Vom mausarmen Einwanderer zum Magistraten. In 75 Jahren schrieben die Tamagnis eine Aufsteigergeschichte – mit guten Riechern und roten Zolggen.
«Dä Tamagni bringts au, wäme’s holt» – der Slogan ist längst geflügeltes Wort. Nun feiert das Familienunternehmen Tamagni Jubiläum. Vor 75 Jahren stieg ein junger Büezer aus dem Tessin in Neuhausen in den Getränkehandel ein. Heute ist sein Enkel Regierungsrat. Die Tamagnis sind die Kennedys von Schaffhausen. Die rasante Geschichte eines Aufstiegs, erzählt von der zweiten und dritten Generation, Nerio und Dino – bei einer Pfeife im Hauptquartier und bei Falkenbier und Canapés auf Staatskosten in Lang’s Café.
Akquise mit einem Halbeli Roten
Rodolfo Tamagni kam 1911 in San Antonio zur Welt. Das Dörflein bei Bellinzona hatte von der Köhlerei in den umliegenden Wäldern gelebt, bis die Lombardei nach der Eröffnung des Gotthard-Tunnels 1882 begann, Steinkohle aus Deutschland zu importieren, am Tessin vorbei. Rodolfo sah wenig Perspektive und fand eine Büez im Norden, bei der SIG in Neuhausen. Erste Spuren hinterliess er dort 1930. Das Intelligenzblatt berichtete am 15. April von einer jugendlichen Einbrecherbande, die von der thurgauischen Kriminalkammer abgeurteilt worden war. Die fünf Burschen hatten in der Nacht auf den 1. März versucht, den Viehhändler Oberhansli in Baltbach auszurauben. Der 19-jährige Handlanger Rodolfo Tamagni musste ein Jahr ins Arbeitshaus. Danach fing er sich allmählich, wurde Hilfsmechaniker, arbeitete in einer Garage und heiratete seine Azelia, die aus dem Tessin nachzog. Sie hatte Geld, was dem Paar ermöglichte, 1946 die Neuhauser Limonadenfabrik Kummer & Co. zu kaufen. Es war der Startschuss.
Tamagni legte die Produktion mitsamt der mehrheitlich handbetriebenen Abfüllanlage still. Nur noch Syphonflaschen für den Barbetrieb füllte er ab, eine Maschine mit Transmissionsriemen und Viertelpferdemotor jagte 9 atü Druck in die Gläser. Die Maschine, ein «ziemliches Möbel», tat ihren Dienst noch bis 1970 und steht heute irgendwo im Keller des Tamagni-Hauptquartiers im Chlaffental, dem hintersten Zipfel von Neuhausen, wo Rodolfos Sohn Nerio wohnt, arbeitet und gerade seine Pfeife stopft.
Ab den späten 40er-Jahren konzentrierte sich Rodolfo ganz auf den Handel. Im Sortiment: Orangina, Vivi Cola, Eglisana, Elmer Citro und Henniez – viel mehr gab es einewäg nicht. Tamagnis Spezialität war die Akquise. Aus Rodolfo wurde Ruedi mit dem roten Zolggen. Er ging in die Beizen, trank mit den Wirten ein Halbeli Roten und versuchte, seine Limonaden in den Sortimenten zu platzieren. Er war allseits beliebt. Doch es gab ein Problem.
Die Restaurants in Neuhausen waren zu einem Grossteil Bierbeizen für die tausenden Arbeiter der SIG. Tamagni aber durfte kein Bier verkaufen, das Brauereikartell war viel zu stark. Das Problem sollte erst der Stammhalter lösen.
1942 bekamen Azelia und Rodolfo einen Sohn. Sie wollten ihn Nerio nennen, doch auf der Liste der in der Schweiz zulässigen Namen stand nur Nereo. Also fügten sie sich – zumindest für die offiziellen Papiere. Heute lautet seine Kreditkarte auf Nereo, die EC-Karte auf Nerio. Auch der italienische Nachname erfuhr über die Jahre eine Lautverschiebung – eine phonetische Assimilation gewissermassen. Aus Tamanni (dass das «g» verschluckt wird, ging den Schaffhausern nicht in den Kopf) wurde Tamaani (damit konnten selbst die Schlaatemer leben).
Der Milchbub rüstet auf
Auch Nerio startete in der Industrie und machte eine Lehre als Metallurgie-Laborant bei der Alusuisse. Ein halbes Jahr arbeitete er in der Röntgengrobstruktur, untersuchte Testschweissungen für Reaktorrohre. Die Strahlen seien damals wahnsinnig stark gewesen, sagt der 79-Jährige, der nach wie vor Getränke ausliefert und die Buchhaltung besorgt: «Ich hatte Dusel, dass ich zwei gesunde Kinder auf die Welt stellen konnte.» 1962 stieg er in den Familienbetrieb ein, später wird die Firma umbenannt in R. Tamagni und Sohn. Nerio wurde Chauffeur. Einige Jahre zuvor hatte der Vater angefangen, sich auch als Transporteur zu betätigen, er hatte einen Kipplastwagen mit 182 PS gekauft, dazumal eine Gewaltsmaschine. Bis 1966 machten Tamagni auch Transporte, Umzüge, «Italienfuhren», in denen sie Gastarbeiter zurück nach Italien geleiteten. «Wir mussten schauen, dass wir irgendwie Chöle reinbekommen», sagt Nerio und zieht an der Pfeife.
Schon als er als 20-Jähriger in den Betrieb einstieg, bemerkte er die Schieflage: «Mein Vater war ein typischer Ticinese. Er war kein Geschäftsmann, er wollte nur Geschäftsmann spielen.» Die Firma sei im Loch gewesen. Der Jungspund verzichtete auf seinen Lohn, um die Chauffeure zu bezahlen, und machte Buchhaltungskurse an der Migros-Schule. «In Algebra habe ich geleuchtet», erzählt er. Er sah: Die Buchhaltung des Vaters war prinzipiell fünf Jahre hintendrein. Ruedi habe dem Treuhänder nicht mal die Preisänderungen durchgegeben. Dafür klammerte er auch nicht, als der Sohn Anstalten machte, die strategische Leitung des Betriebs zu übernehmen. Mit 50 Jahren konzentrierte sich der gesellige Senior auf den «Aussendienst», auf die Kundschaft – vor Ort, in der Beiz.
Während Vater Ruedi mit Rotwein akquirierte, hausierte Sohn Nerio mit Espresso und Ovomaltine. Er sei als Milchbub bekannt gewesen, doch keineswegs grün hinter den Ohren.
In den 60er-Jahren gab es zwei Arten von Bierhändlern: Depositäre, die die Beizen beliefern durften; und Flaschenbierhändler, die von Baustelle zu Baustelle rannten, «Birra» schrien und so schnell mal ein paar Dutzend Harasse verkauften. Nerio entwickelte einen Plan, wie er Depositär werden könnte: Er brauchte einen eigenen Spunten. Dann war eines Tages der Hallauerhof im Dorfzentrum zu haben. Tamagni schlug zu, kaufte die Beiz «ab Blatt», ohne Besichtigung. Wobei: Den Keller kannte er schon von den Getränkelieferungen. Und die Mansarde auch. Da wohnte nämlich Ruža, eine junge Frau aus Serbien, die im Restaurant servierte und ihn später heiraten sollte. «Der hat es nicht nötig, den Hallauerhof zu besichtigen», spotteten seine Freunde. Der Plan jedenfalls ging auf. Er wisse nicht, woher er den Geschäftssinn habe, sagt Nerio Tamagni. «Wohl eher von der Mutter als vom Vater.»
Er habe nie Multimillionär werden wollen, «ich wollte einfach einen schönen Familienbetrieb, wo man sich wohlfühlt. Zuerst kommt die Firma, dann mein Portmonnaie.» 1968 eröffneten er und Ruža den ersten Getränkeabholmarkt der Schweiz. 1974 zogen sie um in ein blaues Blechhaus im Chlaffental, dem heutigen Standort.
Wie Nerio zur EDV-Avantgarde wurde
Unter Nerio Tamagni wurde aufgerüstet. «Meine Buchhaltung bestand aus Zahlenreihen mit 30 Zahlen von Minilochkarten, das konnte niemand begreifen ausser mir.» Bald gehörte der Getränkehandel Tamagni zur EDV-Avantgarde der Region, und in Neuhausen standen eine NCR-Buchungsmaschine mit angeschlossenem Lochkartenstanzer und eine Rechnungsmaschine von Precisa. Tamagnis Systeme blieben Eigenlösungen, und als er eines Tages an der Bürofachmesse in Oerlikon beim Stand der Firma Olivetti hängenblieb, die nicht nur Schreibmaschinen verkaufte, sondern auch Computer, schlug das Schicksal zu. 1981 kaufte er den ersten Mini-Computer für 40 000 Franken, mit echtem Bildschirm statt Konsolenlämpchen, «das musste Eindruck machen». Und Tamagni fand, die Programme seien zwar gut, aber man könne sie bestimmt noch etwas stärker ausreizen. Mit 40 Jahren war er der Älteste im Programmierkurs.
Nach den Schichten im Getränkehandel programmierte er nachts ein Administrationsprogramm. Und offenbar funktionierte das so gut, dass Olivetti das Programm kommerzialisieren wollte. «Die haben Vertreter auf die Getränkehändler losgelassen, so wurde ich zum Programmierer», sagt Nerio. Der Capo nutzt die Software heute noch im Chlaffental. Irgendwann aber habe er sich entscheiden müssen, sonst wäre die Gesundheit zum Teufel gewesen. Nerio Tamagni entschied sich für die Computer, gründete 1985 zusammen mit einem anderen Programmierer die tjf Computer AG, die bald ein Dutzend Mitarbeitende hatte und heute noch Software für den Getränkehandel produziert. Er verabschiedete sich vom Familienunternehmen Tamagni.
Doch auch Nerio hat einen Stammhalter: Dino.
«Papi, ich will Getränkehändler werden»
Regierungsrat Dino Tamagni parkiert seinen schwarzen Wagen am Feierabend beim Neuhauser Industrieplatz und sucht einen Ort, wo es gutes Bier gibt, «kein Feldschlösschen!». Ein paar Minuten später sitzt er in Lang’s Café. Später werden hausgemachte Canapés serviert. Sie gehen aufs Haus, obwohl Tamagni insistiert: «Jetzt könnte ich endlich mal Spesen aufschreiben.» Schliesslich spendiert der Staat der Eigentümerin halt ein paar Tassen Kaffee. Selbst politische Gegner sagen anerkennend, Tamagni bringe KMU-Pragmatismus in den Regierungsrat.
Dino Tamagni kommt 1968 zur Welt. Vater Nerios Legende besagt, der Sohn sei mit zehn Jahren zu ihm gekommen und habe gesagt: «Papi, ich will Getränkehändler werden.» Mit 15 habe er gefragt, was er lernen soll, um Getränkehändler zu werden. Schliesslich absolvierte er eine Banklehre. Danach die Weinfachschule. «Er hat fadengerade aufs Ziel zugesteuert.»
Doch als Vater Nerio 1985 den Betrieb verliess, war Dino noch zu jung, um zu übernehmen. Die Mutter Ruža hatte schon früher die Kunden betreut, nun übernahm sie auch den Aussendienst. «Die Frauen haben immer mitgearbeitet im Betrieb. Sonst hätte es niemals funktioniert», sagt Nerio. Die Geschäftsführung vertraute man dennoch erst einmal einem Externen an. Doch auf die Dauer funktionierte das nicht – also musste Dino ran. «Mit dem Geschäft habe ich mir eine Fussfessel angezogen», sagt er. «Plötzlich hatte ich eine Verantwortung für die Mitarbeitenden, musste acht Leute beschäftigen. Mit 27.»
Es waren die 90er-Jahre und Dino Tamagni führte die Philosophie seines Vaters weiter: «Ich habe lieber einen neuen Stapler gekauft als einen Sportwagen», sagt er. Doch langsam schlitterte er auch in die Politik.
«Ich habe eine Freundin, einen Töff – und Flieder»
Vater Nerio war der Bauern-. Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) beigetreten, der Vorläuferin der SVP. Zufällig, wie er sagt, er habe den Präsidenten von den Pfadern gekannt. Schiesslich sass er 12 Jahre im Einwohnerrat, war ein paar Jahre Parteipräsident und Kassier. Heute sagt er, er habe sich bei der BGB wohler gefühlt als später bei der SVP.
Als Dino Anfang 20 war, rief Nerio den Parteipräsidenten an und sagte, er solle den Sohn überreden, für den Einwohnerrat zu kandidieren. Dieser sagte zuerst ab: «Keine Zeit – Ich habe eine Freundin, ich habe einen Töff, ich habe Flieder.» Doch irgendwann sagte er, nun gut, sie könnten seinen Namen haben für die Liste. Er wurde gewählt, und es gefiel ihm, später rutschte er in den Kantonsrat nach. Als ein Platz frei wurde, wollte er in den Neuhauser Gemeinderat und schlug die Gegenkandidatin, SP-Frau Ulla Hafner, mit 14 Stimmen Differenz. Der Name Tamagni erwies sich als Türöffner.
Dino Tamagni erzählt beschwingt, nach zwei Stunden und ein paar Bier wird er sagen: «Jetzt habe ich aber ein Seelenstriptease gemacht!» Er erzählt von seiner Zehn-Jahre-Regel: Jede Dekade etwas Neues. «Ich sagte mir: Der Vater ist ja auch einfach gegangen.» Neben der Geschäftsleitung beim Getränkehandel und 50 Stellenprozent als Neuhauser Finanzreferent arbeitete er bald noch mit 50 Stellenprozent bei der Brauerei Falken, machte dort den Einkauf, ging in die Geschäftsleitung, reduzierte bei Tamagni. Vater Nerio sagt, Dino sei mit der Brauerei «liiert». Falken übernahm schliesslich einen kleinen Teil der Tamagni-Aktien, als «Backup», wie Sohn Dino sagt. Er hatte noch etwas vor.
Mit Mitte 30 begann er ein Betriebswirtschafts-Studium, berufsbegleitend, neben den Kindern. Abends um 10 Uhr setzte er sich an den Computer und büffelte Differenzial-Rechnungen. «Ich bin sehr ausgeglichen. Das letzte Mal zwei Wochen Ferien am Stück hatte ich 1992», sagt er. Dann war er bereit für den Regierungsrat.
2010 klappte es nicht, er unterlag parteiintern gegen Ernst Landolt. Er holte Anlauf und stach dann 2020 Daniel Preisig aus. Als SVP-Kandidat wurde er locker gewählt, und im Amt startete er gut. Er sei ein Schaffer, der nicht die grosse Bühne suche, sagen politische Freunde wie Feinde. Ein Neoliberaler, aber ein Brückenbauer. Sein Härtefall-Management in der Pandemie, das sei grosses Kino gewesen.
Beim Getränkehandel ist er draussen. Ehefrau Cinzia aber ist schon seit Jahren das Aushängeschild. Der Vater, der 2012 aus der Informatik ausstieg, im Hintergrund. Die Geschichte wiederholt sich. Doch wie lange noch? «Meine Töchter sind keine Getränkehändlerinnen», sagt Dino Tamagni. Ob das ein Männerberuf sei? «Nei… Mol… Nei.»
Die Getränkehandlung Tamagni wird wohl in ein paar Jahren an die Brauerei Falken übergehen.
Sie hat ihren Dienst getan. Der Aufstieg ist vollbracht.