Hatte Sloterdijk recht, als er das Auto einen «rollenden Uterus» nannte? Und was hat das mit dem Schaffhauser Parkplatzstreit zu tun? Marlon Rusch und Raphael Winteler fahren ein paar Antworten entgegen – im BMW X3.
Die Gesellschaft ist gespalten. Doch mit Corona hat das nichts zu tun. In der neuen Weltordnung ist man für Parkhäuser – oder dagegen.
In Schaffhausen haben die Freunde des unterirdischen Parkierens derzeit die Kühlerhaube vorn. Vergangene Woche hat der Stadtrat mitgeteilt, dass der Walther-Bringolf-Platz autofrei werden soll. Und wie Sie vor zwei Wochen in der AZ-Titelgeschichte «Platz da!» lesen konnten, steht eine eigentliche Trendwende bevor: Nach Jahrzehnten der Aufrüstung sollen oberirdische Parkplätze in der Stadt künftig sukzessive abgebaut werden, Autos werden je länger, je mehr in die nah gelegenen Parkhäuser weichen müssen.
Die Bürgerlichen bekämpfen diesen Paradigmenwechsel erbittert. Der FDP-Grossstadtrat Martin Egger schimpfte über «Parkierungsschikanen» und schlug vor, den Herrenacker zurück in ein Parkfeld zu verwandeln. Der städtische FDP-Präsident Stephan Schlatter mahnte, Parkplätze seien «der Lebensnerv jeder Innenstadt». Eine ganze Partei scheint sich auf ein Rechteck aus weisser Farbe kapriziert zu haben. Und das Argument ist immer dasselbe: Jeder Abbau eines oberirdischen Parkplatzes schadet dem städtischen Gewerbe. Denn, wie es die FDP-Grossstadträtin und ehemalige Metzgereien-Besitzerin Nicole Herren bei jeder sich bietenden Gelegenheit betont: Der Mensch will mit seinem Auto direkt vor den Laden fahren.
Doch stimmt das wirklich? Was geht tatsächlich vor im Inneren eines Auto fahrenden Menschen?
Wir wollen den Test machen, und zwar mit einem Auto, mit dem wir auch an einer FDP-Parteiversammlung vorfahren könnten.
Der Traum der Modernisierung
Giovanni Tamburello ist ein Autoverkäufer, wie man sich einen Autoverkäufer vorstellt: elegant und eloquent. Auf dem Parkplatz des Auto-Händlers Hutter Dynamics in Herblingen drückt er uns Velofahrern den Schlüssel zu einem schwarzen BMW X3 xDrive 48V 30d in die Hände, 286 Pferdestärken, Neupreis: 107 000 Franken, und ist ein wenig erstaunt, dass wir nachfragen, ob es sich um ein geschaltetes Auto oder einen Automaten handelt. Offenbar werden heutzutage praktisch nur noch Automaten hergestellt.
Der Philosoph Gernot Böhme schrieb in seinem Buch Leib – Die Natur, die wir selbst sind: «Wenn ich in mein Auto steige, weht mich immer wieder der Gedanke an, zu welcher Vollkommenheit doch dieses Gerät entwickelt wurde, während der Mensch als ephemeres, emotional geschütteltes Selbst und bei eingeschränkter Intelligenz doch immer derselbe geblieben ist.»
Und tatsächlich sind wir flüchtigen Wesen etwas überwältigt, als wir die Türen schliessen. Wir sind jetzt Herren über eine einschwenkbare Anhängerkupplung und ein kamera- und ultraschallbasiertes Assistenzsystem, die Luft in unserem Fahrzeuginnenraum wird ionisiert und die fast 2000 Kilogramm Metall, Elektrotechnik und Kunstleder werden durch einen 6-Zylinder-Motor in Szene gesetzt.
Wohin aber mit diesem wahr gewordenen Modernisierungstraum?
Eigentlich wollten wir ja nur ein paar Bratwürste kaufen in der Innenstadt. Doch das scheint uns angesichts dieser Maschine nun doch ein wenig banal.
Exzess, aber bitte in Watte gepackt
Wir fahren an die Herblinger Peripherie und machen ein paar Beschleunigungstests. Auch die Leistung der Musikboxen fordern wir heraus, und wie die Beats pumpen und wir das Panoramadach öffnen und die Sonne auf unsere Köpfe scheint, bekommen wir Lust auf kalte Süssgetränke und halten bei einer Tankstelle, um ein paar Dosen zu kaufen.
Das ist alles furchtbar aufregend, doch so richtig haben wir uns den BMW X3, dieses vierradangetriebene Statussymbol, noch nicht aneignen können. Die Maschine hat uns optimiert, verschmolzen mit diesem Auto sind wir grösser, stärker, schneller – doch wie umgehen mit der neuen Macht? Die vielen Knöpfel, Joysticks und Anzeigen verwirren, sie sind kein adäquater Ersatz für unsere Sinne. Das Auto fühlt sich an wie eine Prothese.
Das Navigationssystem gibt uns zwar zu verstehen, wir seien der Nabel der Welt: Während wir im Zentrum bleiben, zieht die Weltkarte an uns vorbei, und zum Parkieren schustert der Bordcomputer aus den diversen Kameraeinstellungen gar eine virtuelle Gottesperspektive zusammen.
Der elektritsche Gurtstraffer zieht uns aber regelmässig tief in den Sitz zurück, wenn wir uns für einen Moment allzu frei bewegen. Gleichzeitig erinnert uns ein Hologramm in der Windschutzscheibe permanent an die aktuelle Geschwindigkeit und schaltet auf Rot, wenn wir zu schnell unterwegs sind.
Diese Maschine ermöglicht uns, die Welt zu erobern; gleichzeitig werden wir umsorgt und bevormundet. Exzess, aber bitte in Watte gepackt.
Für den Philosophen Peter Sloterdijk ist das Auto ein «rollender Uterus», der sich von seinem biologischen Vorbild dadurch unterscheidet, dass er «mit Selbstbeweglichkeit und Autonomiegefühlen verbunden ist».
Geht es beim Wunsch, direkt vor den Laden fahren zu können, also unterbewusst um die Angst, eine Art schützenden Mutterleib verlassen zu müssen?
Sloterdijk liefert noch weitere Interpretationsmuster: Er sieht beim Autofahren auch «phallische Komponenten»: das primitiv-aggressive Konkurrenzverhalten, das Aufprotzen, das Überholen. Das Mantra von Nicole Herren – mitten rein mit dem Auto in die Stadt – würde Sloterdijk wohl gewissermassen als Eroberung interpretieren.
Und wir fragen uns: Ist unser 4,7 Meter langer BMW X3, gebaut als Symbol für die Zukunft, in Tat und Wahrheit das letzte Refugium des triebgesteuerten Neanderthalers?
Es ist wohl tatsächlich höchste Zeit, dass wir in die Stadt kommen – ins Zentrum der Zivilisation.
Land der Staubsaugervertreter
Vor einigen Jahren haben zwei amerikanische Physiker mittels eines Computermodells verschiedene Parkierungsstrategien analysiert.
Gruppe A will die Zeit im Auto minimieren und entscheidet sich für den erstbesten Parkplatz, auch wenn dieser vom Ziel weit entfernt ist. Gruppe B fährt möglichst nah ans Ziel heran, wendet dort und sucht dann nach dem nächstgelegenen Parkplatz. Gruppe A würde in Schaffhausen wohl ein Parkhaus aufsuchen, Gruppe B steht für den Suchverkehr durch die städtischen Strassen und Gassen. In der Studie kam die dritte Gruppe (C) zuerst ans Ziel: die Pragmatikerinnen, die mal ein wenig aufs Ziel zu fahren und sich dann umschauen.
So wollen auch wir vorgehen, mal reinfahren, schauen, Würste kaufen, vielleicht ein wenig cool rumstehen neben dem BMW, eine Dose knacken, auf ein paar anerkennende Blicke hoffen.
Bis zum 4. April gibt es noch Parkplätze auf dem Walther-Bringolf-Platz, dem Herzen der Stadt. Hier fahren wir zuerst vor, doch alle Parkplätze sind belegt.
Ganz allgemein wird uns jetzt, wo wir mit dem Auto durch die Stadt fahren, einmal mehr vor Augen geführt, wie viele Autos es hier tatsächlich gibt. 1177 Parkplätze auf öffentlichem Grund zählt die Stadt. Bei einer durchschnittlichen Fläche von 11 Quadratmetern ergibt sich eine Fläche von fast 13 000 Quadratmetern, die für das Abstellen von Autos reserviert ist.
Kürzlich lernten wir in einer Reportage im Zeit Magazin über das Velofahren in Berlin, wie Deutschland über die Jahrzehnte ausschliesslich für den erwerbstätigen Teil der Bevölkerung gebaut wurde, für berufstätige Männer mit Autos. Alles, was irgendwie zum Bruttosozialprodukt beitrug, habe Vorrang gehabt bei der Erbauung der Welt. Kinder, nach ökonomischen Kriterien unproduktiv, würden deshalb in eigenen Bereichen abgesondert, Alte suchten sich mühsam ihre Wege, Frauen hasteten durch düstere Unterführungen. «Wir sind ein Land der Staubsaugervertreter, bis heute», resümierte der Reporter, und wie wir so über den Schaffhauser Asphalt brettern, bekommen wir den Eindruck: Das gilt auch hierzulande.
Der innere Neanderthaler
Aber gut, wir wollen uns nicht beschweren, als erwerbstätige Männer in einem Kompakt-SUV fallen wir wohl selber in die Kategorie Staubsaugervertreter.
Wir finden einen Parkplatz vor dem Puuremärkt, nur wenige Meter von der ehemaligen Metzgerei Herren entfernt, und müssen anerkennen: Das ist schon eine ziemlich praktische Sache. Wir könnten jetzt Bratwürste kaufen. Doch mittlerweile erscheint uns das nicht mehr bloss banal, sondern gar etwas ruchlos.
Hat sich unsere Stadt im Grunde über Jahrzehnte immer stärker dem Automobil hergegeben, um möglichst bequem Würste fressen zu können?
Vielleicht sind die unterirdischen Parkhäuser in Wahrheit Fanale der praktischen Aufklärung. Vielleicht hat sie der schwache Mensch des Gernot Böhme aus Furcht vor dem inneren Neanderthaler gebaut. Um die Stadt vor der Verrohung zu bewahren.
Wir fahren ins Parkhaus Herrenacker, 3,9 Sterne bei Google, durchschnittlich zu 61 Prozent belegt, und finden sofort ein freies Parkfeld, in das wir problemlos einbiegen können. Mit lustvoller Eroberung hat das aber tatsächlich nicht mehr viel zu tun. Wir werden eingeschifft in den Bauch der Stadt, eingespeist in ein bürokratisches System der Pfeile, Schranken und Automaten.
Dasselbe Gefühl im Parkhaus Bahnhof, 4,3 Sterne bei Google, durchschnittlich zu 30 Prozent belegt: Alles funktioniert perfekt, nach dem Parkieren sind wir in Windeseile in der Stadt. Ein Internet-Rezensent schreibt, es laufe sogar Klaviermusik im Parkhaus – «Bach, Beethoven… nur Wagner fehlt». Ansonsten aber ist die Parkhaus-Atmosphäre an Lustfeindlichkeit schwer zu übertreffen.
Die Parkhäuser sind die Grenzen der Bequemlichkeit.
Doch was bedeutet das nun für uns im schwarzen BMW?
Wir werden wohl – nach Möglichkeit – weiterhin oberirdisch parkieren. Uns gefällt die Gottesperspektive: Wir im Zentrum einer Stadt, die uns und unserem Auto zu Füssen liegt.
Nicole Herren hat Recht, wenn sie sagt, der Mensch wolle direkt vor den Laden fahren.
Doch wir wissen nun auch: Wenn das einst nicht mehr möglich sein wird, lassen wir uns eben domestizieren und biegen ins Parkhaus ein. Denn wie schon die US-Physiker herausfanden: Am Ende kommen die Pragmatiker zuerst zum Ziel.
Wir fahren zurück nach Herblingen, geben den Schlüssel zurück, und Giovanni Tamburello fragt lachend, ob er uns jetzt einen BMW verkaufen könne. Wir schauen aufs Preisschild und schwingen uns – ganz pragmatisch – auf unsere Velosättel.