährig verstorben.