Die Schaffhauser Stadttauben sind krank. Doch den meisten Menschen ist das egal – oder gerade recht. Die Geschichte eines sozialen Abstiegs.
Sie sind die wohl unbeliebtesten Stadtbewohnerinnen Schaffhausens. Früher waren sie mehr, viel mehr, in den 90ern weit über 2000, in den 70ern gar über 3000 Individuen. Die Rede ist von den Stadttauben, die tagtäglich von den Dächern gurren und in den Strassen Krumen zusammenpicken. Dafür, dass sie den wohlklingenden Namen Columba livia domestica tragen, hört man von ihr zumeist in missbilligendem Ton: Dreckig seien sie, ja Krankheitsschleudern, sie seien zu viele und überhaupt verscheissen sie das schöne Städtchen. Und jetzt auch das noch: Die Schaffhauser Stadttaube ist krank.
In der Munotstadt grassiert die Paramyxovirose (PMV), besser bekannt unter dem charmelosen Namen Taubenpest. Die Symptome lesen sich unschön, um nicht zu sagen: grausig. Eine infizierte Taube verliert die Orientierung, sie torkelt und stolpert – auch mal gegen Wände –, sie hat Durchfall, und nach ein bis zwei Wochen lahmen ihre Flügel und Beine, bis sie nicht mehr vom Boden hochkommt. Überlässt man sie in diesem Zustand sich selbst, verhungert und verdurstet die gefiederte Städterin. Mortalitätsrate der PMV:
80 bis 90 Prozent.
Gut die Hälfte aller Stadttauben verendete so innert weniger Wochen, als die virale Krankheit 2014 das letzte Mal in Schaffhausen ausbrach. Doch hört man sich heute in der Stadt um, interessiert das niemanden.
Die AZ-Redaktion findet zu Beginn der Recherche: «Wen kümmerts? Ratten der Lüfte!»
Der Kantonstierarzt findet: «Viel kann man da nicht machen. Das ist die Natur, die sich selber reguliert.»
Der Denkmalpfleger sagt, etwas verwundert über die Anfrage: «Wir haben sicher grössere Probleme in der Denkmalpflege als die Taube.» Und spricht diplomatisch von einem «sehr gespaltenen Verhältnis», das er zu den Tieren hat.
Und in der Altstadt vernimmt man das durchzogene Gefühl: Taubenhassen gehört schon fast zum guten Ton.
Viele Freunde hat die Taube nicht, geschweige denn eine Lobby. Aber ist damit schon alles gesagt? Zeit für eine Tuchfühlung.
Vom Statussymbol zur «Ratte»
So unbeliebt wie heute war die Taube nicht immer. Im Gegenteil: Sie war eines der ersten Haustiere des Menschen, sie lieferte Briefe und Fleisch und kam damit beinahe einem Statussymbol gleich. Über Jahrhunderte galt sie als Friedensbringerin, als Allegorie von Reinheit, Unschuld, Sanftmut und Liebe. An der Fassade der jüngst ausgezeichneten Wirtschaft zum Frieden (AZ vom 25. November 2021) prangt das Ornament von 1944 immer noch, die Taube mit dem Olivenzweig und der Überschrift «Veni Nobis Cum Pace»: Komm zu uns in Frieden.
Noch vor wenigen Jahrzehnten freute sich ungemein, wem eine Stadttaube für ein paar Brotkrumen auf den Schoss sass. Die Taubenfütterung war tatsächlich ein – mitunter in den 60er Jahren gut dokumentiertes – Volkshobby, selbst aus dem Mund liess man die Tiere Körner picken. Und heute? Kommt es einem Outing gleich, wenn man (aus Versehen natürlich) ein paar Körner in Richtung einer Taubengruppe fallen lässt. Die Fütterung ist illegal. Tauben haben jetzt nur noch eine letzte Domäne: Auf Hochzeiten sind sie ein beliebtes Fotosujet geblieben. Aber dann auch nur weisse, gezüchtete Tiere. Ihre halbwilden, grau-perlmuttfarbenen Schwestern auf den Strassen dagegen, die sind als Schädlinge klassifiziert, ein Problem, fusselige und ungepflegte Krankheitsschleudern. Was wurde der Stadttaube nur zum Verhängnis?
Die ganz kurze – nur vermeintlich lapidare – Antwort: der Mensch. Denn bei der verwilderten Stadttaube handelt es sich um Nachkommen ehemaliger Nutztiere. Tauben waren über Jahrhunderte geschätzte Fleischlieferantinnen. Dann aber wurde die Geflügelzucht industrialisiert, Güggelifleisch wurde zunehmend billiger – und die Taube uninteressant. Nicht selten wurden Haustauben deshalb einfach ausgesetzt und sich selber überlassen.
Dabei haben wir aber eines unterschätzt: Die Taube liess sich nicht mehr in Wald und Feld nieder, sondern suchte die Nähe des Menschen weiterhin. Als sogenannte Kulturfolgerin passte sie sich und ihre Ansprüche wie keine zweite der teils kargen Umgebung an. Auch, wenn die Obdachlosigkeit damit einherging: Wo sie Futter fand, da war es gut, und am meisten Futter gab es eben: in den Städten. Und weil die Taube ein prinzipiell ortstreues Wesen ist, blieb sie dort.
Massnahmen brachten wenig
In Schaffhausen wuchs die Taubenpopulation bis Mitte der 70er auf rund eineinhalbtausend Brutpaare an (die lebenslang monogamen Tiere werden in Pärchen gezählt). Zu dieser Zeit riss Schaffhausen allerdings auch zahlreiche ältere Gebäude ab und raubte den Verliebten ihre Nistplätze. Die Tauben eroberten die Altstadt. Mit der steigenden Obdachlosigkeit, der Konzentration der Tiere auf den wenigen übrigen Brutplätzen und den darin herrschenden Slumbedingungen wurde es dem Menschen dann zu bunt. Und dafür, dass die Taube ein eigentliches Nischentier ist, hat sie in den Folgejahren eine Bürokratie sondergleichen ausgelöst.
Die Tauben hatten Mitte der 70er dermassen Überhand gewonnen, dass der Einzelabschuss mit dem Gewehr nicht mehr ausreichte. Darum holte die Stadtpolizei zur Aktion Taubenschlag aus: Sie beschaffte Fanggitter, fütterte die Tauben darin an, gewann ihr Vertrauen – und liess die Fallen dann zuschnappen. Die Aktion machte den Tieren fachkundig den Gar aus: Nur jede Dritte kam davon.
Das Schaffhauser Taubenvolk sollte sich aber schnell erholen. Denn: Die Nahrung bestimmt die Population. Und da die Menschen die Tauben immer noch fleissig fütterten, hatte nicht einmal die Ansiedlung von Räubern wie Falken und Habichten noch einen Stich. Darum griff der Mensch wieder zu drastischeren Massnahmen: etwa zur Hormonkeule. Eine Anti-Baby-Pille wurde ins Futter gemischt in der Hoffnung, genügend Tiere würden dadurch sterilisiert. Weil die Stadt aber die Dosen der Tiere nicht kontrollieren konnte, schnappten sich vor allem dominante, gesunde Tauben die Happen – und gingen an einer Überdosis ein. Der Schuss ging nach hinten los: Die Taubenpopulation wurde zwar etwas dünner, gesünder und kräftiger aber nicht.
Später wurden Drahtspikes und -netze sowie Abwehrgele an Häuserfassaden und auf Dachrinnen montiert (der letzte Schrei in Schaffhausen waren gar Elektroschocksysteme). Die Hartnäckigkeit der Stadttaube stach indes auch diese, gelinde gesagt tierunfreundliche, Variante aus: Die Massnahmen taugten nur punktuell, und war eine Taube motiviert genug, überwand sie auch solche Hürden. Allerdings verletzte sich dabei auch so manches Tier – und verstümmelte Vögel trugen nicht gerade zum Ruf der Tauben bei.
Das Zwischenfazit: Schaffhausen versuchte, die Stadttiere auf Biegen und Brechen zu kontrollieren. Der Taube wars egal. Sie blieb gegenüber der sie umgebenden Bürokratie geradezu herablassend. Guru guru guru.
Ende der 90er Jahre brachte schliesslich ein Basler Professor Licht ins Dunkel des städtischen Taubenlebens. Auf den Grundlagen von Daniel Haag Wackernagels Forschung begannen zahlreiche Städte in der Schweiz – die alle dasselbe «Taubenproblem» hatten – mit der Ausarbeitung von Taubenkonzepten. In Schaffhausen betraute der damalige Stadtökologe Urs Capaul die Zürcher Orniplan AG mit dieser Aufgabe. Darin vorgesehen war, erstens, ein absolutes Fütterungsverbot. Die Stadt lancierte eine Plakatkampagne, um die menschlichen Taubenfreundinnen darauf zu sensibilisieren. Zweitens: Gegen die parasitenbefallenen Taubenslums halfen nur gepflegte Notschlafstellen. Die Stadt errichtete Taubenschläge. Von jenen im Estrich des Schaffhauser Bahnhofs, im Güterhof auf der Schifflände und jenem im Obertorturm ist heute nur der letztere noch übrig.
Geburtenkontrolle mit Gips
Hier steht in 95 Stufen Höhe an einem zugigen Novembernachmittag Benjamin Homberger, der Teile der Aufgaben von Urs Capaul im späten 2020 übernahm. Er zeigt die napfartigen Nester und erzählt, dass Tauben sehr bescheidene Nestbauer sind – mehr als ein paar Zweiglein gibts für den Nachwuchs nicht. Und er erklärt: Der Taubenschlag taugt zu mehr als nur einer regelmässig gesäuberten Schlaf- und Niststelle. Er dient auch der Geburtenkontrolle. «Legen die Tauben hier ein Ei, ersetzen wir es durch eines aus Gips.» Würde man die Eier ersatzlos entfernen, könnten die sehr fruchtbaren Paare einfach zackig ein neues legen. «Auf diese Art sind sie länger beschäftigt. Es dauert, bis sie schnallen, dass aus diesem Ei nichts mehr wird.»
Wie viele Tauben heute in Schaffhausen leben, weiss niemand so wirklich – eine Statistik oder Populationszählung wird nicht mehr erhoben. Benjamin Homberger, inoffizieller Taubenchef, rechnet mit umgefähr 300 Brutpaaren im Altstadtraum. «Es sind sicher nicht mehr Tausende», das ist das Einzige, was er mit Gewissheit sagen kann. Die Stadt hat also – vorerst wenigstens – gewonnen: Die gelegentlichen Kampagnen gegen die Taubenfütterung fruchten, die Bestände sind auf einem Rekordtief.
Gerade angesichts dessen bleibt die Frage, warum aktuell nicht mehr für den Schutz der Tiere vor Krankheiten wie der für sie tödlichen Pest getan wird. Dazu weiss Homberger: Es liegt an der Grenze, die wir zwischen Haustieren, Nutztieren und Wildtieren machen. Offiziell gehören Tauben zu den Wildtieren. «Man kann sich zwar fragen, ob das sinnvoll ist, da die Stadttauben verwilderte Haus- und Brieftauben sind. Aber als Wildtier ist die Verantwortung anders geregelt als etwa bei Haustieren. Und da haben viele die Einstellung, dass der Mensch in die Natur so wenig wie möglich eingreifen soll.» Er, selber Tierfreund, für den die Tauben klar zum Stadtbild gehören, sei der Ansicht, dass Hilfe für erkrankte Tiere verhältnismässig sein müsse. «Es gibt dokumentierte Fälle von Tauben, die die Taubenpest überlebt haben. Aber ihnen zu helfen, braucht monatelange Zwangsernährung. Das ist weder artgerecht noch verhältnismässig.»
Prunkvolle Portraits
Letztlich hat also so ziemlich alles an der Stadttaube mit dem Menschen zu tun: ihre Abstammung, ihre Gesundheit und Krankheit, ihre Ernährung, ihr Unterschlupf und Nachwuchs.
Im Umkehrschluss heisst das: Man könnte den Tauben auch anders begegnen.
Der Schaffhauser Künstler Patrick Werner machte sich vor drei Jahren auf die Suche nach der Persönlichkeit des umstrittenen Individuums Stadttaube. Weil ihn, wie er sagt, interessierte, wie Tiere den urbanen Lebensraum besiedeln – und die Stadt daher nie dem Menschen allein gehört. Aus diesen Erkenntnissen schuf Werner Portraits. «Historisch ist ein Portrait die royalste Art, jemanden abzubilden», erklärt er, «lange war es dem Adel vorbehalten, sich auf diese Weise darstellen zu lassen.» Schaut man sich die Bilder an, wird einem aber klar: In Erhabenheit, Prunk und Stolz stehen die ignorierten Städterinnen dem Adel in nichts nach.
Jetzt müssen sie nur wieder gesunden.