Die AL schafft sich ab – und wirbelt Schaffhausen damit noch einmal gehörig auf. Was bedeutet das für die Linke?
Eine mysteriöse Einladung einer Regionalpartei zu einem «kleinen Spaziergang», bei der gutes Schuhwerk empfohlen sei – wer ahnt dabei Böses. Doch wer die Alternative Liste Schaffhausen kennt, kann erahnen, dass es sich um etwas Spezielles handeln muss. Auch dann, wenn sie von ihrer Strategieretraite im Januar berichten will.
Und dann stellt man sich am Mittwochmorgen auf den Pausenplatz der Schule Steig, neben die alte Sternwarte, und erfährt: Die AL trommelt da zusammen, um ihr eigenes Ende zu verkünden. Die Schaffhauser Partei wird beerdigt – mit einer gewissen Schwere in der Stimme und dem letzten Schalk auf dem Papier. Im Mitgliedermagazin von diesem Frühling werden falsche Todesanzeigen abgedruckt: eine der «SP-Trauergemeinde», eine vom bürgerlichen Politblock, den Schaffhauser Nachrichten und dem Hemmental: «Du hinterlässt uns mit erträglicher Trauer, Schaffhausen aber mit leeren Kassen und Staatskindern.»
Es passt zur AL, dass sie für immer im Teenager-Alter bleiben wird. 19 Jahre lang politisierte sie am linken Rand, wurde grösser, diverser, trieb die SP vor sich her (und einige Exponenten regelmässig zur Weissglut) und lehrte den Regierungsrat das Fürchten. Mit ihrer spontanen, aufmüpfigen und nonkonformistischen Art machte sie regelmässig Schlagzeilen und sich selbst zeitweise zur viertstärksten Partei Schaffhausens.
Und eigentlich geht es ihr auch jetzt, mitten in der Legislatur, gut: Erst am letzten Montag brachte AL-Co-Präsidentin Linda De Ventura zu ihrer eigenen Überraschung ein Postulat durch den Kantonsrat, das die Einführung von Familienergänzungsleistungen verlangt. Mit der Umsetzungsinitiative der Transparenzinitiative holt die Partei gerade zum nächsten politischen Schlag aus. Das eigene Ende zu provozieren: Das sähe anders aus. Das sieht auch Angela Penkov, die zweite Co-Präsidentin, so: «Wir haben uns immer gefragt, ob wir für Schaffhausen einen Mehrwert bedeuten. Und die Antwort war immer: Ja. Auch jetzt noch.»
Warum also aufhören? Was passiert mit den jetzigen AL-Politikerinnen und -Aktivisten? Und was heisst das für die Schaffhauser Linke?
Wider die Starre
Während des Spaziergangs, der von der Schule durch den Fäsenstaubpark an Spielplätzen vorbeiführt und schliesslich beim «Pavillon im Park» endet, kann man vernehmen: Mit der Politik aufhören werden die jetzigen Aushängeschilder der Alternativen nicht. Vielleicht haben sie sogar Grösseres vor. Und das ist ein Grund für die Auflösung: Für die Realpolitik in den Institutionen, welche die AL in den letzten Jahren betrieb, gebe es einfach andere Gefässe. Namentlich: die SP.
Ein Grossteil der jetzigen Aushängeschilder der Alternativen bestätigt, dass man unter sozialdemokratischer Fahne weitermachen will. Angesichts der Geschichte der beiden Parteien und des Verhältnisses, das sie zueinander pflegten, ist das ein ziemlicher Wurf – noch vor drei Jahren gingen AL und SP im Grossstadtrat getrennte Wege (siehe AZ vom 25. April 2019).
Blickt man weiter zurück, sieht man, wie sich diese Abgrenzung durch die gesamte Geschichte der AL zog. Damals, 2003, setzte sich eine Gruppe politisch interessierter Menschen rund um Florian Keller und Christoph Lenz zusammen. Und fand: Wir machen lieber etwas eigenes, als der SP beizutreten. Denn die war ihnen zu grau, zu langsam, zu bourgeois – und links von ihr ein Haufen Platz. Die Gruppe beschloss, linke Ideen radikaler und kompromissloser zu vertreten, als die gestandenen linken Parteien dies taten. Und zwar nicht nur auf der Strasse, sondern eben auch in den Parlamenten. Keller und Lenz kandidierten schliesslich noch im selben Jahr für den Ständerat – auch aus Protest, weil die SP niemanden portiert hatte.
Die SP bemühte sich immer wieder, die junge Truppe nicht als Konkurrenz anzusehen. Offenbar sind auch manche Übernahmeangebote gesprochen worden. Die AL hatte darauf nie Lust. 2004 gelang ihr der Sprung in den Kantonsrat und den Grossen Stadtrat. Es sollte sich zeigen, dass die neue Partei mit ihrem unkonventionellen Weg und ihrem gewieften Auftreten eine ganze Generation abholte. Die Bewegung – als solche verstand man sich immer – wuchs konstant. Ein grösserer Coup gelang der AL mit der Wahl von Simon Stocker in den Stadtrat, 2012. Die gesamte Politelite von links bis rechts befürchtete, dass die «linksextreme Spasspartei» einen verkappten Chaoten in die Regierung gehievt hatte. Bewahrheiten sollte sich dies nicht (Simon Stocker ist inzwischen in der SP). Aber es zeigte, wie massiv die Partei an Einfluss gewann.
Sie verhinderte zweimal eine Kürzung der Prämienverbilligung, versenkte Sparpakete, startete eine Spielplatzoffensive und rettete das Klostergeviert. Bei den Wahlen für den Grossen Stadtrat holte sie 2016 über 11 Prozent der Wählerstimmen (2020 noch rund 9,7 Prozent). Stand jetzt hält sie je vier Sitze im Kantonsrat und im Grossen Stadtrat, zwei im Stadtschulrat sowie je einen in den Einwohnerräten von Neuhausen und Stein am Rhein.
«Wir haben versucht, diese Welt ein Stück fairer, offener, farbiger zu gestalten. Und manchmal ist es uns gelungen.»
Susi Stühlinger, einstige AL-Co-Präsidentin
Das AL-Rezept beinhaltete einen letzten wichtigen Unterschied zur SP: Sie hatte keine Angst, zu verlieren (Wortlaut der einstigen Co-Präsidentin Anna Naeff). Etwa, wenn es darum ging, Tagesschulen einzuführen: Die 7to7-Initiative wurde mit 75 Prozent Nein-Stimmen abgeschmettert. Oder als sie das Ausländerstimmrecht auf kantonaler und kommunaler Ebene einführen wollte (85 Prozent Nein-Stimmen).
Disruptionen auf der Strasse
Susi Stühlinger, ebenfalls einstige Co-Präsidentin, sagte es gestern Vormittag so: «Wir haben versucht, diese Welt ein Stück fairer, offener, farbiger zu gestalten. Und manchmal ist es uns gelungen.» Der Weg dahin war in der AL Schaffhausen nie nur das Parlament. Das, was den Leuten von der Partei in Erinnerung bleiben wird, die Handschrift der AL, das war die Disruption auf der Strasse.
Etwa Anfang 2014, im Jahr der Masseneinwanderungsinitiative: Die Aktivistinnen der AL stellten kurzerhand einen Schlagbaum in die Schwertstrasse und spielten Grenzkontrolle. Noch im selben Jahr portierte die Partei ausserdem den Spanier (und damit nicht wählbaren) Carlos Abad für den Schaffhauser Stadtrat – um auf das mangelnde politische Mitspracherecht von Menschen ohne Schweizer Pass aufmerksam zu machen. Für die Klostergeviert-Initiative veranstaltete sie eine Auktion auf dem Fronwagplatz, an der unter anderem Hemmental, der Rheinfall und die Kammgarn gekauft werden konnten. Und als die nationale SVP ihre Konkurrenz-Parteien mit Würmern gleichsetzte und an das Nazi-Heft «Der Stürmer» erinnerte, bastelte die AL Schaffhausen eben Wurmkostüme, stieg in ebendiese und machte neben einer SVP-Standaktion in der Innenstadt Rambazamba.
Die AL bespielte immer wieder die Strasse – mit Grenzkontrollen in der Altstadt… … oder auch als «Würmer gegen Stürmer».
Die AL betrieb also Subversion nach Lehrbuch, verdrehte und entstellte Codes und Narrative. «Wir haben eine Lücke besetzt und nicht zugelassen, dass etwas anderes entstanden ist, was Protestcharakter hat», sagt Gründungsmitglied Florian Keller heute.
Die gleichen Leute, die derartige Aktionen starteten, finden heute, dass sie in der SP genauso zuhause sein könnten. Und das sagt ebensoviel über die AL wie über die SP von heute aus.
Wunsch nach Zukunft
Die AL will nie erwachsen werden, hiess es gestern am Spaziergang. Das stimmt – und doch stellt sich für die Partei eine Generationenfrage. Denn das Durchschnittsalter ihrer Zugpferde erhöhte sich über die Jahre, die Lebensumstände veränderten sich: Man steht mitten im Berufsleben, hat vielleicht Kinder. Am besten brachte das Susi Stühlinger einst in einem AZ-Interview auf den Punkt: «Die AL-Männer, die früher Bier gesoffen haben, schieben jetzt Kinderwägen durch die Stadt.» Ähnliches Alter, ähnliche Lebensabschnitte – das bedeutet für eine Partei immer ein gewisses Klumpenrisiko.
«Wir wollen den
wichtigen Leuten
ermöglichen, dass sie
weitergehen können.»
Angela Penkov, AL-Co-Präsidentin
Das sei ein Teil der Wahrheit, sagt Co-Präsidentin Angela Penkov. Der andere sei ein Wunsch nach Zukunft: «Wir wollen den wichtigen Leuten in der AL ermöglichen, dass sie weitergehen können. Und dass sie nicht alleine gehen, sondern mit dem nötigen Support.» Dahinter stehen also auch Ambitionen – wer national politisieren will, stösst in einer Regionalpartei wie der AL früher oder später an eine Grenze. Insofern hat sich die AL für ihre Auflösung und die Integration in die SP einen guten Zeitpunkt ausgesucht. Denn kommendes Jahr sind National- und Ständeratswahlen. Die Suche nach einer Kandidatin für den Sitz von SP-Frau Martina Munz läuft – der Sitz, den die AL jeweils mit Listenverbindungen entscheidend gestützt hat.
Auch auf Seite der SP hat sich personell wie strukturell jüngst viel getan. Im September letztes Jahr setzte eine neue Generation innerhalb der Partei einen grossen Strukturwandel durch. Die Forderung: Die Partei müsse kampagnenfähiger werden und professioneller und schneller reagieren können, um ihre Schlagkraft zu behalten (die AZ berichtete in der Ausgabe vom 23. September 2021). Etwas zugespitzt gesagt: Sie sollte eher so auftreten und politisieren können, wie die AL dies bisher getan hatte.
Anruf bei Livia Munz, Co-Präsidentin der städtischen SP. Auch sie vermutet, dass ihre Partei mit den jüngsten Entwicklungen attraktiver geworden ist. Unter anderem will die SP Arbeitsgruppen institutionalisieren, wie die AL sie bereits gekannt hat – und die gemäss Angela Penkov im Übrigen mit ausschlaggebend dafür waren, dass ihre Partei sich vom Männerverein emanzipieren konnte und heute fast ganz in weiblicher Hand ist. «Die Möglichkeit, mit wenigen Leuten etwas auszubrüten, bevor man es der ganzen Partei vorstellte, war viel niederschwelliger. So konnten bei uns auch Menschen ausserhalb des harten Kerns mitreden.»
Freude – und etwas Wehmut
Livia Munz ist offensichtlich erfreut über den Zuwachs in ihre Partei. Und sie schickt voraus: «Einem Gros der Partei wird es so gehen.» Dies wohl auch, weil der SP die letzten Jahre genau jene Generation fehlte, die bisher in der AL war. «Die vielen Neumitglieder bedeuten für die SP eine massive Verjüngung und Verweiblichung. Das wird der Partei wahnsinnig gut tun.» Etwas wehmütig sei sie zwar: Sie werde das konsequente «Anstupsen» der SP seitens der AL vermissen. «Aber ich bin guter Dinge, dass das mit den Neuzugängen in die SP in diesem Geist weitergehen wird.» Und den Drive, die Kraft, die sollen die Ex-AL-Aktivistinnen und -Politiker sowieso mitnehmen.
Die Freude zeigte sich gestern Nachmittag auch auf Twitter: Patrick Portmann beispielsweise fand, es «wurde aber auch langsam Zeit» – er freue sich darauf, dass die SP «linker und frecher» werde. Etwas kritischer zeigte sich Urs Tanner: Er glaubt, der Entscheid schwäche die Linke insgesamt in Schaffhausen.
«Es wird kein Kannibalismus losgehen.»
Florian Keller, AL-Gründungsmitglied
Tatsächlich dürften nicht alle gestandenen SPler und SPlerinnen so glücklich sein über den unverhofften Zuwachs – und zwar nicht nur aus strategischer Sicht. Denn es ist auch absehbar, dass die Alternativen nicht nur neue Leute in die Partei und in die Ämter heben, sondern damit auch alte Positionen infrage stellen. Darauf angesprochen, beruhigt Florian Keller zwar mit einem Lachen: «Es wird kein Kannibalismus losgehen.» Aber die Standpunkte würden sich teilweise sicher verändern.
Den Aktivismus weiterführen
Bleibt eine Frage offen: Was passiert, wenn die aktivistische Ader der Alternativen in der SP keinen Platz hat? Denn die SP mag noch so bestrebt sein, «frecher» zu werden; als Nationalpartei hat sie einen immensen Apparat im Rücken, der gewisse Protestformen nicht mehr ermöglichen dürfte. Dies spürt schliesslich auch die Juso.
Von den – jetzt einstigen – AL-Köpfen heisst es: Man hat Lust, das Unangepasste, das Kampagnen- und Aktionsartige weiterzuführen. Das Ende des Namens AL bedeute nicht, dass die Schaffhauser Strassen nicht schon bald wieder bespielt werden dürften. Wie, ist Stand jetzt noch offen.
Aufhorchen lässt aber, dass die nun aufgelöste Partei einen neuen Verein gründen will, in dem eben diese Art der Politik möglich sein soll. Die entsprechende GV des neuen AL-Vereins findet am 1. Juni statt. Angela Penkov gab gestern Vormittag zudem ein Signal an die Jungen: «Die AL als Vertreterin des Unangepassten soll jüngeren Kräften, die hoffentlich so zornig sind, wie wir es waren, nicht im Weg stehen.» Das zeigt, dass der Wille, mit jüngeren Aktivistinnen und Aktivisten zusammenzuarbeiten, da ist. Ob das klappe, sei ungewiss, sagt Florian Keller. «Wir haben damals auch nicht den Rat der älteren Leute gesucht.»