Klischees und Zigaretten

3. November 2021, Nora Leutert
Kevin Brühlmann vor der ehemaligen Krummgass-Kommune KG8. Er solle nicht schielen, ruft ein älterer Mann im Vorbeigehen.
Kevin Brühlmann vor der ehemaligen Krummgass-Kommune KG8. Er solle nicht schielen, ruft ein älterer Mann im Vorbeigehen.

Journalist Kevin Brühlmann hat ein Buch über die Schaffhauser 68er geschrieben. Ein Gespräch über politische Kampfzonen, das Schreiben und «polizeilich erstellte Drogen- und Sexfantasien».

Kevin Brühlmanns Rucksack ist kaputt. Der ehemalige AZ-Redakteur entschuldigt sich für das Laptop-Täschli, das er stattdessen mit sich trägt, als wir uns in der Schaffhauser Krummgasse treffen. Das Täschli ist von seinem heutigen Arbeitgeber «Tagesanzeiger» und verleiht Brühlmann den diskreten Charme eines BWL-Studenten, zumindest nach seinem Dafürhalten.

Eigentlich aber ist Brühlmann frischgebackener Buchautor. Sein erstes Werk ist im Druck: «Schaffhausen muss sterben, damit wir leben können», eine historische Reportage über die lokale Revolte von 1968, die im Hausverlag der Schaffhauser AZ erscheint. «Kevin Brühlmanns Reportage bringt die Gonzo-Geschichtsschreibung in die Schweizer Provinz», schreibt seine Geschichts-Professorin Monika Dommann dazu.

Zeit für eine Prüfung auf Herz und Leber. Das Interview gegenlesen will der Journalist nicht.

Du hast gerade dein erstes Buch geschrieben. Ist es so geworden, wie du dir das immer vorgestellt hast?

Kevin Brühlmann: Mh, ja. Ich hatte mir schon früher ausgemalt, dass ich mal ein Buch schreiben würde. Mit 25, so der Plan. Ich schrieb dann aber nur ein paar Sätze, und es war so schlecht. Zum Glück hab ich es nicht weiterverfolgt. Darum bin ich jetzt recht zufrieden mit dem Ergebnis.

Ein Roman wäre das damals gewesen, nehme ich an.

Genau.

Jetzt hast du eine 240-seitige Reportage geschrieben, die auf deiner Masterarbeit beruht: Ein wilder Ritt durch das Schaffhauser 68, erzählt aus deiner Sicht. Im Journalismus und in der Geschichtswissenschaft erst recht wird es nicht immer gern gesehen, wenn man viel von sich selbst in die Texte reinpackt.

Schon. Aber ich finde das Schreiben aus der Ich-Perspektive das Ehrlichste.

Weil es keine Neutralität gibt.

Ja. Es gibt Fairness, und die sollte man unbedingt einhalten: Die Leute informieren, wenn man über sie schreibt, sie mit Vorwürfen konfrontieren; solche Dinge. Aber ansonsten glaube ich nicht, dass es so etwas wie objektiven Journalismus gibt.

Und objektive Geschichtsschreibung?

Auch nicht. Anstatt auf buchhalterische Art Objektivität vorzugaukeln sollte man lieber evident machen, wo man als Autor steht. Geschichte ist immer aus der Gegenwart heraus gemacht, und sie ist immer eine Kampfzone, wenn man es martialisch sagen will. Auch 68 ist ein politisch umkämpftes Feld.

Was für eins?

Auf der einen Seite hat man die Linken und Liberalen, die in 68 eine Befreiung der Gesellschaft sehen. Auf der anderen Seite die Konservativen, für die an diesem Punkt das Verderben und der Verlust traditioneller Werte über die westliche Gesellschaft hereinbricht. Das sind die zwei Pole der Klischees.

Und wo stehst du? Warum interessieren dich die 68er?

Ich wollte herausfinden, woher diese Klischees kommen und warum sie immer noch so verbreitet sind. Auch heute werden sie noch in politischen Diskussionen eingesetzt: Rechte sagen beispielsweise, die Schulen hätten sich massiv verschlechtert mit den verweichlichten 68er-Lehrerinnen und Lehrern.

Ich hätte jetzt gedacht, dein Interesse wäre durch eine prägende Begegnung mit irgendeinem missverstandenen Althippie entstanden.

Nein, nicht wirklich. Ich stiess während früherer Recherchen auf die KG8, die Wohngemeinschaft an der Krummgasse 8, wo in Schaffhausen der Boden der 68er-Bewegung gelegt wurde. Der Ort war ein weisser Fleck in der Geschichtsschreibung.

Hat sich dein Bild der 68er-Generation verändert?

Meine Vorstellungen waren zuvor von Büchern und Filmen geprägt. Zum Beispiel von The Big Lebowski respektive von dem Dude: einem gescheiterten Alt-68er, der einige Jahrzehnte später alle Ideale verloren hat und sich, in völlige Lethargie verfallen, den ganzen Tag die Birne zukifft. Das war mein Bild und das hat sich fundamental verschoben.

Hast du während deiner Recherchen keine Dudes angetroffen? Du hast ja eine Menge Schaffhauser 68er in ihren Wohnungen und Büros besucht.

Im Gegenteil. Die Leute waren eigentlich alle sehr aufgeschlossen und neugierig. Sogar Peter Hartmeier als Liberaler sagte, die Energie von damals habe ihn fürs Leben geprägt.

Juni 1971: Pop-Festival auf dem Griesbach in Schaffhausen. Foto: Bruno + Eric Bührer

Um den Gedanken kommt man fast nicht rum: Hättest du lieber damals gelebt?

Nein, ne. Ich glaube ich hätte gerne mal die Energie dieser Jahre gespürt. Als Linker musstest du aber auch befürchten, dass du keinen Job kriegst, wurdest fichiert und als gewalttätiger Kommunist abgestempelt, deine Argumente wurden gar nicht erst ernsthaft angehört.

Bist du nicht Gefahr gelaufen, der eigenen Nostalgie aufzusitzen?

Als ich die Leute traf und interviewte, war ich teilweise schon beeindruckt, wie sie sich damals mit Autoritäten angelegt hatten. Mitglieder der Lehrlingsgruppe Hydra etwa schlossen einen Personalchef im Büro ein und warteten, bis er aufs Klo musste – weil die Lehrlinge keine WC-Pause machen durften. Aber beim Schreiben entliebt man sich dann wieder und nimmt eine Distanz ein.

Eine Distanz zu den Heldengeschichten.

Ja, genau.

Was willst du lieber: Deine eigenen Vorstellungen bestätigt vorfinden, oder völlig über den Haufen geworfen?

Ich gehe eigentlich immer raus und hoffe, ich finde etwas, das ich nie erwartet hätte.

Journalisten wird manchmal vorgeworfen, sie hätten ihre Geschichte im Kopf schon geschrieben.

Ich stritt mich mal mit einem guten Kollegen. Wir schrieben zusammen einen Artikel und er wollte damit schon beginnen, obwohl wir eine Person noch nicht getroffen hatten. Ich fand, dass das sicher nicht geht. Ich kann erst schreiben, wenn ich alles vor mir habe, erst dann einen roten Faden und Folgerungen daraus ziehen. Das heisst nicht, dass ich nicht auch schon auf meine eigenen Vorannahmen reingefallen wäre.

Man muss schon aufpassen, dass man nicht immer wieder die bestehenden eigenen Bilder zementiert. Nur schon Sprachbilder: Beschreiben, wie es wirklich ist, und nicht automatische Wendungen gebrauchen. Deine Artikel und nun auch dein Buch tun das nicht: Sie sind keine Bestätigung des Immergleichen.

Wenn es so ist, freut mich das sehr.

Hast du an diesem Buch gelitten?

Zwischendurch ja, da wollte ich es wirklich verbrennen. Es war ein Spezialfall, weil es meine Masterarbeit war und die war recht trocken. Ich musste es ziemlich umstrukturieren, daran habe ich am meisten gelitten.

Und sonst: Bist du ein leidender Schreiber?

Ich bin glaub schon ein Instinktschreiber. Aber ja, das Schreiben ist immer ein Sauhund. Man muss es irgendwie bändigen.

Du hast dein Buch während deines regulären Reporterjobs beim Tagesanzeiger gemacht. Erfüllst du das Bild des dauerarbeitenden Journalisten, der als Kompensation zu viel trinkt und schlotet?

Ich glaube, ich habe schon mehr geraucht während des Buchschreibens. Aber ein richtiger Raucher bin ich deswegen immer noch nicht.

Muss man als Journalist ein Image pflegen?

Hm naja, nein. Ich rauche dann, wenn ich nervös bin. Vor kurzem musste ich einen Neonazi besuchen, das war so ein Moment. Und dann war er nicht mal zu Hause. Und als ich für mein Buch zu dem mutmasslichen Spitzel reiste, da war ich auch nervös.

Der Spitzel alias Genosse Pinguin: Kanti­schüler und Mitglied der Verbindung Scaphusia, der sich mutmasslich in die Redaktion der Schülerzeitung Bumerang einschleuste und Informationen an die Behörden weitergab.Den hast du als erwachsenen Mann zu Hause konfrontiert. Klingelst du bei Recherchen öfters einfach mal bei jemandem an der Tür?

Ja, schon. Natürlich nicht bei besonders sensiblen oder traumatisierten Personen. Aber ansonsten ja, weil sich die Leute dann weniger einfach entziehen können.

Das braucht schon etwas Mut.

Oder einfach ein paar Zigaretten.

Konntest du bei deinem Buch viel von deiner Erfahrung als Journalist profitieren?

Nein, ich hatte vielmehr Glück. Ich bin im Stadtarchiv auf ein Dossier aus dem Besitz der Stadtpräsidenten Walther Bringolf und Felix Schwank gestossen. Darin enthalten war ein Polizeirapport. Ein riesiger Schatz, denn er sollte zeigen, wie die Bewegung überwacht wurde. Die Krummgass-Kommune KG8 zum Beispiel, oder andere WGs oder Keller, wo sich Jugendliche trafen, wurden observiert.

Hat dich das Ausmass der Überwachung überrascht?

Ja, sehr. Die KG8 zum Beispiel hat nichts Illegales gemacht, ausser etwa mal unerlaubterweise Plakate aufzuhängen. Die Jugendlichen mochten zwar Karl Marx gelesen haben, aber dass das Ganze völlig harmlos war, hätte man auch aus damaliger Sicht erkennen können. Trotzdem haben die Behörden einen riesigen Überwachungskatalog erstellt auf der diffusen Suche nach irgendwelchen Verstössen, Drogenkonsum etwa. Das ist auch eine Erkenntnis des Buches: Dass wegen der Überwachung die Fantasien eine Eigendynamik entwickelt haben. Die Klischees haben sich verselbstständigt.

Über freie Liebe zum Beispiel.

Genau, es waren polizeilich erstellte Drogen- und Sexphantasien, die niemals so stattgefunden haben.

Du meinst, da sass ein Beamter in seinem Kämmerchen und malte sich irgendwelche wilden Dinge aus.

Ja. Leute haben mir erzählt, wie sehr sie – nicht unbedingt von der Polizei, aber etwa von Verwandten und Lehrern – mit Erwartungen zum wilden Kommunen-Leben konfrontiert wurden. Dabei war das Frivolste, das sich in der KG8 je zutrug, dass ein Mitbewohner gerne alle Zimmertüren ausgehängt hätte, um freie Liebe und freie Sicht zu ermöglichen. Aber das wurde nie umgesetzt. Die Frauen haben sich erfolgreich dagegen gewehrt.

Was ist der Umkehrschluss? War das gesetzte Bürgertum versauter als die Langhaarigen selbst?

Viele Bürgerinnen und Bürger hätten es sich wohl so gewünscht für sich selbst.

Was bleibt in Schaffhausen von 68?

Einerseits bleiben Institutionen wie das Fass, wo wir jetzt gerade sitzen, auch wenn die Beiz nicht mehr genossenschaftlich organisiert ist. Andererseits bleibt etwas Strukturelles: Dass sich Interessengruppen immer mehr fragmentieren. Früher wären die Linken alle in der SP gewesen, heute splitten sie sich in viel mehr verschiedene Gruppierungen auf. Politik und Gesellschaft haben sich individualisiert. Es ist viel einfacher für viele Menschen, heute Anschluss zu finden.

Jetzt erzählst du Dinge, die du im Buch nicht alle schreibst. Dein Fazit dort fällt eher ernüchternd aus.

Der Schluss ist etwas zornig, ja. Ein wenig frustriert auch. Aber das hängt nicht mit der Aufsplitterung von Gruppen zusammen, die zuvor homogener waren. Sondern damit, dass die Utopien von 1968 ins Gegenteil verkehrt wurden. Die Mehrheitsgesellschaft hat sich aus der Freiheit, welche etwa die KG8 forderte, nur die individuelle Freiheit herausgegriffen. Alles andere, wie das soziale Gewissen, liess sie aussen vor. Die 68er waren der Meinung, dass wir alles erreichen können, aber nur gemeinsam. Und heute soll jeder alles alleine schaffen: Der American Dream hat sich durchgesetzt. Auch aufgrund von 68, obwohl das nicht der Plan war.

Dein Buch spricht für sich, so wie deine Reportagen das auch oft tun. Findest du Schlussfolgerungen überbewertet?

Logischerweise lasse ich meine Meinung einfliessen bei Reportagen. Aber ich glaube, die Leute sind schlau genug, um zu entscheiden, was sie aus dem Text mitnehmen. So reibt man sich auch an gewissen Tatsachen, und so entstehen eigene Gedanken.

Kantonsschülerinnen und -schüler protestieren im August 1968 gegen den Einmarsch der
Sowjetunion in die Tschechoslowakei. Foto: Max Baumann

Die historische Reportage «Schaffhausen muss sterben, damit wir leben können» erscheint am 5. November im Verlag am Platz. Es ist für 34.90 Franken im Schaffhauser Buchhandel erhältlich und kann hier bestellt werden: shaz.ch/revolte.