In den Tiefen des Labyrinths

1. März 2022, Sharon Saameli

Das BücherFass ist nun in den Händen von Dorothea Meyer und Sibylle Eggstein. Ein Gespräch über die Zukunft, über Eselsohren, den weiblichen Blick und literarische Schnellschüsse.

Gute Buchhandlungen leben vom Geist ihrer Besitzer. Da, wo die Titel sorgfältig kuratiert sind, wo die Handschrift der Eigentümerin den ganzen Raum durchdringt: Da bleibt man hängen, stöbert sich durch die Regale, in freudiger Erwartung darauf, sich die zwischen Buchdeckel eingepressten Geschichten einzuverleiben. Danach will man immer wiederkommen.

Auf Stammkundschaft kann sich das ­BücherFass verlassen: Über Jahrzehnte hinweg hat Georg Freivogel das Geschäft zu einer kulturellen Institution aufgebaut (unser Porträt lesen Sie in der AZ vom 23. September 2021). Nun weht in dem respektablen Bücherlabyrinth an der Webergasse ein neuer Wind. Seit Anfang Oktober ist das Geschäft in den Händen von Dorothea Meyer und Sibylle Eggstein: zwei Schlaatemerinnen, die beide einst bei Bücher Schoch die Lehre absolvierten, die sodann ausrissen und in Bern wieder aufeinandertrafen. Nun fassten sie in der Heimat wieder Fuss – in der einzigen Buchhandlung, die sie hätten übernehmen wollen.

Wenn sie das sagen, dann mit Überzeugung. Das Sortiment, die Tiefe des BücherFasses hat es ihnen angetan. Das rund 16 000 Bücher starke Vermächtnis Georg Freivogels haben sie komplett übernommen. Die beiden empfangen uns an einem nicht ganz ruhigen Vormittag. Wir werden vorbeigeführt an der Belletristik, den Reclam-Büchlein (den «Feinden aller Kantischüler», so Sibylle Eggstein), an der Lyrik (die auf diese Art fast keine Buchhandlung mehr führt, so Dorothea Meyer sichtlich stolz) und den Fachrichtungen. Im ersten Stock nehmen wir schliesslich Platz, umringt von Buchtürmchen und eingenommen von einer Ruhe, die nur Buchhandlungen ausstrahlen.

AZ Lasst uns gleich über den Elefanten im Raum sprechen. Fehlt den Leuten der Mann, der sie 40 Jahre lang im BücherFass beraten und mit Lesestoff versorgt hat?

Dorothea Meyer Die Erwartungen an uns sind hoch, das ist klar. Georg hat ein Wahnsinnswissen über Literatur, das BücherFass ist sein Lebenswerk. Das Geschäft von ihm zu übernehmen, ist also auch eine Hypothek.

Sibylle Eggstein Ja, das eine oder andere Mal habe ich schon von Kunden gehört: «Beim Georg war das und das aber anders!» Aber insgesamt sind wir sehr wohlwollend aufgenommen worden.

Habt ihr Visionen, in welche Richtung sich das BücherFass mit euch verändern wird?

Eggstein Wir haben im Sinn, die Buchhandlung schwerpunktmässig weiterzuführen wie bis anhin. Die Kinderbuchabteilung sowie Naturthemen wollen wir ausbauen, allmählich auch das Kunsthandwerk. Aber es soll im gleichen Geist weitergehen.

Meyer Ja, die Kursrichtung ist gegeben. Das wollen wir auch so – sonst hätten wir nicht übernommen.

Eggstein Trotzdem wird sich das Geschäft ja automatisch verändern, besonders in der Belletristik. Weil wir es sind, die neue Bücher auswählen.

Meyer Weil wir Frauen bezüglich der Lektüre auch andere Interessen haben.

Eggstein Ja, weil wir eine weibliche Sicht auf Bücher haben.

Was ist denn die weibliche Sicht auf Bücher?

Eggstein Wir nehmen wohl mehr Bücher ins Sortiment, die Frauenthemen behandeln, als unser Vorgänger. Biografische Romane, Bücher zur Stellung der Frau in Gesellschaft und Wirtschaft, Bücher zu queeren Themen.

Meyer Das hatte Georg aber alles schon. Auch nochmal deutlich Anstrengenderes.

Anstrengenderes?

Meyer Das kann ich dir nur zeigen.

Sie zieht mich zu einem Regal nahe der Wendeltreppe. Mein Blick bleibt an queerfeministischen Comics der Schwedin Liv Strömquist hängen, die in meinem Umfeld verschlungen werden. «Genau sowas meine ich», sagt Dorothea Meyer, «solche Bücher hatten Georg Freivogel und sein Team schon längst im Sortiment. Ich finde das alles ja gut und nötig. Aber meine Priorität ist es nicht.» Dann zieht sie einen Schinken aus den unteren Reihen, «Frauen im Laufgitter» von Iris von Roten, ein Werk, das nach dessen Erscheinen 1958 die ganze Schweiz aufrüttelte. Hier, damit sei sie erwachsen geworden, sagt Dorothea Meyer, sie sei früh emanzipiert gewesen, habe auch feministische Klassiker wie Judith Butler oder Audre Lorde gelesen, beides gewichtige, radikale Autorinnen. «Ich habe das alles gelebt», sagt Dorothea Meyer, während ihre Hand einige Buchrücken streift. Hinter dem Regal ums Eck höre ich Sibylle Eggstein lachen. «Diese neuen Bücher» – sie zeigt wieder auf Strömquist – «sagen mir einfach nicht so viel. Ich weiss nicht, ob das schon eine Alterserscheinung ist.» Ich fühle mich sehr, sehr jung, als wir zum Büchertisch zurückkehren, an dem Sibylle Eggstein sitzt. Ob es auch Bücher gebe, mit denen sie nichts anfangen kann, frage ich sie.

Eggstein Ja, sicher. (überlegt einen Moment) Eisenbahnbücher zum Beispiel. Oder Hundebücher. Aber das ist sehr kleinräumig. Generell sind es wohl Freizeitthemen, die mir am wenigsten sagen. Aber diese Vielseitigkeit macht den Buchhandel aus. Wenn dich das nicht reizt, bist du am falschen Ort.

Wobei: Gerade kleinere Geschäfte zeigen auch mal den Mut zur Lücke, nicht?

Eggstein Natürlich. Wir sind zwar etwas breiter als spezialisierte Buchhandlungen, aber insgesamt doch ein Gegenpol zum Mainstream. Zum Beispiel findet man bei uns keine kitschige Unterhaltungslektüre.

Meyer (leicht entrüstet) Unterhaltungsromane kannst du sagen, nicht Kitsch. Die haben genauso eine Berechtigung wie Serien im Fernsehen. Manchmal wollen die Leute einfach leichte Lektüre.

Eggstein Das stimmt. Wir führen solche Bücher einfach nicht an Lager. Aber wir können sie auf Wunsch bestellen. Manchmal haben Leute den Eindruck, sie dürften gewisse Lektüre hier nicht bestellen, weil es unter der Würde des Geschäfts sei. Das darf eigentlich nicht sein.

Gibt es denn schlechte Bücher?

Meyer Klar. Es gibt viel Unnötiges, viele Schnellschüsse. Kommerz, für den die Bäume zu schade sind. Es wird einfach viel publiziert, das Buch ist demokratischer geworden. Das hat auch seine Vorteile. Aber dass sich jeder veröffentlicht sehen muss, hat in meinen Augen auch mit Ehrsucht zu tun. Es gibt Dafür und Dawider.

«Ein schlechtes Buch ist für mich eines, zwischen dessen Zeilen ich nichts finde.»

Sibylle Eggstein

Eggstein Du willst sicher Beispiele. (überlegt lange) Für mich ist ein schlechtes Buch zu vorhersehbar, banal. Eines, das zu nichts anregt, zwischen dessen Zeilen ich nichts finde. Ich meine damit nicht das Thema – es gibt Texte zu vermeintlich banalen Themen, bei denen mir das Herz aufgeht. Aber wenn keine Aussage da ist…

Meyer nickt.

Und ein gutes Buch?

Meyer Ein gutes Buch bringt mich im Denken weiter, tut mir eine Gedankenwelt auf. Es ist Nahrung, hat Gehalt. Das ist Bedingung dafür, dass ich ein Buch länger in die Hand nehme.

Eggstein Oder wenn viel Wissen darinsteckt und dieses Wissen gut verpackt ist. Zum Beispiel, wenn verschiedene Arten von Konflikten beleuchtet und so Gedanken angestossen werden.

Führerinnen durch das Bücherlabyrinth: Dorothea Meyer (links) und Sibylle Eggstein.
Führerinnen durch das Bücherlabyrinth: Dorothea Meyer (links) und Sibylle Eggstein.

Wir werden von der klingelnden Türglocke unterbrochen. Sibylle Eggstein steigt ins Erdgeschoss hinunter. Dorothea Meyer kommt ins Erzählen. Für sie habe es jenseits des Buchhandels immer noch eine andere Welt gegeben: Geisteswissenschaften, Bibliothekswissenschaften auch, wenigstens eine Zeit lang, und ein Italienischstudium in Italien. Sie habe auch viel geschrieben, publiziert aber nie – die Ehrsucht, die fehlt ihr offenbar ganz. Aber die Sprache, die zieht sich bei ihr als Schwerpunkt durch.

Just, als ich frage, was sie zuletzt gelesen hat, setzt sich Sibylle Eggstein wieder zu uns.

Meyer Ich lese gerade parallel drei Bücher. Einen biografischen Roman von Simone de Beauvoir und einer Freundin aus der Jugendzeit. Dann eine Neuerscheinung von Axel Hacke, die wir als Leseexemplar bekommen haben. Sie ist biografisch, hat mich bis jetzt aber noch nicht so mitgerissen. Und dann ein Buch von Usama Al Shahmani. Der hat etwas zu sagen. Wahnsinn, wie er einen mitreisst!

Eggstein Mich haben die alten Bücher von ihm nicht so reingezogen, ehrlich gesagt. Aber durchaus gute Bücher! Ich habe gerade heute Morgen «Rombo» von Esther Kinsky begonnen. Ich bin erst zehn Seiten drin, und ach, es ist so schön. (lacht herzlich)

«Ich wünsche mir ein Buch, das mir zeigt, wie das Meer riecht und schmeckt.»

Dorothea Meyer

Ich habe noch ein paar Detailfragen zum Schluss. Seid ihr Team Taschenbuch oder Team gebundenes Buch?

Beide (wie aus der Pistole geschossen) gebunden.

Buchzeichen oder Eselsohren?

Beide Buchzeichen.

Und wenn kein Buchzeichen da ist?

Eggstein Dann halt Eselsohren.

Meyer Dann lege ich lieber etwas anderes zwischen die Seiten.

Eggstein Ach so! Für mich ist alles ein Buchzeichen, auch ein kleiner Ast oder so etwas. Sagen wir: ins Taschenbuch Eselsohren, ins gebundene Buch nicht. Eselsohr ist einfach ein tolles Wort.

Ins Buch reinschreiben?

Meyer Ja, aber nicht in jedes.

Eggstein Ganz spontan: nein.

Meyer In ein Kunstbuch oder ein besonders wertvolles Buch nicht.

Den Buchrücken von Taschenbüchern durchdrücken?

Meyer Nein.

Eggstein (fast zeitgleich) Ja.

Team Roman oder Team Sachbuch?

Eggstein Roman.

Meyer Sachbuch.

Wenn ich eine Reise antrete: Gebt ihr mir einen Touriguide mit oder einen Roman?

Beide Einen Roman.

Papier oder E-Book?

Eggstein Papier.

Meyer Ja, Papier. Aber das andere hat auch Vorteile.

Bücher neu kaufen oder ausleihen?

Eggstein Neu kaufen.

Meyer Beides.

Spielt das Cover beim Kauf eine Rolle?

Meyer Bei mir nicht.

Eggstein Total!

Könnt ihr Bücher wegwerfen?

Meyer Eher nein.

Eggstein (lacht) Gewisse schon. Ich musste im Lauf meines Lebens lernen, Bücher ins Altpapier zu geben.

Letzte Frage: Wisst ihr von einem Buch, das nicht existiert, dessen Existenz ihr euch aber wünschen würdet?

Meyer Das habe ich mir auch schon überlegt. Knifflig.

Eggstein Doch, ich sehe grad eins. Wir reden ja über fiktive Dinge, die nicht möglich sind, gell? Ein Buch, dessen Inhalt sich der Leserin anpasst. Eine Spielerei. Aber ich weiss gar nicht, ob es das geben soll, ob das Sinn macht. Eigentlich nicht. Spannend wär aber zu wissen, nach welchen Kriterien sich das Buch dann verändern würde.

Meyer Ich wünsche mir ein Buch vom Meer. Eines, das mir zeigt, wie das Meer riecht und schmeckt.

BücherFass-Bücher-Tipps

Noch keinen Lesestoff für den Frühling? Dorothea Meyer und Sibylle Eggstein haben der AZ die neusten Tipps verraten:

Yasmina Reza: Serge. Eine bissige Komödie über eine Familie, in der das eigene ­Jüdischsein bis anhin kein Thema war – bis die Geschwister eine Reise nach Auschwitz vorschlagen. Hanser, 2022.

Esther Kinsky: Rombo. Sieben Bewohner eines Bergdorfs im nordöstlichen Italien lernen, die Spuren zu benennen, die zwei schwere Erdbeben in der Region anno 1976 hinterlassen haben. Suhrkamp, 2022.

Leta Semadeni: Amur, grosser Fluss. In poetischer, melancholischer Sprache erzählt die Autorin von der Liebe zwischen Olga und Rado, deren Augen sich jeden Morgen im Bus in Ecuador treffen. Atlantis, 2022.

Asako Yuzuki: Butter. Ein packender Roman über eine Journalistin, die für ihre Recherchen eine Serienmörderin im Gefängnis besucht – und eine zwiespältige Beziehung zu ihr aufbaut. Blumenbar, 2022.