Ekstase

29. Dezember 2021, Nora Leutert
Christusdarstellung aus dem 13. Jahrhundert. imageBROKER / Alarmy Stock
Christusdarstellung aus dem 13. Jahrhundert. imageBROKER / Alarmy Stock

Verschmelzen mit Jesus: Die eucharistische Frömmigkeit der Nonnen des Klosters St. Katharinental trieb im Mittelalter wilde Blüten.

Sonderbares ereignete sich, als Schwester Adelheit von St. Gallen im hochmittelalterlichen Dominikanerinnenkloster bei Diessenhofen krank darnieder lag. Ein Herr trat zu ihr hin und setzte sich an ihr Bett. Er brach ein Stück Fleisch, ein fleischli, aus seiner Hand und gab ihr dieses in den Mund. Er sprach zu ihr: Das ist mein Fleisch und Blut. Und dann entschwand er.

So steht es im Schwesternbuch von St. Katharinental geschrieben, aufgezeichnet von einer anderen Ordensschwester. Adelheit war längst nicht die einzige der Nonnen, die Wunder erlebt haben soll: Die Frauen – sie stammten aus der umliegenden Region, aus Konstanz, Winterthur und Schaffhausen – seien dem Herrn in Fleisch und Blut begegnet, sie hätten sich mit ihm vereint, oder hätten ihn, eben, gegessen. Was spielte sich damals im 14., 15. Jahrhundert ab hinter den Klostermauern an den Ufern des Rheins? Waren die Nonnen übergeschnappt oder trieben sie es zu weit in ihrer literarischen Phantasie?

Das Kloster

Die St. Katharinentaler Nonnen haben mit ihren Visionen in der internationalen Forschung Bekanntheit erlangt. Genauso wie einige andere Dominikanerinnengemeinschaften im schweizerischen und süddeutschen Raum, die ähnliche Gnadenerlebnisse in ihren Schwesternbüchern schildern. Wie die andern Gemeinschaften wurde auch der Konvent im St. Katharinental bei Diessenhofen von sogenannten Beginen ins Leben gerufen: von alleinstehenden, asketischen Frauen, die sich im Zuge der Frömmigkeitsbewegung des 13. Jahrhunderts zusammengeschlossen hatten. Das Kloster wurde nach seiner Gründung im Jahr 1242 rasch in den Dominikanerorden inkorporiert.

Die Frauengemeinschaft aber stand weiterhin der beginischen Mystik nahe, welche sich auf die körperlich ekstatisch erfahrbare Verbindung mit Gott richtete: Und das war, wie sich in den Visionen der Nonnen zeigt, eine ziemlich heisse Sache.

Visionen

Es ist eine eigenartige Mischung aus eucharistischen Wundern, welche die Nonnen in Diessenhofen schildern. Das handgeschriebene Schwesternbuch ist heute dank einer kommentierten Edition der Mediävistin Ruth Meyer gut zugänglich. In den über 50 Gnadenviten erscheint Gott den Schwestern sehr oft in leiblicher Gestalt des Jesuskindes. So sah die Nonne Anne von Ramschwag eines Tages, als sie ihr Buch öffnete, das Jesuskindchen darin liegen:

vnd do si das bůch vff getett, do sah si ein kleines kindli in dem bůch ligent, vnd hatt das kindli sin fuessli genomen in sin hendli vnd lag nackent vnd bloss vor ir ougen.

Die Schwester Adelheit von Spiegelberg indessen erlebte auf dem Weg in den Speisesaal, wie das Jesuskind auf sie zukommt und ihr unter den Mantel lief: do kam das kindli vnd lúff ir vnder den mantel.

Noch Ausgefalleneres trieb die Schwester Ite von Hallau: Sie spielt Ball mit dem kleinen Christus. Als sie eines Tages Kräuter trocknet und diese zu einem Ballen formt:

do erschain ir vnser herr als ein kindli vnd nam ir die ballun vss der hand vnd warff ir si do wider. Also ballet si vnd daz Jesusli mit enander, vnd was ir als wol mit dem kindlin, das si vergass, das si tůn solt.

Ebenso häufig wie die Begegnung mit dem Herrn in Kindsgestalt ist die Passions- und Leidensmystik, in der die Nonnen die Nachfolge des leidenden Christus antreten und körperlich mit ihm mitfühlen: Zur Schwester Elsbeth Hainburg sprach der Herr, er wolle sein Leiden in sie ergiessen und seine fünf Wunden so tief in sie senken, dass sie diese selbst schmerzhaft empfinde.

Im Zentrum stand die unio mystica, die Verschmelzung mit Gott, wobei die Nonnen Christus eben auch leiblich assen oder sein Blut tranken. Der Schwester Gertrud die Rittrin etwa erschien Christus, der ihr sein Blut direkt aus seinem Herzen in einen Kelch ergoss und zum Trinken anbot.
Die ekstatischen Erfahrungen der Nonnen sind teils sehr sinnlich angehaucht, ja fast erotisch – wenn auch nicht so stark wie in anderen mystischen weiblichen Texten jener Zeit. Die Diessenhofener Nonnen vereinten sich in bräutlicher Mystik mit Christus, gaben sich seinen Umarmungen hin und zogen seine Minne, seine Liebe in sich.

Gehorsam

Die Schwestern erreichten ihre Gemütszustände oft über die Kommunion, den Empfang der Hostie, welche das Allerheiligste darstellt: Immer wieder wird beschrieben, wie stark sie sich danach sehnten, den Herrn zu empfangen. Nur schon der Anblick der Hostie; die Oblate, die erhoben wird, oder der Gedanke daran regte die Nonnen zu mystischen Erfahrungen an. Oder dann kam die Verzückung bei der andächtigen Betrachtung von Heiligenbildern und Kultgegenständen über sie, von denen das Kloster St. Katharinental zahlreiche besass.

Auch tugendhaftes Handeln aber konnte der Auslöser für die Gottesgnade sein: Oft wurden die Schwestern etwa für ihren Gehorsam gegenüber den klösterlichen Regeln durch die Gottesnähe belohnt. Schwester Anne von Ramschwag, jene, die das Jesuskind im Buch vor sich liegen sah, hatte bis zu jenem Tag ihres Gnadenerlebnisses sehr ungern gelernt. Und dann, voilà: Darnach lernet si von hertzen gern alles, daz si lernen solt.

Und damit kommt man den Offenbarungserlebnissen ein wenig mehr auf die Schliche.

Zwischen der mystischen weiblichen Spiritualität jener Zeit und dem Klosterleben gab es gewisse Spannungen. Der andächtige Rückzug in das eigene Zusammensein mit Christus hat etwas Individualistisches, was den täglichen, aktiven Arbeiten und den Ordensregeln des Klosters im Wege stehen konnte. Und der direkte, private Draht der Nonnen zu Christus hatte nicht zuletzt auch das Potenzial, die Autorität der männlichen Seelsorger und Priester zu untergraben, in deren Hand die Eucharistie eigentlich lag.

Dieses Spannungsfeld zwischen Regeln und mystischer Erfahrung kommt in den Gnadenviten der Nonnen zum Ausdruck. Sie sind literarische Erzeugnisse und sollten den nachfolgenden Ordensschwestern zur Erbauung und als positive Exempel dienen. Laut Historiker Christian Folini liefern sie ein Abbild des Wertesystems der Autorinnen und des klösterlichen Alltags. Zugleich nahmen die Autorinnen der Schwesternbücher laut Folini eine vermittelnde Position ein und versuchten die Sprengkräfte der Mystik in gemeinschaftliche Bahnen zu lenken und so abzuschwächen.

Auch wenn wohltemperiert, haben die Gnadenviten der St. Katharinentaler Nonnen ganz schön Biss.


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Es gibt zahlreiche Forschungsliteratur zu den Schwesternbüchern der Dominikanerinnen. Einen umfassenden Einstieg bietet Christian Folinis Publikation «Katharinental und Töss. Zwei mystische Zentren in sozialgeschichtlicher Perspektive». Das St. Katharinentaler Schwesternbuch selbst liegt in der mittelhochdeutschen, kommentierten Edition von Ruth Meyer in gedruckter Form vor.