Die Hosentaschen-EU

23. Februar 2022, Simon Muster
2018: Liechtensteins Regierungschef Adrian Hasler übergibt das IBK-Steuer an SH-Regierungspräsident Christian Amsler. © IBK / Michael Zanghellini
2018: Liechtensteins Regierungschef Adrian Hasler übergibt das IBK-Steuer an SH-Regierungspräsident Christian Amsler. © IBK / Michael Zanghellini

In der Internationalen Bodensee-­Konferenz spielen Regionalpolitiker Aussenminister. Doch was bringt die IBK, die gerade ihr 50-jähriges ­Bestehen feiert, ­konkret? Eine Analyse.

Der Bodensee ist Naturgewalt und Sehnsuchtsort zugleich: Mit seinen 50 Milliarden Kubikmetern ist er der grösste Trinkwasserspeicher Europas, grenzt an vier Länder und bildet den Horizont für alle, die von den Gipfeln des Alpsteins oder den Drei Schwestern in die Ferne blicken. Der Bodensee weckt aber auch politische Sehnsüchte: Hier schneiden sich der EWR-Raum, die europäische Aussengrenze und der Schweizer Sonderweg.

Und trotzdem versteht man sich offenbar gut.

«Wenn Europa gelingen soll, dann hier» – dieser Satz aus der Gipfelerklärung der Internationalen Bodensee-Konferenz IBK von 2022 sticht ins Auge. Die Organisation, die drei Bundesländer, ein Fürstentum und sechs Kantone rund um den Bodensee vereint – darunter der Kanton Schaffhausen –, feiert dieses Jahr ihr 50-jähriges Bestehen. An der grossen Feier am 14. Januar auf dem Säntis ist sogar Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) anwesend. Das Land, das politisch am wenigsten von einem gemeinsamen Europa wissen will, ist an diesem sonnigen Januar am besten vertreten.

Doch das ist kein Widerspruch: Die IBK ist vielleicht die Blaupause für genau jene Europapolitik, die sich die Schweiz wünscht – kleingliedrig, unbürokratisch und unver­bindlich.

Ein bisschen Aussenpolitik

Über den Bodensee ist ein enges Netz geknüpft, rund 600 grenzüberschreitende Institutionen verbinden die Schweiz mit Österreich, Deutschland und dem Fürstentum Liechtenstein. Und es werden immer mehr. Sie sorgen dafür, dass kein Thema durch die Maschen fällt: Die IVBK vertritt die Interessen der Bootskapitäne, der BSVb jene der Sportseglerinnen, und der Bodenseekirchentag organisiert jährlich einen ökumenischen Gottesdienst.

Über dieses Netz legt sich die Internationale Bodensee-Konferenz als Gemeinschaft der Regionalregierungen wie ein Dach – und sie wirkt manchmal wie eine Art biedermännische Verwaltung, in der sich Regionalpolitiker in der europäischen Aussenpolitik versuchen können. Sie posieren dann gern an einem goldigen Steuerrad für die Kameras, das jeweils den Vorsitz der IBK symbolisiert.

Gegründet wurde die IBK 1972 aber eigentlich aus viel profaneren Überlegungen, nämlich als informelle Austauschplattform mit dem Ziel, die Wasserqualität im Bodensee zu verbessern. Diese hatte sich anfangs der 1970er-Jahre aufgrund des grossflächigen Einsatzes von Düngemitteln und Verschmutzung so dramatisch verschlechtert, dass Strandbäder geschlossen werden mussten und die Trinkwasserversorgung in der Region gefährdet war. Die IBK scheint das Problem effizient gelöst zu haben, der Phosphorgehalt konnte seit 1972 massiv gesenkt werden und ist heute der zweittiefste in der Schweiz. Eine Erfolgsgeschichte.

Der Schaffhauser SP-Regierungsrat Ernst Neukomm mit Hans-Peter Bischoff, Landstatthalter von Vorarlberg (links) und dem Präsidenten der IBK-Kulturkommission Walter Lendi (rechts) stossen 1999 auf die Kultur an. Archivbild: Peter Pfister
Der Schaffhauser SP-Regierungsrat Ernst Neukomm mit Hans-Peter Bischoff, Landstatthalter von Vorarlberg (links) und dem Präsidenten der IBK-Kulturkommission Walter Lendi (rechts) stossen 1999 auf die Kultur an. Archivbild: Peter Pfister

Diesen erfolgreichen informellen Austausch, den die Anfangszeit der IBK prägte, beschrieb der damalige Schaffhauser Bau- und Forstwirtschaftsdirektor Ernst Neukomm 1980 nüchtern: «Die Bodenseekonferenz erspart es uns, bei jeder Gelegenheit offizielle Briefe schreiben zu müssen. Man kann den Kollegen telefonisch ansprechen.»

Dann aber, Mitte der 1990er-Jahre, als sich der Wettbewerb unter den europäischen Regionen ausbreitete, weitete auch die IBK ihr Aufgabenfeld aus. Nationalstaaten verloren damals mit der verstärkten europäischen Integration immer mehr an Bedeutung, die Schweiz stimmte über einen Beitritt zum EWR ab. In der Bodenseeregion, weit weg von den Hauptstädten der einzelnen Länder, machte sich die Angst breit, dass man in diesem neuen europäischen Zeitalter vergessen geht.

Als Antwort auf diese Entwicklungen rüstete die IBK semantisch auf: Das Leitbild 1994 beinhaltete plötzlich politische Ambitionen. Statt klar definierten, aber unglamourösen Zahlen und Zielwerten wollte die IBK jetzt dafür sorgen, dass «die unverwechselbare Eigenart und die Besonderheit dieses Raumes unter den europäischen Regionen» erhalten bleibt. Der drohenden politischen Bedeutungslosigkeit setzte man eine Europäische Union im Hosentaschenformat entgegen, zusammengekittet mit einer ordentlichen Portion Identitätspolitik: «Unser Fundament ist die alemannische Kultur», steht in der Gipfelerklärung 2022.

Bloss keine heissen Eisen

Doch während sich dieses Selbstbild wandelte – vom einfachen, unspektakulären Austausch auf Regierungsebene unter Neukomm zum aussenpolitischen Pathos der Gipfelerklärung – ist die Organisation ihrem informellen Kern treu geblieben: Die IBK trifft ihre Entscheidungen nach dem Einstimmigkeitsprinzip, die Entscheide sind für die Mitglieder aber nicht bindend. Und so hapert es bei der Schlagkraft.

Steuerpolitik oder Arbeitsrecht etwa, zwei wichtige Themen, die die Schweizer Europapolitik seit Jahrzehnten prägen, seien bei der IBK bisher kein Thema gewesen, bestätigt Erziehungsdirektor Patrick Strasser, der den Kanton Schaffhausen seit letztem Jahr in der Konferenz vertritt, auf Anfrage.

Lukas Auer, Vizepräsident des Interregionalen Gewerkschaftsrats Bodensee, sagt, dass gewerkschaftliche Anliegen bei der IBK zu wenig Anklang fänden: «Da sind die Wirtschaftsverbände deutlich besser vernetzt.»

Dass die IBK politisch schwierige Themen meidet, hat ihr über die Jahre den Vorwurf eingebracht, sie betreibe Schönwetterpolitik. Noch vor dem Medienanlass auf dem Säntis kritisierte die NZZ die IBK als ein «schwaches Netz am Bodensee» mit «bescheidenem Leistungsausweis». Die IBK als zahnloser Tiger?

Die Kritik ist wohl nicht unbegründet, sie wird der Organisation aber nicht ganz gerecht, denn je nach Massstab, den man setzt, ist die IBK entweder grandios gescheitert – oder aber äusserst erfolgreich.

Sind die Ziele wie bei der Wasserqualität im Bodensee konkret und greifbar, so verschwinden die Grenzen zwischen den Ländern, und die Bodenseeregion zieht an einem Strang. Das bestätigt auch Patrick Strasser. «Die Stärke der IBK liegt darin, dass sie der Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg einen Rahmen gibt.» Durch die IBK ist man eingespielt, was sich vor allem in der Kulturpolitik zeigt: Die IBK verleiht jährlich Förderpreise, organisiert Künstlerinnenbegegnungen. Mit der Internationalen Bodensee-Hochschule IBH hat die IBK zudem den grössten hochschulartenübergreifenden Verbund Europas initiiert.

Strasser spricht im Gespräch mit der AZ einen weiteren Erfolg der IBK an: Nach einem Bootsunfall in Diessenhofen habe sich gezeigt, dass die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen beteiligten Polizistinnen aus dem Thurgau, Schaffhausen und der deutschen Seite aus technischen Gründen überhaupt nicht funktioniert hat. «Das hat dazu geführt, dass in der Bodenseekonferenz entsprechende Anträge gestellt wurden und das grenzüberschreitende Rettungswesen heute deutlich besser funktioniert.»

Misst man die Arbeit aber am aussenpolitischen Pathos der Gipfelerklärung von 2022, fällt die Bewertung allerdings deutlich nüchterner aus. Das weiss auch Patrick Strasser. Er wehre sich zwar gegen die pauschale Kritik der NZZ, aber: «In den letzten Jahren gab es ein wenig die Tendenz, sehr viel Papier mit grossen Worten zu produzieren.»

Geht es um Zuständigkeiten, stösst die IBK oft an ihre Grenzen. Das musste zum Beispiel der frühere Schaffhauser Baudirektor Reto Dubach erfahren. Die Idee eines grenzüberschreitenden Gewerbeparks im Kanton Schaffhausen mit dem Deutschen Jestetten scheiterte 2007 an übergeordnetem EU-Recht.

Und auch in einem anderen Kernthema der IBK geht es seit Jahren schleppend voran: dem grenzüberschreitenden Bahnverkehr. 2001 forderte die IBK die Regierungen der Vierländerregion auf, die grenzüberschreitenden Schieneninfrastrukturen koordiniert auszubauen. Ein Projekt dazu wurde 2010 allerdings auf Eis gelegt, das Bundesland Baden-Württemberg wollte nicht mehr zahlen.

Der neuste Anlauf – genannt «Bodanrail 2045» – sei jetzt aber auf gutem Weg, versichert René Meyer, Leiter der Koordinationsstelle öffentlicher Verkehr im Kanton Schaffhausen. Er sitzt in der IBK-Kommission Verkehr. Er sagt: «Es wird nicht revolutionär, aber mit dem Projekt soll das Angebot in der Bodenseeregion zu einem runden Gesamtbild verbessert werden.» Und im Gegensatz zum 2010 gescheiterten Vorgängerprojekt wird «Bodanrail 2045» in den kommenden Jahren regelmässig überprüft und mit der jeweiligen nationalen Planung abgeglichen.

Ein grosser Bruder

An der Jubiläumsfeier Mitte Januar auf dem Säntis, von wo man an einem klaren Tag das ganze Vierländereck überblicken kann, verkündete Aussenminister Ignazio Cassis Grosses: Die Schaffung einer Regierungskommission zwischen den Aussenministerien von Deutschland, Österreich, dem Fürstentum Liechtenstein und der Schweiz – ein grosser Bruder für die IBK, also. Die neue Regierungskommission soll sich zukünftig mit jenen grenzüberschreitenden Fragen beschäftigen, die auf regionaler Ebene nicht gelöst werden können.

Es ist eine bemerkenswerte Entwicklung in der Geschichte der IBK. Einst geboren aus der Idee, dass lokale Probleme, die Grenzen sprengen, am besten vor Ort und ohne grosse bürokratische Hürden gelöst werden, wird sie jetzt auf Staatsebene imitiert. Das ist durchaus ein Erfolg: In den Hauptstädten ist die Bodenseeregion definitiv auf der politischen Landkarte angekommen. Gleichzeitig ist es wohl auch das Eingeständnis, dass man sich die Grenzen am Bodensee einfacher wegwünschen als überwinden kann.