Die Schulen bleiben trotz hoher Corona-Inzidenz offen. Die Regierung vollzieht damit eine Gratwanderung – denn Lehrpersonen wie auch Eltern stossen an ihre Grenzen.
Bern tut es, Aargau tut es auch: die Schulen schon morgen Freitag schliessen statt erst kurz vor Heiligabend. Beide Kantone begründen den Entscheid mit den explodierenden Zahlen der Corona-Infektionen in den Schulhäusern. Schaffhausen aber sagt: Die Schulen bleiben bis Weihnachten offen.
Am Dienstagnachmittag hat der Regierungsrat die Corona-Situation in den Schulen beraten und kam dabei zum Schluss, dass «für eine vorzeitige Schulschliessung weder eine medizinische Indikation vorhanden ist, noch pädagogische oder organisatorische Gründe vorliegen». Mit dem Entscheid stellt er sich gegen die Forderungen sowohl des kantonalen Verbandes der Schulleiterinnen und Schulleiter als auch gegen den Stadtschulrat Schaffhausen. Was nach der einwöchigen Ferienpause Anfang Jahr passiert, lässt er noch offen. Auch das macht nicht alle glücklich.
Was ist passiert?
Pandemietreiber
Die Klassenzimmer sind in den letzten Wochen wieder als Pandemietreiber in den Fokus gerückt: Mehr als jede dritte Ansteckung geht auf Kinder und Jugendliche zurück. Zwar heisst es, dass Kinder zumeist milde Verläufe erleben würden oder gar keine Symptome hätten. Denoch schlossen letzte Woche die Stadtschulhäuser Breite und Zündelgut, weil sich die Situation über Wochen nicht gebessert hatte, trotz repetitiver Pooltests. Am Montag trabten alle – Schülerinnen wie Schulpersonal – zu PCR-Tests an.
Letztlich verkündete Stadtschulrat Christian Ulmer, dass 4,4 Prozent aller Personen positiv testete. Weniger also als befürchtet.
Diese Zahlen greifen zu kurz, findet Elena Schneider.* Sie meldet sich an einem Nachmittag auf der Redaktion, per Telefon, weil sie nun seit über zwei Wochen mit ihren Kindern in Quarantäne sitzt. Sie spricht von einer «wahnsinnigen Dynamik der Ansteckungen» an den Schulen: Ihr älteres Kind besucht das Schulhaus Breite – eines der beiden Schulhäuser, die letzte Woche geschlossen waren. Trotz positiver Pooltests habe der Unterricht weiterhin stattgefunden, so ist es die Regel. Die Mutter findet: «Man hat viel zu lang zugewartet.» Das Resultat: Ihr Kind hat sich angesteckt, wie mindestens sieben oder acht Klassengspänli auch, zwei davon hätten danach 40 Grad Fieber gehabt. Zusammen mit dem Kind mussten Mutter und das jüngere Geschwister in Quarantäne. Jetzt ist Elena Schneider auch infiziert – doppelt geimpft und trotzdem mit Grippesymptomen.
Berichte über Impfdurchbrüche bei Erwachsenen häufen sich. Vor allem berichten Eltern schulpflichtiger Kinder, und es verstärkt sich der Eindruck, dass dieser Umstand unterschätzt wird. Denn verlässliche Zahlen, wie viele Schulkinder das Virus effektiv an ihre erwachsenen Mitbewohnenden weitergeben, gibt es nicht.
Diese Woche gehen die Fallzahlen im Kanton etwas zurück (siehe rechts): Letzte Woche wurden 13,6 Prozent der Ansteckungen in den Schulen identifiziert (Vorwoche: 16,5 Prozent) und 37,9 Prozent in der Familie. Diese Zahlen müssen aber vorsichtig gelesen werden, denn von über 40 Prozent aller Ansteckungen ist der Ursprung unbekannt. Und um beurteilen zu können, ob die Spitze gebrochen ist, ist es zu früh. «Die Situation sorgt aktuell für grosse Unsicherheit», weiss Ulmer. «Man hatte sich erhofft, durch die Impfung Erwachsene schützen zu können und die Kinder gewissermassen laufen zu lassen. Jetzt sehen wir, dass sich das nicht so entwickelt.» Die Forderung, die Schulen zu schliessen, rührt genau daher: Organisatorisch wäre das aufgrund der kurzen Zeit zwar ein Hoselupf gewesen, weil die Schulen trotzdem ein Betreuungsangebot schaffen müssten, um Eltern nicht in die Bedrouille zu bringen. Aber: Es hätte die epidemiologische Belastung aufgefangen – für Angehörige wie auch für das Lehrpersonal.
Denn nebst den Ansteckungen im Familienumfeld gibt es gerade in Schaffhausen noch ein weiteres Problem: Die Lehrerinnen und Lehrer kommen an den Anschlag.
Ausgetrocknete Pools
Wo man sich umhört, sagen zwar alle, dass die Lehrerteams zusammenhalten und das Beste aus der Situation machen. «Ausgezehrt, erschöpft, ausgelaugt sind aber ganz viele», sagt etwa Christoph Schmutz, Vorsteher der Schule Steig. Seine Aussage deckt sich mit anderen schulnahen Personen, die anonym bleiben möchten. Die Gründe liegen nicht nur im eigenen Ansteckungs- und Erkrankungsrisiko, sondern in einer generellen Mehrbelastung. «Viele Kinder sind angesichts der Lage nervös, sie suchen eine Art Normalität und Gemeinschaftlichkeit. Lehrerinnen und Lehrer müssen ihnen darum jetzt umso mehr Orientierung bieten. Und im Krisenfall sind gerade sie für Eltern die erste Ansprechperson. Nicht die Corona-Hotline», sagt Schmutz. Der regelmässige Austausch mit den Eltern – die auch teils sehr unterschiedliche Sorgen ausdrücken – ziehe sich oft bis in den Abend.
Dazu kommt: Werden Lehrpersonen krank, müssen sie auf Stellvertretungen zugreifen können. Aber die Pools, auf die Schulen normalerweise zurückgreifen können, sind «ausgetrocknet», sagt Christian Ulmer.
Dass sich aktuell nur wenige Stellvertretungen finden lassen, ist zwar landesweit der Fall. Schaffhausen kämpfte aber schon in den Jahren davor mit einem Mangel an Lehrerinnen und Lehrern (die AZ berichtete mehrfach). Der Grund: Das Lohnsystem für Kantonsangestellte führt zu einem tieferen Einstiegslohn; schon im Weinland sind die Löhne für Lehrpersonen knapp 12 000 Franken pro Jahr höher als in Schaffhausen. Und das sind nur die Einstiegslöhne – nach zehn Jahren im Dienst sind es bereits durchschnittlich 25 000 Franken pro Jahr, wie Patrick Stump, bis vor Kurzem Präsident des Vereins Lehrerinnen und Lehrer Schaffhausen, vorrechnete. Von Sofortmassnahmen, um die Situation zu verbessern, sah die Politik allerdings ab.
Dieser Mangel zeigt sich nun, da vermehrt Lehrpersonen krank sind oder in Quarantäne müssen, umso deutlicher. Die Stadtschaffhauser Schulen fragen inzwischen Teilzeitangestellte, Studierende der Pädagogischen Hochschulen und gar frisch Pensionierte für Sondereinsätze an. «Besonders bei letzteren ist das natürlich nicht einfach. Corona hat eine andere Dynamik als Grippewellen – wer bereits im Ruhestand ist, überlegt sich eine Rückkehr zwei Mal», sagt Ulmer.
Kinderimpfung ab Anfang 2022
Am Freitag letzte Woche gab Swissmedic den Impfstoff von Pfizer/Biontech für die Altersgruppe der 5- bis 11-Jährigen frei. Nun sprach auch die Eidgenössische Kommission für Impffragen eine Empfehlung aus. Sie gilt besonders für Kinder, die wegen einer chronischen Erkrankung gesundheitlich stark belastet sind, sowie für Kinder mit engem Kontakt zu besonders gefährdeten Erwachsenen im selben Haushalt. Die Impfung soll voraussichtlich ab Anfang Januar 2022 verfügbar sein.
So klingt es aktuell aus den Schulen – nicht geschlossen zwar, aber in der Tendenz doch besorgt. Den Laden schon morgen Nachmittag dichtmachen will die Regierung trotz der Ansteckungszahlen und der Erschöpfung vieler Lehrpersonen nicht. Sowohl der Kantonsärztliche Dienst als auch das Bundesamt für Gesundheit erachtet die Schulen nicht als «eigentlichen Infektionstreiber». Die Strategie, repetitiv zu testen, funktioniere, um die Ansteckungsketten rechtzeitig zu erkennen und zu durchbrechen; darum wurden die Tests inzwischen auch auf Kindergartenebene wieder eingeführt.
Die verhältnismässig sanften Massnahmen zeigen, dass die Schule eben auch ein Ort der Gratwanderung und des Abwägens ist. Die Sicherheit vor einer Infektion für Kinder, Eltern und Schulpersonal ist die eine Seite, die bis zur Ultima Ratio der Schulschliessungen gehen kann.
Die andere Seite lässt sich unter dem Credo des «Rechts auf Bildung» zusammenfassen. Die Volksschule nimmt einen ganzen Strauss an gesellschaftlichen Funktionen ein: Sie verhilft Kindern zu kultureller Teilhabe, gibt Normen und Werte weiter, sozialisiert und vermittelt (berufs-)relevante Fähigkeiten. Dadurch, dass sie Kindern und Jugendlichen ein soziales Umfeld ausserhalb der Familie bietet, fördert sie die Chancengerechtigkeit.
Mit dem Recht auf Bildung – das letztlich mit einer Schulbesuchspflicht einhergeht – argumentiert nicht nur Erziehungsdirektor Patrick Strasser, sondern beispielsweise auch die Schulbehörde von Neuhausen. «Dieses verfassungsmässige Recht kann man nur einschränken, wenn es klare, epidemiologische Argumente dafür gibt, dass dadurch weniger Menschen auf den Intensivstationen landen», sagt Strasser. Natürlich komme es nicht per se auf vier Ferientage mehr oder weniger an. Strasser stellt sich dennoch auf die Position: Wehret den Anfängen. «Während des Lockdowns vorletzten Frühling zeigte sich, dass schon bestehende Ungleichheiten zwischen Kindern noch grösser wurden. Kindern in einem guten Umfeld hat die Schulschliessung nicht viel ausgemacht – alle anderen haben aber den Faden verloren.» Dies laufe dem Recht auf Bildung zuwider.
Kritik am Mahnfinger
In einem Aspekt decken sich die Positionen von Ulmer und Strasser allerdings: Beide stören sich daran, dass der pandemische Mahnfinger aktuell so stark auf die Schulen zeigt. Strasser sagt: «Solange alles andere unter Sicherheitsvorkehrungen offen bleibt – die Bars, Restaurants und Clubs etwa – und es keine Beschränkungen bezüglich Zutrittszahlen gibt, leuchtet mir eine Schulschliessung nicht ein. Vorher hätte die Gesellschaft andere Hausaufgaben zu machen.» Auch Ulmer spricht sich prinzipiell dagegen aus, dass die Schule die Pandemie ausbaden müsste. «Die Kinder sind zum Spielball geworden. Solange sich die Gesellschaft und Wirtschaft mit sonstigen Massnahmen schwertut, ist dieser alleinige Fokus auf sie unfair.» Ihm sei klar, dass man mit den Pooltests eine grosse Kulisse aufgebaut hat – umso mehr wünsche er sich etwas mehr Gelassenheit darin, nicht das ganze Schicksal der Gesellschaft an der Volksschule aufzuhängen.
Der Unterricht läuft nächste Woche also normal weiter. Offen bleibt aber, wie es nach den Weihnachtsferien, ab dem 3. Januar, weitergeht. Diesbezüglich hatten sich viele ein Signal der Regierung erhofft – Schulvorsteherinnen wie Lehrer. Einige vermuten, dass Einzeltests durchgeführt werden, bevor der Unterricht regulär weiterläuft. Dazu gibt die Regierung jetzt noch nichts bekannt. Strasser hält lediglich fest, dass der Regierungsrat die Situation dauernd beobachte – und dann entsprechende Beschlüsse fasse und kommuniziere.
*Name von der Redaktion geändert