Ein Mann soll seine Partnerin vergewaltigt haben, doch das Kantonsgericht sprach ihn frei – «in dubio pro reo». Jetzt hat das Obergericht das Urteil gekippt.
Der Strafverteidiger Erwin Beyeler goss seine Strategie in einen Satz: «Meine Aufgabe ist es, Zweifel zu wecken.»
Es war ein Donnerstag Anfang Januar 2021 im Schaffhauser Kantonsgericht. Auf der Anklagebank sass Herr Barasa*, und die AZ berichtete einige Tage später, die Anklageschrift habe sich gelesen wie der Klappentext eines Horrorthrillers. Unter anderem soll Barasa seine ehemalige Partnerin Frau Gerber* und die gemeinsame Tochter vergewaltigt haben.
Die Reportage (nachzulesen unter epaper.shaz.ch, Ausgabe 3, 2021) trug den Titel «Unter vier Augen», denn die Konstellation des Falles war typisch für Fälle von sexuellen Übergriffen und häuslicher Gewalt: Es gab keine Zeuginnen und keine Sachbeweise. Nur vier Augen waren dabei: die des vermeintliches Opfers und die des vermeintlichen Täters. Es stand Aussage gegen Aussage.
Es ist eine denkbar schlechte Ausgangslage für das Opfer, also versuchte die Staatsanwältin umso vehementer, die Klägerin Frau Gerber und ihre Erzählungen glaubwürdig erscheinen zu lassen. Stundenlang verwies sie auf die «hohe Aussagequalität», die «diversen Realkennzeichen», die «detailreichen Schilderungen».
Schliesslich aber konnte Verteidiger Beyeler den Zweifel, den er gesät hatte, auch ernten.
Das Kantonsgericht kam zum Schluss, man könne nicht mit der notwendigen Überzeugung sagen, dass sich alles so abgespielt habe wie in der Anklage behauptet. Barasa wurde zwar wegen einfacher Körperverletzung verurteilt, weil er seine Kinder geschlagen haben soll. Nicht aber wegen der schweren Sexualdelikte: «Der Beschuldigte ist in Zweifel von den Vorwürfen freizusprechen», sagte Kantonsgerichtspräsident Andreas Textor. In dubio pro reo.
Nun, fast ein Jahr später, stand Barasa erneut vor Gericht. Die Staatsanwältin hatte Berufung eingelegt, also musste das Obergericht den Fall noch einmal prüfen.
Und was das Obergericht entschied, überraschte.
Der vorsitzende Oberrichter, Kilian Meyer, sagte in der Urteilsverkündung, gerade bei Fällen, in denen Aussage gegen Aussage stehe, sei es wichtig, nach dem Grundsatz in dubio pro reo zu verfahren. «Theoretische Zweifel» aber reichten dabei nicht aus; wenn keine «erheblichen Zweifel» daran bestünden, dass sich jemand strafbar gemacht habe, müsse er verurteilt werden. Kommen mehrere Indizien zusammen, so Meyer, können sie zusammen ein Bild erzeugen, das Zweifel ausräumt.
Das Obergericht hat sich die Sache nicht einfach gemacht, es hat mit der Wahrheit gerungen – und versucht, den Fall im Vollbild zu betrachten.
Tochter wenig glaubwürdig
In den meisten Anklagepunkten stützt das Obergericht das Kantonsgerichtsurteil.
Daran, dass Barasa seine eigene Tochter sexuell misshandelt haben soll, hat auch das Obergericht «erhebliche und unüberwindbare Zweifel». Eine medizinische Untersuchung der Tochter ergab keine entsprechenden Hinweise, ihre Aussagen erachtet auch die zweite Instanz als wenig detailliert und widersprüchlich, sie weichen ausserdem erheblich von den Aussagen ihrer Brüder ab. Im Übrigen gebe es klare Indizien dafür, dass ihre Anschuldigungen gegen den Vater durch Suggestion der Mutter zustande gekommen seien. Dass die Familienkonstellation schwierig ist und die Kinder zu Spielbällen geworden sein dürften, wurde schon vor Kantonsgericht thematisiert.
Schliesslich sprach auch das Obergericht Barasa von den Vorwürfen der sexuellen Gewalt gegen seine Tochter frei.
Wie das Kantonsgericht erachtet es auch das Obergericht als erstellt, dass der Vater seine Kinder mit dem Gürtel geschlagen und sie auf den Balkon gesperrt hat. Damit habe er seine Fürsorgepflicht verletzt und sich der mehrfachen qualifizierten einfachen Körperverletzung schuldig gemacht.
Und auch was die Beziehung zu seiner damaligen Partnerin, Frau Gerber, anbelangt, bestätigt das Obergericht in einem Punkt das Urteil des Kantonsgerichts.
Frau Gerber wirft Herrn Barasa vor, er habe über Jahre mehrmals wöchentlich gegen ihren Willen Analverkehr mit ihr gehabt, während sie noch geschlafen habe. Als sie aufgewacht sei, habe er sie jeweils festgehalten. Es geht um den Vorwurf der Schändung und der sexuellen Nötigung.
Das Obergericht stellt fest, dass Frau Gerbers Aussagen sehr vage seien. Bereits das Kantonsgericht, die erste Instanz, hätte gern mehr erfahren, doch Frau Gerber konnte keine genauere Auskunft geben. Die Staatsanwältin sagte damals, man müsse die «intellektuellen und sprachlichen Fähigkeiten» des Opfers berücksichtigen. Doch auch gegenüber ihrem Psychiater und einer Vertrauensperson hatte sie nie über den Analverkehr gesprochen. Insgesamt blieben gemäss dem Obergericht «erhebliche Zweifel» an ihrer Darstellung. In der Befragung sagte sie vor Obergericht ausserdem, sie sei jeweils aufgewacht, bevor Barasa in sie eingedrungen sei.
Das ist juristisch ein grosser Unterschied: Wenn sie wach war, war sie nicht widerstandsunfähig, und wenn sie Widerstand leisten konnte, kann man nicht von einer Schändung sprechen. Als Nötigung gilt gemäss Rechtssprechung ausserdem nur eine Handlung, die mit Gewalt oder psychischem Druck erzwungen wurde. Beides war gemäss Obergericht nicht der Fall. Auch von diesem Vorwurf wurde Herr Barasa freigesprochen.
Nicht fähig zur Manipulation
In einem entscheidenden Punkt aber kippte das Obergericht das Urteil des Kantonsgerichts. Das Obergericht ist überzeugt, dass Barasa Frau Gerber 2010 vergewaltigt hat.
Sie hat dem Gericht erzählt, wie er sie an einem Morgen in der gemeinsamen Wohnung mit seinem ganzen Körpergewicht auf sie gelegt und sie an den Oberarmen gegen das Bett gedrückt habe. Sie habe versucht, sich verbal und körperlich zu wehren, doch er habe nicht reagiert und einfach weitergemacht.
Diese Erzählung betrachtet das Obergericht als «konstant». Sie habe diesen Vorfall auch von Anfang an stets als klar gewalttätiger beschrieben als die anderen. Ausserdem schilderte sie die Tat viel detailreicher und sprach darüber auch bereits vor Jahren mit ihrem Psychiater und einer engen Vertrauensperson.
Herr Barasa hingegen verwickelte sich in Widersprüche, stellte sich als Opfer dar, seine Verteidigerin behauptete, Frau Gerber habe sich «eine bis ins Detail zurechtgelegte Geschichte ausgedacht».
Oberrichter Kilian Meyer sagte jedoch, nach der umfassenden Befragung traue das Gericht Frau Gerber eine derartige Manipulation nicht zu. Es sei für das Gericht klar, dass sie in diesem Punkt über etwas berichtete, das sie tatsächlich erlebt habe.
Eine Vergewaltigung liegt gemäss Strafgesetzbuch vor, wenn jemand zum Sex genötigt wird. Ein Nötigungsmittel ist Gewalt, und wenn der Täter das Opfer festhält und sich auf dieses legt, handelt es sich laut Gesetz um Gewalt. Eine «tatkräftige und manifeste Willensbezeugung», wie sie Frau Gerber gemacht hat, reicht gemäss bundesgerichtlicher Praxis aus, um dem Täter zu verstehen zu geben, dass man nicht einverstanden ist.
Theoretisch sind auch in diesem Fall Zweifel möglich. Doch während sie für das Kantonsgericht offenbar erheblich waren, sind sie für das Obergericht eben bloss theoretisch.
Auch dass Frau Gerber Herrn Barasa erst Jahre nach der Tat angezeigt habe, sei verständlich, sagte Kilian Meyer. Er sei vorbestraft gewesen und sie habe dem Vater ihrer Kinder nicht schaden wollen. Der Oberrichter wies auch darauf hin, dass es nicht aussergewöhnlich sei, dass Sexualdelikte nicht oder erst spät angezeigt werden, sei es aus Scham oder aus Furcht. Die Wissenschaft gehe von einer hohen Dunkelziffer bei sexuellem Missbrauch in Partnerschaften aus.
Schliesslich verurteilte das Obergericht Herrn Barasa zu 25 Monaten Gefängnis und erhöhte somit das Strafmass des Kantonsgerichts um 7 Monate. Er habe direkt vorsätzlich gehandelt, sein Beweggrund sei egoistisch und sein Handeln rücksichtslos gewesen. Die Strafe ist unbedingt, da er bereits vorbestraft war.
Hingegen hat das Obergericht darauf verzichtet, Barasa des Landes zu verweisen, was es theoretisch hätte machen können. Kilian Meyer sagte, das Gericht gehe davon aus, dass er seine Lehren aus dem Verfahren gezogen habe. Jetzt aber dürfe er sich absolut nichts mehr zuschulden kommen lassen.
* Namen geändert
Bericht über die Verhandlung vor Kantonsgericht im Januar 2021