Frau Pilz

8. November 2021, Mattias Greuter

Der Wald ist ihre Kathedrale: Ruth ­Bänziger hat sich ganz den Pilzen verschrieben. Mit ansteckender Begeisterung und enormem Wissen.

Herbst 1975, auf der Forch im Zürcher Oberland: amtliche Pilzkontrolle zuhause beim Ehepaar Vontobel. Die Leute stehen mit ihren Pilzkörben an, von Herrn Vontobel begrüsst und zum Vorsortieren der Pilze avisiert. Am Stubentisch sitzt Frau Vontobel und kontrolliert alle gefundenen Pilze.

Es gibt viel zu tun, deshalb hat sie eine Assistentin: ihre 20-jährige Tochter Ruth, die seit Kindsbeinen mithilft. Sie schreibt auf die Kontrollscheine, was die Mutter diktiert: Fünfhundert Gramm Maronenröhrlinge, essbar. Vierhundert Gramm Anis-Champignons, essbar. Am Schluss unterschreibt die Mutter das Formular.

«Irgendwann kannte ich die Pilze genau und hätte auch selber unterschreiben können», sagt Ruth, die heute Bänziger heisst, als sie diese Geschichte fast ein halbes Jahrhundert später erzählt.

Ohne Pilz kein Mensch

Ohne Pilze gäbe es kein Penizillin, kein LSD, keine Wälder und keine Landwirtschaft – letztlich keine Menschen. «Wir sind ohne sie undenkbar», zitierte die WOZ kürzlich einen britischen Pilzforscher. Grund genug, mehr über das Reich der Pilze wissen zu wollen.

Die richtige Gesprächspartnerin steht für die AZ seit Jahren fest. Mehrere Kontrolleure sagen übereinstimmend: Die fachkundigste Expertin der Region ist Ruth Bänziger. 40 Jahre lang sass sie im Vorstand der Vereinigung amtlicher Pilzkontrollorgane (VAPKO), seit 1989 amtet sie als Kontrolleurin für die Stadt Schaffhausen, zudem hilft sie in weiteren Gemeinden aus. Jeden Herbst ist sie im Dauereinsatz bei Pilzkontrollen, Pilzkursen und Pilzkontrolleur-Anwärterinnen-Schulungen. Dieser Text hätte eigentlich im letzten oder vorletzten Herbst entstehen sollen. Aber für einen Pressetermin im Wald fehlte Bänziger immer die Zeit.

Doch nun haben wir einen der begehrten Plätze in Ruth Bänzigers Pilzkurs ergattert: drei Exkursionen in den Schwarzwald. Würde man alles aufschreiben und ordnen, was sie dabei erzählt, hätte man geschätzt ein halbes Pilzbestimmungsbuch zusammen, eine Handvoll Rezepte und eine ganze Reihe von markigen Sprüchen und Weisheiten. «Beim Pilzlen hat man drei Mal Freude», deklariert sie auf dem Weg in den Wald: «Einmal, weil man einen schönen Spaziergang im Wald macht. Das zweite Mal, wenn man etwas findet, und das dritte Mal, wenn man die Pilze auf dem Teller hat.» Die Morgensonne streicht über die dunklen Baumwipfel, und Ruth Bänziger schwärmt voller Vorfreude: «Der Wald ist meine Kathedrale.»

Mehr noch als die langen, dunklen Haare und der aufmerksame Blick sind es die schnellen und sicheren Bewegungen, die Bänziger jung, fast alterslos erscheinen lassen. Dazu eine unerschöpfliche Begeisterung und ein enormes Wissen über die Natur: So stellt man sich Frauen vor, die in früheren Jahrhunderten als Hexen verfolgt wurden.

Der «Willige Molchling»

Während des Pilzkurses im Wald und bei der anschliessenden Besprechung der Funde in einer Gartenbeiz spricht Bänziger schnell, ausführlich und etwas ungeordnet. Doch die Expertin versteht, das Wichtigste mehrmals zu wiederholen.

Zum Beispiel diese Faustregel: Wer Täublinge an ihrem brüchigen Fleisch und den splitternden Lamellen sicher als solche erkennen kann, darf sie probieren: die essbaren sind mild, die ungeniessbaren scharf.

Neben der Wiederholung ist der Humor Bänzigers Garant dafür, dass ihre Worte in Erinnerung bleiben. «Pilze sind wie Menschen», deklariert sie: «Nur wenige sind wirklich giftig, aber auch mit den ungeniessbaren kannst du nichts anfragen.» Wenn sie den Wolligen Milchling als «Willigen Molchling» bezeichnet, kichert die ganze Truppe und wird ihn nicht mehr vergessen.

Ganz in der Nähe entdeckt ein Kursteilnehmer einen Pfefferröhrling. Er ist essbar, doch Ruth Bänziger holt zu einer kleinen Tirade aus: «Beim Zubereiten wird er geruchs- und geschmacklos, sinn- und zweckfrei, schwammig und pampig.» Dennoch lohne es sich, ihn zu kennen: «Der Pfefferröhrling ist der zweitbeste Steinpilzanzeiger.» Der beste sei übrigens der Mehl-Räsling.

2021 ist ein schlechtes Pilzjahr, vor allem die begehrten Steinpilze machen sich rar. Doch wer sich einen Bruchteil von Bänzigers Predigten in der Kathedrale merken kann, kennt eigentlich keine schlechten Pilzjahre mehr und findet immer etwas Schmackhaftes.

«Pilze sind wie Menschen: Nur wenige sind wirklich giftig, aber auch mit den ungeniessbaren kannst du nichts anfragen.»

Ruth Bänziger

Besonders einprägsam, und das ist auch gut so, sind Ruth Bänzigers Geschichten über besonders giftige Pilze.

Der Parfümierte Trichterling etwa bietet Stoff für wahre Albträume. Sein Nervengift führt zu grauenvollen Schmerzen und dem Gefühl von beissender Hitze in den Extremitäten, vor allem an den Fingerkuppen und in der Nasenspitze. Betroffene haben mit Eis Linderung gesucht und sich Vereisungen zugezogen, weil sie die Kälte nicht mehr spüren konnten. Übersteigert empfindlich werden die Nerven im Gegenzug für feinste Berührungen, schon die Bettdecke schmerzt unerträglich auf der Haut. «Die Vergiftung an sich ist nicht tödlich, aber mehrere Menschen haben sich das Leben genommen, weil sie die Schmerzen nicht ausgehalten haben», erzählt Ruth Bänziger.

Im Zuge der globalen Erwärmung hat der Parfümierte Trichterling neue Lebensräume gefunden und wurde auch in der Schweiz schon nachgewiesen. Weil er von seinen ungiftigen Cousins, dem Ockerbraunen Trichterling und dem Fuchsigen Rötelritterling, von Auge nicht zu unterscheiden ist, dürfen die Pilzkontrollen diese nicht mehr freigeben.

Ein Pilzbuchregal im Kopf

Ruth Bänziger kann über 500 Pilzarten ohne Mikroskop und Bestimmungsbuch sicher identifizieren. In ihrem Kopf stecken die Erfahrung von fünf Jahrzehnten und, so hört es sich jedenfalls an, ein Regal voller Pilzbücher.

Der Vermittlung dieses Wissens hat sich Ruth Bänziger voll und ganz verpflichtet, sie ist untrennbar verknüpft mit ihrer Leidenschaft für die Pilze. Neben Wissen teilt sie auch ihre Meinungen: zum Nebelgrauen Trichterling etwa, genannt Nebelkappe. Über ihn sagt sie Sätze wie: «Den habe ich nicht gern, seit ich ihn als Kind probieren musste», oder «Riechen Sie mal an diesem Pilz und überlegen Sie sich, ob Sie ihn essen wollen. Wenn ja, müssen Sie ihn fünf Minuten abkochen, das Wasser wegschütten, und können ihn dann als schilferiges Etwas weiterverarbeiten.» Wer das hört, lässt die Nebelkappe im Wald stehen.

In der Pilzkontrolle im Dreispitz ist wenig los. Ruth Bänziger hat Zeit für eine potenzielle Nachfolgerin, die sich gerade auf die Prüfung als Pilzkontrolleurin vorbereitet. Zu Übungszwecken hat sie eine grosse Auswahl Pilze aus dem Wald mitgebracht: «Munition». Auch eine zweite Pilzkontrolleurin ist dabei, sie hat neun Jahre Erfahrung und sagt: «Im Vergleich zu Ruth bin aber auch ich noch ein Lehrling.»

«Man darf keine hohen Erwartungen an die Pilze haben. Aber an die Natur.»

Ruth Bänziger

Eine Familie kommt vorbei und breitet ihre Funde auf dem Tisch aus. «Das hier sind Schwefelköpfe», sagt Ruth Bänziger, «und zwar der stark giftige Grünblättrige Schwefelkopf.» Sie dreht einen der kleinen Pilze um: «Sehen Sie, der oberste Teil des Stiels ist grüngelb. Beim essbaren Rauchblättrigen Schwefelkopf wäre der Stiel rahmweiss bis hellbraun.»

Es gibt noch ein weiteres Unterscheidungsmerkmal: Ruth Bänziger bittet den davon sichtlich irritierten Familienvater, ein kleines Stück des Giftpilzes zu probieren und dann auszuspucken. Er schmeckt stark bitter, der essbare, sehr schmackhafte Verwandte wäre «mild, würzig, nussig». Darauf sollte man sich aber nicht verlassen: «Jeder dritte Mensch kann diese Bitterstoffe nicht schmecken», erklärt Bänziger, deshalb habe sie den Mann probieren lassen. Ausserdem eignet sich der Geschmackstest nur für Fortgeschrittene, die andere Arten ausschliessen können, bei denen schon geringste Mengen gefährlich sein können.

«Wir machen jetzt einen halben Pilzkurs», sagt Ruth Bänziger und wirkt darüber ziemlich glücklich. Am Ende hat die Familie viel gelernt – «Danke vielmal, das war wahnsinnig spannend» – musste aber drei Viertel ihrer Beute in der Pilzkontrollstelle lassen. «Man darf keine hohen Erwartungen an die Pilze haben», doziert Bänziger, «aber an die Natur.»

Ein Leben für die Pilze

Die Welt der Pilze hat Ruth Bänzigers Leben geprägt. Über die Pilzlerei lernte sie auch ihren Mann kennen: Er absolvierte 1988 einen ­VAPKO-Pilzkontrolleur-Prüfungskurs. Sie, bereits erfahrene Expertin, war als Prüfungsprotokollführerin dabei. Beim Nachtessen am Abend vor der Prüfung habe es «schnell gefunkt», sagt Bänziger mit einem Augenzwinkern. Er bestand die Prüfung und darauf, sie bald wiederzusehen. «Ich sagte: Am nächsten Wochenende ist die grosse VAPKO-Tagung. Dort können wir uns treffen.» Wenig später heirateten die beiden, ausserdem wurden sie kurz nacheinander in die Pilzkontrolle der Stadt Schaffhausen gewählt.

In der Pilzkontrolle Dreispitz hängen die Prüfungsdiplome von Ruth und Rolf Bänziger nebeneinander an der Wand: Beide haben mit dem Prädikat «sehr gut» bestanden, sie 1977, er 1988. Rolf Bänziger ist dieses Jahr verstorben. Als Ruth Bänziger nach der letzten Pilzkontrolle des Jahres aufräumt, nimmt sie das Diplom ihres Mannes von der Wand und mit nach Hause.

Mit ihm teilte sie eine Leidenschaft für die Natur, die Ruth Bänzigers Pilzbegeisterung antreibt. Eher nebenbei erwähnt sie ihre zweite Passion, die Orchideen: Auch hier gehört Bänziger zu den Expertinnen und gehört dem Vorstand der Arbeitsgruppe Einheimische Orchideen Schweiz an. Angehenden Pilzlerinnen und Pilzlern gibt sie neben ihrem Wissen auch ihren sorgfältigen, liebevollen Umgang mit der Natur auf den Weg. Wenn sie einen grossen Pilz mit dem Messer aus der Erde gehebelt hat, drückt sie das entstandene Loch vorsichtig wieder zu.

«Pilze bleiben immer spannend, man ist nie fertig», sagt sie auf die Frage, was sie derart fasziniert, dass sie der Pilzlerei ihr ganzes Leben widmet: «In den Pilzen steckt ein riesiges Forschungspotenzial. Es gibt Pilze, die PET recyceln oder Erdölreste abbauen können. Ein Holzkeulen-Pilz verändert die Struktur von Ahornholz so, dass es beim Geigenbau eine Klangreinheit erreicht, die einer Stradivari nahekommt. In den Pilzen schlummern ungeahnte Möglichkeiten und Erfolgsrezepte. Das Penizillin war nur der Anfang.»

Während wir Ruth Bänziger zuhören, kommt eine Vermutung auf: Die Leute stehen bei Kontrolleurin Bänziger nicht wegen der Pilze Schlange. Sondern wegen ihrer Erzählungen.