«Der Luchs ist ein wenig ­tougher als ich»

17. März 2022, Marlon Rusch
Foto: Peter Pfister

Stereo Luchs ist Popstar, Zeitreisender, Wahlschaffhauser. Aber ist die Kunstfigur nicht längst überholt?

Der Zürcher Musiker Stereo Luchs hat den Schweizer Dancehall an der Hand genommen und von der Nische ins Rampenlicht geführt. Dort steht er jetzt auch selber. Das Feuilleton der NZZ am Sonntag hat sein neues Album «Stereo Luchs» zum besten Schweizer Album des Jahres gekürt. Zum Treffen am Montagnachmittag kommt der 40-jährige Silvio Brunner in Strassenkleidung, an den Füssen Clarks. Die englische Schuhmarke ist ein Erkennungszeichen in der Dancehall-Szene. 2017 rappte Stereo Luchs auf seinem Album «Lince»: «Alles bim Alte, stepp uf britische Sohle». Und fünf Jahre später – immer noch alles beim Alten?

​​Silvio, ich habe mir überlegt, wo ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Das muss vor zehn oder fünfzehn Jahren gewesen sein, dein Freund, der Reggae-Sänger Phenomden, spielte ein Konzert im TapTab und du warst als Support dabei. Du hast fast bewegungslos auf der Bühne gestanden, eine Flasche in der Hand, und über billige Beats aus einem Casio-Keyboard unsäglich monotone Reime gerattert. Ich trieb mich damals oft in Plattenläden rum und fand das faszinierend: eine Hommage an den jamaikanischen Dancehall der 80er-Jahre. Viele Freunde fanden aber: Hä, was ist das denn für ein komischer Typ?
Das kann ich mir gut vorstellen. (lacht) Wir waren damals dermassen in unserer eigenen Bubble, dass es für mich völlig normal war, mich auf die Bühne zu stellen und fünf Minuten lang auf dem gleichen Ton ­irgendwelche Slangs vor mich hinzurappen, obwohl das bis auf ein paar Dutzend Eingeweihte niemanden interessierte. 
 
Was war das für eine Zeit?
Ich habe mit Phenomden in einem alten Häuschen gewohnt, zusammen mit einem weiteren Freund, der als Gärtner gearbeitet und im Garten Gras angepflanzt hat. Wir gingen an die Partys des Soundsystems Boss Hi-Fi im Stall 6 in Zürich, da gab es noch andere 80er-Jahre-Digital-Dancehall-Nerds, Mixtapes kursierten und wir haben uns gegenseitig hochgeschaukelt.
 
Da warst du Mitte 20 und hast eigentlich Architektur studiert.
Genau. Das Studium hat mich aber nur so halb interessiert.

Dass du zehn Jahre später von der Musik leben würdest, hast du damals wohl noch nicht gedacht.
Nein. Das 80er-Jahre-Album «Style Generator», das Phenomden unter dem Pseudonym «Phenom Melody» herausgebracht hat, haben wir im Keller aufgenommen. Wir haben ein Shure-Mic ins Mischpult gestöpselt und direkt so aufgenommen. Das war ein totales Spassprojekt.

Woher kam die Faszination für diesen 80s-Style? Auch dein Künstlername, Stereo Luchs, ist eine Referenz an die Namen der grossen Dancehall-MCs jener Zeit: Supercat, Tiger, Mad Cobra.
Das war für uns eine Phantasiewelt, in der wir uns austoben konnten. Rap hat mich in jener Zeit nicht besonders inspiriert, nach dem zweiten Wu-Tang-Album trugen plötzlich alle Baggy-Pants, hatten Gel in den Haaren und prügelten sich vor den Clubs. Und der moderne Dancehall aus Jamaika war gerade sehr dark, weil die politische Situation auf der Insel recht tough war. Also haben wir Zuflucht in den 80ern gefunden. Es hatte auch etwas Befreiendes, weil das in der Schweiz noch niemand vor uns gemacht hat.
 
Seit sechs Jahren lebst du von der Musik, was in der Schweiz die wenigsten schaffen. Wie ist aus dem Nerd im Kellerstudio ein Popstar geworden?
Das ging Schritt für Schritt. Mit meinem ersten Solo-Album «Stepp usem Reservat» habe ich 2013 den Versuch unternommen, modernen Dancehall auf Schweizerdeutsch zu machen. Ich wollte rausfinden, ob das als Mittelstandsschweizer möglich ist, ohne dass es peinlich und vermessen wird. Das Album war aber immer noch eher Szene-Futter. Danach folgten ein paar Abstecher Abstecher: ein Projekt, bei dem ich mich mit UK-Dub versucht habe; ein Spass-Sampler, wo auch der Song «Fründin» von Philipp Albrecht drauf ist.

Den Song habt ihr zusammen geschrieben.
Genau. Ich war schon immer ein Fan von Philipp und seiner Band Min King und hänge schon lange oft hier im Städtchen rum. Ich bin sozusagen Wahlschaffhauser. «Fründin» ist in einer gemeinsamen Studio-Session entstanden.
 
Wieso hat Philipp Albrecht «Fründin» gesungen und nicht du?
Der Song würde gar nicht funktionieren auf Zürichdeutsch. «Ich zieh d Limmat duruf…»? Nein. (lacht) Schaffhuserdüütsch passt da besser zum Singen, es ist weicher, heller. Züri­düütsch eignet sich dafür besser, um Rhymes zu spitten, bap bap bap, es ist kantiger.
 
Wie ging es weiter nach den Abstechern?
Ehrlich gesagt – es wurde schwierig. Als ich in die Dreissiger kam, stand ich plötzlich etwas allein da. Die Musik war meine grosse Liebe, ich sah aber auch, dass ich dafür einen hohen Preis zahlen musste. Ich konnte daneben nur Teilzeit arbeiten und blieb im Job etwas stehen; wenn die Jungs sich trafen oder die Freundin in die Badi ging, sass ich im Studio. Mein Leben drohte auseinanderzubröckeln.

Auf deinem Song «Ziitreis» hast du dich an jene Zeit erinnert :

D’Summer werded chürzer ­
und d’Kater hebed länger ane
Jungs mached Nachwuchs, ­
studiered Babyname
Schiebed Chinderwage,
anderi laded Tinder abe
Ich mach mis Ding,
hol es Guiness usem Inderlade

Ich habe damals, Anfang 30, an meinem Album «Lince» gearbeitet und war viel in Berlin bei den Jungs des Labels Kitschkrieg, das später richtig durchgestartet ist und den Sänger Trettmann gross gemacht hat. Damals lebten sie noch in WGs und mussten jedes Wochenende auflegen, um über die Runden zu kommen. Die Devise lautete: entweder durchstarten oder bei Aldi Regale auffüllen. Dieser Spirit hat mir gut­getan. Als mein Album Gestalt annahm und es auf den Release-Termin zuging, brachte ich einen Brief an meinen Arbeitgeber zur Post: Danke, das war’s für mich im Büro.
 
«Lince» ist ausserordentlich zeitgeistig geworden. Vorher hast du blitzblanken Reggae und Dancehall gemacht, nun hörte man plötzlich eine Melange aus Trap aus den Südstaaten, deutschem Cloud-Rap, englischem Grime, Afrobeats aus Nigeria. Man hatte das Gefühl, du hast den Kids genau das gegeben, was sie hören wollten – aber bevor sie wussten, dass sie es hören wollen.
Ich bin in vielen Facetten retro, ich höre viel alte Musik, finde 70s-Möbel schön. Aber sowas bloss zu reproduzieren, finde ich heute langweilig. Ich mache lieber die Musik vom nächstem Jahr als die vom letzten Jahr.

Foto: Peter Pfister

War «Lince» auch eine Emanzipation von der Reggae-Szene?
Ich war mit meinem Kram ja schon immer etwas zwischen Stuhl und Bank. Schon mit dem 80er-Dancehall-Projekt war ich ein Outsider. Ich habe die Szene gern, ich liebe die Musik und mag die Leute – aber dieser klischierte kulturelle Überbau hat mich immer gestört. Ich bin kein «Irie Dreadlock Rasta». Ich will niemandem ans Bein pissen, aber ich habe mich immer gestört an einer gewissen Rückständigkeit.
 
Zwischenzeitlich gab es wilde Diskussionen in der Szene, als Konzerte von jamaikanischen Künstlern wie Buju Banton oder ­Bounty Killer in der Schweiz abgesagt wurden, weil sie sich nicht von ihren homophoben Texten distanzieren wollten.
Ja, gewisste Leute meinten damals, «man wird doch wohl noch…». Ich komme aus der Boss-Hi-Fi-Schule, da wurden solche Lieder nie gespielt. Und ich sah mich auch genötigt, selber Statements zu machen, um ein paar vermeintlich selbstverständliche Dinge klarzustellen.
 
Auf «Ich bliib grad» hast du 2014 gerappt:

Bis fridlich mit mir
und ich bi fridlich mit dir
Hass uf Menschegruppene wird nöd toleriert
Niemert diskriminiert
Jede so, wies em beliebt
Ufklärig regiert

Genau. Insofern ja: Die Zusammenarbeit mit dem Label Kitschkrieg hat mir geholfen, mich musikalisch weiterzuentwickeln und gleichzeitig weiterhin die Musik zu machen, die ich fühle. Eine gute Portion Dancehall-DNA ist ja auch geblieben. Das Album «Lince» war ein Befreiungsschlag.
 
Durch deine Musik zieht sich eine eigentümliche Sprache. Du überträgst Ausdrücke aus der jamaikanischen Mundart ins Schweizerdeutsch, so hast du eine Art eigenen Dialekt kreiert. Ausserdem sind deine Texte gespickt mit Referenzen. Wenn man sich in der Szene auskennt, stösst man dauernd auf popkulturelle Zitate. Aber auch wenn man sie nicht versteht, stolpert man nicht über die Texte. Ist das dein Erfolgsgeheimnis?
Naja, «Erfolgsgeheimnis» tönt berechnend, dabei hatte ich ja nie Hintergedanken beim Songschreiben. Ich habe einfach ausprobiert, was noch niemand vor mir gemacht hat. Und ich zahle für meine Art zu texten ja auch einen Preis. Ich brauche vier Jahre für ein Album.
 
Wie baut man einen guten Song?
Das frage ich mich jedes Mal aufs Neue. (lacht) Ich will mich nicht hinter Floskeln verstecken, ich will Songs machen, bei denen man den Beat auch wegstrippen und sie nur mit der Gitarre performen könnte. Es geht darum, ein Gefühl zu erzeugen.
 
Du malst mit wenigen Worten üppige Bilder.
Anfangs sind es meist sehr viel mehr Worte, dann hacke ich vieles wieder raus. In dieser Disziplin bin ich mittlerweile recht schmerzfrei.
 
Eine Grundregel beim Schreiben lautet: «Kill your darlings».
Genau, das ist eine Lektion, die man irgendwann lernen muss. Früher dachte ich, es brauche noch einen dritten und einen vierten Vers. Die Songs waren 5 Minuten lang, es gab mega viele Lyrics, mega viele Silben.
 
80s-Dancehall-Style eben.
Wie Ninjaman, «kill them with lyrics», einfach immer weitermachen, bis alle finden: Krass, der rappt ja ewig. Das hat sich bei mir zum Glück irgendwann erschöpft.
 
Das Feuilleton der NZZ am Sonntag hat dich vor ein paar Monaten mit Mani Matter verglichen. Dabei lassen sich deine Helden unter dem Label «Black Music» zusammenfassen. Auf dem Track «Blue Notes» huldigst du ihnen:

Nei, ich wär nöd de ­
ohni die Tapes vom Cousin
Fight the power igfahre wie Haze id Lunge
Wer isch i dem Fadechrüz? ­
Who stole the soul?
Langsams Verwache sit de erste Stunde
Woher das chunt, müemer klar benenne
Chasch de Sound nöd fühle ­
ohni Farb bekenne
Und gueti Frag, warum ich 400 Jahr nöd us de Schuel, sondern vo Tosh und Marley kenne
Schwarzi Gschicht, kei Platz im Klassezimmer
Burning Spear ghört vo Marcus Garvey singe
Schwarzi Dichter, entdeckt i Plattekiste
Gfühlti 100 000 Songs, ich han sie alli dine

Ja, zu 90 Prozent zitiere ich schwarze Musik. Beim neuen Album habe ich mich aber auch von Johnny Cash inspirieren lassen. «The Beast in me» war die Vorlage für mein Lied «Immer wieder», das ich mit Faber gemacht habe.
 
Ein Sänger wie Faber wäre vor fünf Jahren nicht auf einem deiner Alben aufgetaucht.
Nein.
 
Dein neues Album «Stereo Luchs» ist autobiographischer als das letzte, intimer.
Vielleicht, ja. «Lince», das Album davor, war schon auch autobiographisch, aber damals bin ich halt noch mehr auf dem Gaul durch die Dancehall galoppiert. Diesmal war die Stimmung eine andere, es war ja auch Lockdown.
 
Da kann man weniger durch die Dancehall galoppieren, dafür umso tiefer tauchen.
Ich hatte jedenfalls Zeit, mal zurückzuschauen. Ich habe mich gefragt, welche Themen noch in mir schlummern, und bin auch in der eigenen Kindheit gelandet.
 
Auf dem Track «Neon» erzählst du, wie du als 12-Jähriger in Zürich aufgewachsen bist, in den 90er-Jahren, der Post-Platzspitz-Zeit. Wie du Haschisch kaufen wolltest und wie dir eine Dealerin mit Zahnlücke eingefahren ist. Nebenbei malst du ein Sittenbild der Stadt.
Die ersten paar Versionen des Liedes waren politisch, ich habe die Geschichte weitergedreht bis ins Heute, wo alles gepützelt ist. Der Song war sozialkritisch, aber es fühlte sich nicht richtig an, es war zu plakativ. Ich merkte, dass ich die Geschichte persönlicher erzählen musste.
 
Diese Art Sozialkritik gab es von dir ja auch schon: Der Song «Was isch los» von 2013 über die Polizei, die in Zürich illegale Partys auflöst, war jahrelang dein grosser Hit.
Genau. Ich wollte mich nicht wiederholen.
 
Jetzt, wo du nicht mehr so wild durch die Dancehall galoppierst, braucht es da die Kunstfigur Stereo Luchs überhaupt noch? Ist es mittlerweile nicht viel eher Silvio ­Brunner, der da singt?
Interessant, dass du das sagst. Ich habe mir diese Frage beim neuen Album tatsächlich gestellt. Anfangs fand ich: Ja, Stereo Luchs könnte vielleicht mehr in den Hintergrund treten. Irgendwann habe ich dann aber zurückbuchstabiert und ihn wieder stärker hineingebracht. Mehr Silvio Brunner wäre too much gewesen. 
 
Warum?
Silvio Brunner und Stereo Luchs haben eine grosse Schnittmenge, und die ist spannend. Ein Teil von Silvio Brunner ist für die Musik uninteressant, und einen Teil von Stereo Luchs aus dem Jahr 2007 kann ich auch mit gutem Gewissen weglassen. Aber ganz kann ich auf Stereo Luchs nicht verzichten. Das Schöne an der Figur ist ja, dass der Luchs ein wenig tougher ist als ich, ein wenig lauter. Das Album heisst nicht umsonst «Stereo Luchs», ich glaube, ich habe mich darin nochmals neu definieren können.
 
Du bist jetzt 40 Jahre alt und hast mal gesagt: «Älter werden und Musik machen ist anspruchsvoll.» Was bedeutet das?
Nach zwei Alben kommt in der Regel die Frage: Was hast du noch zu sagen? 
 
Und dann muss man eben tiefer tauchen… Auf deinem Album hatte es aber auch Platz für Emotionen. Der Track «Ide Strass» passt perfekt in die Pandemie, ein Sehnsuchtssong, genau die richtige Dosis Pathos für schwere Tage:

Endlich wieder dusse, endlich wieder heiß
Unterwegs an Dance ­
ufem Parkplatz näb de Gleis
Ich han tusig troubles, d’Welt isch voller Chaos
Bruch en Reload hüt, s’einzig woni weiss
Und wenn händ mir eus alli s’letztmal gseh
Fräg mi nöd, ich weiss nume, es isch vill z’lang her
Mir händ Drinks und wenn sie fertig sind ­
denn holemer meh
Jede hät sini Pain, aber d’Musig nimmt das weg

An den paar Konzerten, die ich auf der Tour bereits gespielt habe, hat sich gezeigt, dass ich damit offenbar einen Nerv getroffen habe.

Die Clubkultur ist dir immer noch wahnsinnig wichtig, oder?
Auf jeden Fall. Ich gehe nicht mehr drei Mal pro Woche in den Ausgang, aber mit Freunden zusammen Musik hören, laute Musik, Bässe spüren – das ist bei mir ganz tief drin, das ist Kultur.
 
Eigentlich schade, dass viele Leute nach 30 urplötzlich aufhören, in den Club zu gehen.
Ich habe das nie verstanden. Auf einmal sind alle happy zu Hause vor ihrem Cervelat-Grill? So ein Ambiente will ich mir nicht vorstellen als kulturelles Umfeld. Ich habe in letzter Zeit viel alten Soul gehört, viel Gospel und Spirituals. Ich bin selber nicht religiös, aber ich fühle das trotzdem, gerade jetzt, in Zeiten, die tough sind. Da tut es gut, etwas Spiritualität zu bekommen.
 
«Blessed», der Intro-Track auf dem neuen Album, ist ein moderner Gospel. Du singst jetzt auch mehr, wo du früher fast nur gerappt hast.
Ja, ich singe jetzt auch backing vocals.
 
Das Chörli «The Lincettes» auf deinem Album – das bist du selber, oder?
Ja. (lacht) Ich hatte mega Freude daran, ein paar Harmonies aufzustacken. Das fand ich voll schön.

Stereo Luchs präsentiert sein neues Album «Stereo Luchs» am Samstag, 19. März, in der Kammgarn.