Was passiert, wenn wir nicht mehr sind? Und was hat die Pandemie daran verändert? Ein Tag mit jemandem, der so todeserfahren ist wie kaum jemand. Was nicht nur an seinem Job liegt.
Der leere Sarg bleibt vorerst im Leichenwagen. Leo Müller und Peter Bossi klingeln an der Tür eines Einfamilienhauses in Stetten, es ist kurz vor Mittag. Eine Frau um die 60 öffnet die Tür und zwingt sich zu einem Lächeln. Nachdem die beiden Männer mit gedämpfter Stimme ihr Beileid ausgesprochen haben, fragt Müller: «Können wir reinkommen und uns die Situation ansehen?»
Sich Zeit nehmen, nie mit der Tür ins Haus fallen, das sei das wichtigste, hat Müller auf der Hinfahrt erklärt.
Sie steigen zwei Stockwerke nach oben und treten ins Schlafzimmer. Auf dem Bett liegt der Verstorbene, weit über 80, den Mund geöffnet, die Haut leicht gelblich. In den Händen hält er einen kleinen Strauss Blumen. Rote Rosen. Seine Lebenspartnerin sitzt mit wässrigen Augen neben dem Bett und streichelt seinen Arm. Sie hat Fragen an die beiden Männer, die eintreten und die Hände vor dem Körper falten. Wo kommt ihr Mann hin? Kann sie ihn danach noch einmal sehen? Und was ist mit diesem Zettel, den der Hausarzt dagelassen hat? Müller und Bossi hören zu, antworten geduldig, bauen Vertrauen auf. Gleichzeitig scannen sie unauffällig die Umgebung. Ist die Treppe breit genug, bringen wir den Sarg um diese Ecke? Müssen wir die Kommode verschieben, vielleicht einmal im Wohnzimmer wenden?
Als Müller und Bossi schliesslich rausgehen und mit dem Sarg wiederkommen, hat sich die Partnerin des Verstorbenen ins Wohnzimmer zurückgezogen. Die beiden Bestatter haben ihr dazu geraten. Es sieht nicht schön aus, wenn man einen toten Körper hochhebt. Unsicher geht die ältere Frau zwischen Wohnzimmertür und Treppenabsatz hin und her. Ob der Sarg gepolstert sei, fragt sie ihre Tochter, die Frau, die den Bestattern die Tür geöffnet hat. Ja, er sehe ganz weich aus, versichert diese aus dem Schlafzimmer. Als der Tote schliesslich im Sarg liegt, kommt seine Partnerin doch dazu. Wenn sie jetzt nicht dabei sei, werde sie es später bereuen, sagt sie. Die beiden Bestatter lassen den Sargdeckel offen und ziehen sich aus dem Schlafzimmer zurück.
Man hört sie leise mit ihrem Mann sprechen. Er sehe schön aus, sagt sie ihm. Er müsse jetzt keine Angst mehr haben. Müller und Bossi warten draussen vor dem Schlafzimmer mit der Tochter, schweigen und senken den Blick. Als nach ein paar Minuten keine Stimme mehr zu hören ist, betritt Müller langsam das Zimmer und sagt: «Dann würden wir Ihren Mann jetzt mitnehmen.» Die Frau erhebt sich und nickt. Während die Männer den Deckel auf den Sarg heben, kommen Zweifel hoch. Sie habe das Gefühl, er habe sich gerade bewegt, sagt sie. Und jetzt sehe er doch aus, als habe er Angst.
Das Loslassen fällt ihr schwer.
Man spürt: Jetzt muss es zügig gehen. Die jüngere Frau nimmt ihre Mutter sanft beim Arm und führt sie aus dem Zimmer zu einem Stuhl, wo sie sich hinsetzt. Die Bestatter heben den Deckel auf den Sarg, verschliessen ihn mit vier Schrauben. Die Rosen kommen mit. Dann bugsieren sie die Holzkiste gekonnt die Treppen hinunter ins Freie. Die ältere Frau bleibt in der Wohnung, ihre Tochter begleitet die beiden Männer nach draussen. Beim Abschied bedankt sie sich, sie wirkt erleichtert. «Jetzt hat er es hinter sich», sagt sie. Müller und Bossi nicken verständnisvoll. Alles Gute. Dann steigen sie ein und fahren davon. Ihr Job fängt jetzt erst an.
Einsargen sagen Leo Müller und Peter Bossi dem, was an diesem regnerischen Vormittag in einem Stettemer Einfamilienhaus geschah. Sie machen das etwa 900 Mal im Jahr, nicht immer geht es so leicht wie in diesem Fall. Beide arbeiten beim Bestattungsamt der Stadt, Leo Müller leitet das fünfköpfige Team. Wir haben ihn einen Tag bei der Arbeit begleitet, um herauszufinden, wie sich dieser Job anfühlt. Was mit den Schaffhauserinnen und Schaffhausern passiert, wenn sie nicht mehr sind. Und was sich mit der Pandemie daran geändert hat.
*
Montagmorgen, acht Uhr. Leo Müller sitzt in seinem Büro im kleinen Haus neben dem Eingang zum Waldfriedhof. Die Wände sind ringsherum gefüllt mit Ordnern. Der Bildschirmhintergrund von Müllers PC ist eine Metal-Band aus Finnland. Harte Rockmusik (Lieblingsbands: Finntroll und Tankard) gehört neben seiner Familie und seinem Motorrad (950 KTM Supermoto) zu den wichtigsten Dingen in seinem Leben. Ausserdem spielt er Eishockey und hilft manchmal bei Treibjagden mit. Das wissen wir aus der Personalzeitschrift der Stadtverwaltung. Doch wie er an diesem Morgen in seinem Büro sitzt – schwarze Hosen, dunkler Pullover, blaues Hemd –, sieht er nicht halb so verrucht aus, wie wir ihn uns vorgestellt hatten.
Müllers erste Aufgabe an diesem Montagmorgen: zwei Särge nach Winterthur bringen. Einen mit den sterblichen Überresten einer Frau drin zum Krematorium, und einen leeren zur Pathologie im Winterthurer Spital. Routiniert wuchtet er die beiden Holzkisten in den mit Mahagoni ausgekleideten Laderaum seines weissen Mercedes-Lieferwagens. Den vollen mithilfe eines überdimensionierten Wagenhebers auf Rollen, den leeren schultert er.
Wer in Schaffhausen stirbt, kommt in einen «Egli, Beromünster» aus Schaffhauser Fichtenholz – der einzige Sarg, den das Bestattungsamt anbietet. Es ist ein schlichtes Modell mit leicht geschwungenen Füssen, das es in drei Breiten (Standard, Überbreit und Extrabreit) und drei Längenmassen gibt. Zur Verwendung von Schaffhauser Holz ist der Hersteller übrigens per Vertrag mit der Stadt verpflichtet. Wer einen anderen Sarg wünscht, muss ihn selbst besorgen, was wegen des Aufwandes kaum jemand tut. Im Tod sind also alle Schaffhauserinnen und Schaffhauser gleich. Zumindest fast.
Denn je nach Wohngemeinde kostet Sterben unterschiedlich viel, denn jedes Dorf hat seinen eigenen Bestatter. Das Einsargen, Aufbewahren und Kremieren der Leichen übernimmt zwar in jedem Fall das Bestattungsamt der Stadt, die Beratung der Angehörigen erfolgt aber durch den jeweiligen Gemeinde-Bestatter. In der Stadt kommt der ganze Service vom Bestattungsamt und kostet eine Gebühr von 300 Franken. Hinzu kommt in der Regel eine 25-jährige Grabmiete von 1500 Franken. Und für stark Übergewichtige, wie die Frau, die Leo Müller an diesem Morgen nach Winterthur transportiert, ist das Sterben noch ein wenig teurer. Denn der Schaffhauser Kremationsofen ist nur für Leichen bis 150 Kilo geeignet. Wer schwerer ist, muss nach Winterthur. Und diesen Transport muss Müller verrechnen, so schreibt es das Friedhof- und Bestattungsreglement der Stadt Schaffhausen vor.
*
«Für mich ist das kein trauriger Beruf», sagt Leo Müller, während er im weissen Lieferwagen, der ausschliesslich für Leichentransporte zugelassen ist, auf dem Parkplatz des Friedhofs Rosenberg eine kurze Neun-Uhr-Pause einlegt. Die Ladung ist gerade um einen Sarg leichter geworden.
Müller sieht den Tod nicht als Ende, sondern eher als eine Bestätigung. Jeder Mensch habe eine Aufgabe auf der Erde und sterbe erst, wenn er diese erfüllt habe, sagt er. «Mein Sohn hatte seine Aufgabe halt schon nach drei Monaten erfüllt. Meine Partnerin und ich mussten ihn rund um die Uhr pflegen und zusammenarbeiten. Das hat unsere Beziehung gerettet. Das war seine Aufgabe.» Müller war Anfang 20, als er seinen ersten Sohn verlor, von Müllers elf Geschwistern leben noch vier, und einmal kam er bei einem schweren Motorradunfall selbst fast ums Leben. Vergangene Woche hat er die Partnerin seines Bruders bestattet. Das habe er gerne gemacht, sagt er. Für ihn ist der Tod so allgegenwärtig, dass er längst keine Angst mehr davor hat.
Er war schon Lastwagenfahrer, Verkäufer und Aluminium-Veredler bei einem Industriekonzern. Doch die Arbeit beim Bestattungsamt, die er nun seit gut zehn Jahren macht, das sei schon immer sein Traumjob gewesen, sagt er. Eine entsprechende Ausbildung hat er nicht, wie die meisten Bestatter ist er Autodidakt. Das entspannte Verhältnis zum Tod ist wohl eine Voraussetzung, die man für diesen Job mitbringen muss. Daneben muss man ein guter Zuhörer sein. Bestatter ist ein äusserst sozialer Beruf.
Und zugleich ein handwerklicher: «Mindestens 100 Kilo muss man schon alleine lupfen können», sagt Müller – wahrscheinlich ein Grund, wieso es kaum Bestatterinnen gibt. Aber es geht nicht nur um Kraft, auch eine gewisse Affinität für Technik und Logistik ist wichtig. Als wir einen überbreiten Sarg in der Pathologie des Kantonsspitals Winterthur abliefern, kann Müller jedes der Modelle, die dort im Gang herumstehen, mit dem Hersteller benennen. Er zeigt auf einen «Gerber, Lindau», das Konkurrenzmodell zum «Egli, Beromünster». Statt geschwungenen Füssen hat der Sarg Querleisten auf der Unterseite. Die seien unpraktisch beim Tragen, sagt Müller.
Und schliesslich brauchen Bestatter eine unempfindliche Nase. Denn Leichen riechen nun mal. Und nicht jeder tote Körper wird sofort entdeckt.
*
Im Anbau hinter der Abdankungskapelle im Waldfriedhof jedenfalls riecht es leicht süsslich und nach erloschenen Streichhölzern. Die erste Station der letzten Reise einer Schaffhauserin oder eines Schaffhausers, nachdem er oder sie in eine Fichtenholzkiste gelegt wurde, ist der Kühlraum. Elf Särge stehen hier aufgereiht an diesem Montagnachmittag, jeweils auf den Wagenhebern mit Rollen und mit den Namen der Verstorbenen beschriftet. Einen davon hat Leo Müller am Morgen nach Winterthur gebracht. Was passiert mit den restlichen zehn?
Das Schaffhauser Recht schreibt vor: Eine Leiche muss, frühestens nach 36 Stunden, spätestens aber nach sieben Tagen bestattet werden. Bestatten heisst entweder «erdbestatten» oder «feuerbestatten», also kremieren. Welche Option man wählt, das entscheiden entweder die Angehörigen unter Beratung des zuständigen Bestatters oder der Verstorbene, indem er vor seinem Tod eine Bestattungsanordnung unterschreibt. Also so etwas wie eine Patientenverfügung für Tote. Über 90 Prozent der jährlich gut 900 versterbenden Schaffhauserinnen und Schaffhauser wählen die Option Feuerbestattung.
An diesem Punkt werden die Namen zu Nummern, der soziale Beruf des Bestatters zum Handwerk.
20 Meter neben dem Kühlraum, im anderen Flügel des Gebäudes, steht der Ofen. Er läuft den ganzen Tag und schafft dabei maximal sechs Feuerbestattungen. Über einen automatischen Einfahrmechanismus verschlingt er den ganzen Sarg. Nur die geschwungenen Sargfüsse werden vor dem Kremieren abgehebelt, sie könnten sich sonst verkeilen. Wenn Angehörige das wollen, dürfen sie dabei sein und sogar den Knopf selber drücken. Letzteres ist zum Beispiel für Hindus wichtig, denn in ihrem Glauben ist es Tradition, dass der erstgeborene Sohn der verstorbenen Person das Feuer entfacht.
Kaum sieht man die ersten Flammen, schliesst der Ofen seinen Mund und beginnt zu kauen. 90 Minuten dauert eine Feuerbestattung.
Peter Bossi, der die Anlage heute bedient, steigt eine Treppe hinunter in einen Raum unter dem Ungetüm. Hier ist es warm und riecht, als hätte man ein Haar in die Flamme eines Streichholzes gehalten. Während über unseren Köpfen bereits der nächste Durchgang läuft, öffnet Bossi eine Art Schublade am hinteren Teil des Ofens. Darin befindet sich der Mann mit der Bestattungsnummer SH7223, der 7223. Mensch, der seit Inbetriebnahme der Anlage hier seine letzte Ruhe fand. Die Nummer ist neben Name, Geburts- und Todesdatum auch auf dem Deckel der Urne eingraviert, die neben Bossi auf einem Tisch steht. Beim Öffnen der Schublade fällt ein klitzekleiner Rest auf den Boden. Bossi wischt ihn auf und gibt ihn dazu, denn alles muss in die Urne. Doch noch ist SH7223 nicht bereit dafür. Denn auch nach 90 Minuten bei über 800 Grad ist noch mehr übrig, als man erwarten würde.
Einerseits verbrennen Knochen nur teilweise, die mineralische Grundstruktur bleibt erhalten. Der Inhalt der Schublade ist zwar leicht und brüchig, aber immer noch klar als Knochen zu erkennen. Andererseits kommt oben ja der gesamte Mensch rein, mit allen Fremdkörpern, die sich über eine Lebensdauer so ansammeln. Dritte Zähne zum Beispiel dürfen Bestatter weder entfernen noch einlegen, das wäre Leichenschändung – eine schwere Straftat. Hinzu kommen künstliche Hüftgelenke, Schrauben, Nägel, Klammern. Das alles muss Bossi zuerst mithilfe eines Magneten entfernen. Dann kommt das brüchige Knochengemenge in eine Mühle. Heraus kommt das graue Pulver, das man als Asche erkennt. Bossi füllt es in eine Urne – das Bestattungsamt bietet ein Ton- oder Holzmodell an – und plombiert sie mit einem Draht. SH7223 ist fast am Ziel.
*
Covid-Tote haben wir an diesem Tag übrigens keine gesehen. Allgemein habe man beim Schaffhauser Bestattungsamt von der Pandemie nicht viel bemerkt, sagt Leo Müller. Trotz statistisch belegter Übersterblichkeit in den vergangenen beiden Winterhalbjahren habe man nicht mehr zu tun gehabt als sonst, sagt er. Am meisten Tote, so Müller, gebe es immer bei Wetterumschwüngen, also im Herbst und im Frühling.
Nur die Regeln haben sich etwas verändert in der Pandemie. Denn der Körper von Menschen, die an Covid gestorben sind, darf nur von Bestattern mit Schutzkleidung eingesargt werden. Auch die Angehörigen dürfen nur mit Schutzkleidung Abschied nehmen, zu Beginn der Pandemie gab es im Kantonsspital gar eine Regel, dass maximal zwei Angehörige den Toten sehen durften. Danach kommt der Leichnam in einen Sarg, der bis zur Bestattung verschlossen bleibt. Nachträgliches aufbahren wie bei «normalen» Toten ist bei Corona-Positiven nicht erlaubt. «Das den Hinterbliebenen zu erklären, ist nicht einfach», sagt Müller.
In der Pandemie bleibt also weniger Zeit zum Abschied. Corona-Tote kommen etwas schneller an das Ziel, dem auch die Frau in Winterthur und der Mann aus Stetten unweigerlich entgegenstreben: eine Nummer. SH7223, SH7224, SH7225 … Leo Müller tippt ihre Zahlenfolge ins Zivilstandsregister, dann haben sie ihre Aufgabe auf der Erde erfüllt.