Maurus Pfalzgraf ist Kantonsrat der Jungen Grünen. Doch am liebsten wäre er bei der SVP. Die Geschichte eines 21-Jährigen mit scheinbar unendlich viel überschüssiger Energie.
Er hasse Anzüge, sagt Maurus Pfalzgraf. Er lispelt das «S» und seine Augen wirken immer leicht zusammengekniffen aber hochaufmerksam. Der zweitjüngste Schaffhauser Kantonsrat der Jungen Grünen sitzt in der «essKultur» in der Altstadt. Vor sich ein zugeklappter Laptop, der mit Stickern der Klimabewegung übersät ist, und ein Teller mit Spinat, Tofu und Kartoffelstock, den er in beeindruckender Geschwindigkeit leert und bei der Kellnerin um Nachschlag bittet. Er hasse Anzüge und besitze auch keinen. Für die Klimakonferenz in Glasgow, die er im November besuchte, habe er sich den seines Bruders ausgeliehen. Um weniger aufzufallen. «So kam ich auch in Verhandlungen rein, wo ich eigentlich gar keinen Zutritt gehabt hätte.» Einmal sei er in ein Panel hineingeraten, wo nur arabisch gesprochen wurde. «Ich verstand gar nichts ausser jeweils ‹shukran›, wenn sich die Redner am Ende ihrer Voten bedankten.» Obwohl er kein Wort der Verhandlungen verstand, blieb er sitzen und hörte zu. «Ein Freund, der arabisch kann, hat mir dann übers Handy einen Teil der Reden übersetzt. Das war lustig.»
Die pfalzgrafsche Neugierde – wir werden ihr noch öfters begegnen. Was treibt diesen 21-Jährigen an, der vor etwas mehr als einem Jahr ins Kantonsparlament gewählt wurde, nach seiner erfolgreichen Energiegesetz-Motion im Sommer bereits weitere Vorstösse in der Pipeline hat, bei Klimademos Bussen riskiert, zwei Studiengänge gleichzeitig absolviert und dazu noch täglich Sport treibt? Diese kompromisslose Neugierde, ohne konkretes Ziel, sondern nur der Neugierde willen: Sie ist ein Teil, aber nicht die ganze Antwort.
Aufgewachsen ist Maurus Pfalzgraf in Feuerthalen, auf der anderen Seite des Rheins. Er war das zweite von vier Kindern. Die Mutter Hebamme, der Vater Physiklehrer an einer Berufsschule. Ein fröhliches und offenes Kind sei er gewesen, erzählen seine Eltern am Telefon, gerne draussen, bewegungsliebend. «Es war schwierig, ihn überhaupt müde zu kriegen», erinnert sich seine Mutter. Maurus spielte Theater, paddelte im Kanu den Rhein rauf und runter. Und er war schnell im Kopf. Mit drei Jahren habe er das «Zundhölzli» von Mani Matter singen können, sagt sein Vater. «Ich bezweifle, dass er wusste, was es heisst, wenn «die Uno interveniert», aber er kannte das Lied auswendig.»
Ausserdem habe der kleine Maurus einen Drang zum «Warum» gehabt. «Wenn man ihm etwas vorschrieb, musste das einen guten Grund haben. Das ist bei den meisten Kindern so, aber bei Maurus war es besonders ausgeprägt», sagt seine Mutter.
Mit 13 den Bruder verloren
Man könnte eine direkte Linie ziehen vom kleinen, aufgeweckten Maurus, der gerne diskutierte, zum heutigen Jungpolitiker. Doch die Geschichte von Maurus Pfalzgraf kann man nicht erzählen, ohne die Ereignisse der Jahre 2011 bis 2013 zu erwähnen. Sie dürften vielen aus einer berührenden SRF-Dokumentation bekannt sein, welche die Schwester seiner Mutter über die Familie gemacht hat.
Nachdem er in den Sommerferien 2011 immer wieder über starke Bauchschmerzen geklagt hatte, wurde bei Maurus kleinem Bruder, Silvan (damals 5), ein Tumor in der Niere gefunden. Es folgen zwei Jahre Kampf. Operation, Chemo, Bestrahlung. Auf und ab. Doch der Krebs kam immer wieder zurück. Im Sommer 2013 schliesslich, gaben die Ärzte auf. Im Januar 2014 starb Silvan.
Da war Maurus 13 Jahre alt.
In der SRF-Dokumentation mit dem Titel «Krebs ist doof» geht es nicht nur um Silvans Krankheit, sondern vor allem auch darum, wie der Rest der Familie mit der Diagnose umgeht. Und die Kinder mit der zunehmenden Absorbiertheit der Eltern. «Silvan nervt mehr als früher», sagt die älteste Schwester (14), der kleine Bruder (9) ist eifersüchtig. Maurus scheint am besten mit der Situation zurechtzukommen. Ihm sei es egal, dass Mama oft mit Silvan weg sei, sagt der Zwölfjährige mit dem damals noch etwas ausgeprägteren Lispeln. Er geniesse die Freiheit – wohl auch ein wenig ein Bluff für die Kamera. «Die Geschwister reden untereinander kaum über Silvans Krankheit. Doch ab und zu kommen vor dem Einschlafen ein paar Tränen», so die Tante aus dem Off. Der Film wurde noch vor Silvans Tod fertiggestellt.
Wie er mit dem Tod seines Bruders umging, das wissen weder Maurus selbst, noch seine Eltern genau. «Ich war in einem Alter, wo man noch vieles als ‹normal› akzeptieren kann. Ich habe erst viel später realisiert, dass es nicht normal ist, so früh einen Bruder zu verlieren», sagt er. Der Film über seine Familie, die Öffentlichkeit, das habe ihm geholfen. «So wussten alle schon Bescheid und ich musste es nicht immer wieder erzählen.» Und er sagt: «Die Krankheit meines Bruders hat mich auch eine gewisse Gelassenheit gelehrt: Wenn Silvan heute keinen guten Tag hat, dann halt morgen. So denke ich noch heute.»
Flucht in den Leistungssport
«Allen dreien hat es sehr gut getan, dass sie Sportvereine hatten, wo auch nach Silvans Tod noch alles gleich geblieben ist», sagt seine Mutter. Bei Maurus wurde der Kanu-Sport sogar zur Hauptbeschäftigung. 2013 wurde er ins nationale Nachwuchskader aufgenommen, holte drei Jahre später Bronze an der international wichtigsten Jugend-Regatta in Ungarn. 2017 gelang ihm mit dem 5. Rang im Zweier an der Junioren-EM der grösste Erfolg seiner Karriere. Mit im Boot sass der Luzerner Linus Bolzern. Die zwei kennen sich seit frühen Teenager-Tagen, trainierten zwei Mal täglich zusammen, fuhren Rennen zusammen und absolvierten zusammen die Spitzensport-RS in Magglingen.
Bolzern erzählt am Telefon von Maurus Geheimwaffe: Power-Naps. «Maurus kann immer und überall schlafen.» Und er erklärt, wieso sich Maurus 2019, nach Abschluss der Kantonsschule, trotz Erfolgen vom Spitzensport zurückzog. Erstens: Die Neugier. «Maurus braucht immer etwas Neues, spannendes, mit dem er sich beschäftigen kann. Mit ihm konnte man stundenlang über alles mögliche diskutieren. Ich denke, ein Stück weit wurde es ihm im Kanu mit der Zeit langweilig.» Und dann ist da, zweitens, die Sache mit dem Klima. «Als er etwa 17 oder 18 war, begann ihn zunehmend zu stören, dass wir so viel herumfliegen und -fahren mussten», sagt Bolzern.
Pfalzgraf selbst pflegt es in Interviews so auszudrücken: «Die Welt hat grössere Probleme, als dass ich über 1000 Meter noch zehn Sekunden schneller werde.»
Die Klimaerwärmung ist Maurus wichtigstes Politikum. Fast alle seiner Voten, die in den Protokollen seines ersten Jahres im Kantonsparlament auftauchen, bezogen sich auf Klima- und Energiethemen. Eine Ausnahme: An einer Sitzung im April hielt er eine lange Rede, die mit den Worten «Ich bin Maurus Pfalzgraf und Cis-Mann» begann. Darin versuchte den Bürgerlichen zu erklären, wieso es bei der E-ID ein drittes Geschlecht braucht. Ohne zählbaren Erfolg.
Das Bild ist gestellt: Maurus Pfalzgraf war zwar im November am Klimagipfel in Glasgow, eine Rede durfte er aber nicht halten.
Politisiert habe ihn, so erzählt es Pfalzgraf, der Dokumentarfilm «An Inconvenient Truth» des Ex-US-Vizepräsidenten Al Gore. «Als ich diesen Film mit sieben das erste mal gesehen habe, weigerte ich mich danach, ins Auto zu steigen.» Seine Mutter erinnert sich: «Einmal sind wir als Familie mit dem Auto ins Welschland gefahren. Maurus hat alleine den Zug genommen. Da war er zehn.»
Auf Parteisuche
Der zehnjährige Autoverweigerer studiert heute Umweltwissenschaften an der ETH (und gleichzeitig das Lehrdiplom Sport; im vergangenen Semester absolvierte er 68 Credit-Points) und politisiert für die Jungen Grünen. Doch so geradlinig, wie das in der Retrospektive klingt, war dieser Weg nicht. Zuerst studierte er ein Jahr Gesundheitswissenschaften, und auch das mit der Parteiwahl war alles andere als vorgezeichnet. «Bevor ich für die Jungen Grünen kandidierte, war ich bei den Jungfreisinnigen, und bei der jungen SVP hatte ich auch angefragt», sagt er.
Gabriel Sonderegger, Vize-Präsident der Jungfreisinnigen, war an der Kanti zusammen mit Pfalzgraf in der Klasse. Er erinnert sich daran, dass Maurus sich im letzten Gymnasialjahr für Politik zu interessieren begann, sich aber nicht sicher war, welcher Partei er beitreten sollte. «Er war mehrmals am Stammtisch der Jungfreisinnigen im Restaurant Falken. Mitglied bei uns war Maurus aber nie», sagt er. Dass er gleichzeitig bei den Jungen Grünen und den Jungfreisinnigen Mitglied war, und sich dann für die Jungen Grünen entschied, weil ihn die Jungfreisinnigen nicht auf die Kantonsratsliste setzen wollten, wie Pfalzgraf im Januar bei Radio Rasa erzählte, stimmt also nicht ganz.
«Am liebsten wäre ich für die SVP im Kantonsrat. Oder bei allen Parteien gleichzeitig Mitglied», sagt Maurus Pfalzgraf, als er den zweiten Teller Tofu-Spinat in der Beiz heruntergeputzt hat, und meint das ernst. Er spielt mit einer Visitenkarte herum: Thomas Fischer, CEO der Elektrizitätswerk Schaffhausen AG (EKS) – sein vorheriger Termin. Zusammen mit FDP-Mann Nihat Tektas war er beim EKS-Chef, um für einen Solarenergie-Vorstoss zu sondieren. Parteipolitik, Ideologie und Grabenkämpfe, das wird im Gespräch mit Pfalzgraf schnell klar, interessieren ihn nicht. «Sich mit Gleichgesinnten zu umgeben ist cool, das ist wie Ferien machen. Aber etwas bewegen kann man ja nur, wenn man mit Leuten spricht, die nicht derselben Meinung sind.»
Maurus Pfalzgraf ist kein Politiker, sondern Umweltaktivist. Und für dieses Ziel scheut er keine Koalition.

Das Prinzip «mit allen reden» hat ihm und Mayowa Alaye (Kantonsrätin GLP) diesen Sommer einen ersten Erfolg eingebracht: Im August nahm der Kantonsrat mit 39:17 Stimmen deren Motion «Schaffhausen erhält ein Energiegesetz» an. Die komfortable Mehrheit war vor allem der vorangegangenen Überzeugungsarbeit geschuldet: Ganze 32 Kantonsrätinnen und Kantonsräte aus allen Parteien ausser der FDP-Mitte-Fraktion hatten den Vorstoss unterschrieben.
Die SVP will ihn (noch) nicht
Zu den Unterzeichnenden gehörte auch SVP-Präsidentin Andrea Müller. Als wir sie anrufen und ihr erzählen, dass Maurus Pfalzgraf gerne Mitglied ihrer Partei werden würde, lacht sie. Pfalzgraf gehöre zu den «jungen Wilden», habe viel überschüssige Energie. «Er geht direkt auf die Menschen zu, ist einnehmend, unverblümt und kann parteiübergreifend arbeiten. Bei ihm gehts um die Sache. Das imponiert mir sehr», sagt sie. Aber sie sagt auch: «Maurus hat politisch noch nie den Kopf angeschlagen. Er muss sich zuerst noch die Sporen abverdienen.» Dann könne man vielleicht über einen Listenplatz bei der SVP reden. Und sie fügt an: «Wir von der SVP leben das, wovon die Grünen reden.»
Es sieht also ganz danach aus, als werde Maurus Pfalzgraf mittelfristig bei den Jungen Grünen bleiben. Denn da passt seine Politik wohl auch am besten hin. Im nächsten Jahr hat er einen Zivildiensteinsatz bei der Klimastiftung in Zürich geplant. Und mit Kollegen arbeitet er gerade an einer Bachelorarbeit, die der Frage nachgeht, wieso nicht mehr Hausbesitzer Solarzellen auf ihre Dächer montieren. Unschwer zu erahnen, in welche Richtung sein nächster Vorstoss gehen wird.
Als wir uns nach gut anderthalb Stunden verabschieden, klappt Maurus Pfalzgraf seinen stickerübersäten Laptop auf, um Online-Vorlesungen zu schauen. Ob er mal bei einer Redaktionssitzung der AZ dabei sein könnte, fragt er noch. Ihn würde interessieren, wie das so abläuft.