«Mein Geheimnis ist, nicht abzuschalten»

4. Oktober 2021, Sharon Saameli

Ob in Bezug auf die Ehe für alle oder auf die schulischen Pandemiemassnahmen: Das Kindeswohl ist in aller Munde. Was heisst das überhaupt? Eine, die es wissen muss, ist KESB-Chefin Denise Freitag.

Denise Freitag ist seit dem 1. Januar Präsidentin der KESB. Sie empfängt uns am Montagvormittag in ihrem Büro. Bevor wir mit dem Gespräch beginnen, räumt sie noch rasch ihr Yogamätteli und eine Fitnessrolle weg. Der Becher mit der Meerjungfrau darf auf dem Tisch stehen bleiben – es ist das Werk einer ihrer Töchter.

AZ Frau Freitag, Sie sind nun seit genau neun Monaten im Amt. An wie vielen Händen ­zählen Sie Ihre schlaflosen Nächte ab?

Denise Freitag Eine reicht gut (lacht). Allein wegen der KESB hatte ich bis jetzt zum Glück keine schlaflose Nacht. Wenn, dann bei einer Ballung, ich habe ja auch ein Privatleben.

Dabei haben Sie ein schwieriges Amt in einer schwierigen Zeit übernommen.

Das stimmt. Wir spüren – pandemiebedingt – im Kinder- wie im Erwachsenenschutz eine Zunahme an Fällen. Nicht mehr in die Schule gehen können, isoliert sein, die Unsicherheiten darüber, wie es weitergeht… Das hat Spuren hinterlassen. Gottesdienste, Konzerte, Cafébesuche, all diese Dinge haben einen hohen Stellenwert, gerade für Menschen, die keine Angehörigen haben, die sie umsorgen. Es haben einfach nicht alle die gleichen Ressourcen, mit solchen Unsicherheiten umzugehen.

Wie zeigt sich das konkret?

Dann ist da plötzlich ein Schuldenberg, oder es sind Erkrankungen fortgeschritten, ohne dass jemand etwas gemerkt hätte. Alles in allem brauchen jetzt also viel mehr Menschen Unterstützung. Und die Eskalationen sind grösser, es stellen sich wesentlich komplexere Fragen als vor der Pandemie. Es kommt nicht von ungefähr, dass die psychiatrischen Kliniken ziemlich voll sind.

Wird die Unterstützung der KESB denn gern angenommen?

Ein grosser Teil der Betroffenen ist froh um die Unterstützung. Im Moment merken wir sogar, dass Menschen – auch Jugendliche – sich vermehrt persönlich bei uns melden, dass sie Unterstützung benötigen. Aber natürlich gibt es auch einen Teil, der die Unterstützungsangebote der KESB nur schwer annehmen kann; und es gibt auch Eltern, die uns unmöglich finden und Kinderschutzmassnahmen ablehnen.

Wie reagieren Sie in solchen Fällen?

Für uns ist wichtig, transparent und offen zu kommunizieren und gemeinsam mit den Betroffenen eine Lösung zu finden. Oft geht es dabei um Situationen, in denen Elternteile die Bedürfnisse ihrer Kinder – etwa aufgrund von Krankheiten oder einer Suchtmittelabhängigkeit – nicht wahrnehmen können. Dann ist das Kindeswohl gefährdet. Wir wollen diese Eltern befähigen und schauen, welchen unterstützenden Rahmen es braucht. Und nur wo das gar nicht möglich ist, wo alle niederschwelligen Hilfen gescheitert sind, müssen wir prüfen, ob das Kind in einer ausserfamiliären Wohnlösung besser aufgehoben ist. Solche Massnahmen sind zum Glück selten, und wir treffen sie nie alleine, sondern in einem interdisziplinär zusammengesetzten Gremium.

Sie arbeiten ja schon seit 2014 bei der KESB. Ein Vorteil?

Auf jeden Fall! Ich kannte die Abläufe und die meisten Mitarbeitenden schon. Ich wusste auch, wie die Arbeit an der Front funktioniert und womit man rechnen muss. Gerade in der Position als Präsidentin.

Ihre Vorgängerin Christine Thommen kann davon ein Lied singen. Am Montag musste sich ein Mann vor Gericht verantworten, der ihr Amtsmissbrauch vorgeworfen und sie beschuldigt hatte, sie habe ihm «die Kinder gestohlen» (s. Kasten). Der Fall dürfte typisch dafür sein, was der Behörde vorgeworfen wird.

Vorkommnisse wie diese wünscht man sich als Präsidentin natürlich nicht. Solche Vorwürfe sind belastend, wir sind ja auch Menschen und haben unsere Grenzen. Es ist komplex: Einerseits ermöglicht unser Rechtsstaat ja die Rechtmässigkeit der Verfahrensabläufe und der getroffenen Lösungen. Andererseits ist wichtig, derart starke Reaktionen von Betroffenen gegenüber Amtspersonen zu sanktionieren – besonders dann, wenn sie übers Ziel hinausschiessen oder gar haltlos sind.

Thommen und AZ vor Gericht

Welchen Angriffen eine KESB-Leiterin ausgesetzt sein kann, zeigt ein Fall, der am Montag, 27. September, vor Kantonsgericht behandelt wurde. Die ehemalige KESB-Chefin und heutige Stadträtin Christine Thommen wehrt sich mit einer Klage gegen einen Vater, der ihr immer wieder Amtsmissbrauch und «Kinderklau» vorgeworfen hat. Die Anklage gegen den Mann lautet unter anderem auf Verleumdung. Teil des Verfahrens ist auch AZ-Redaktor Mattias Greuter, der ihn wegen einer Drohung angezeigt hat. Mehr zum Fall erfahren Sie demnächst in der AZ.

Sie haben es eingangs gesagt: Die KESB ist dazu da, Menschen in komplexen Lebenslagen zu unterstützen. Gleichzeitig wird sie aber oft als Drohkulisse wahrgenommen. Woher kommt diese Diskrepanz?

Grundsätzlich kommt es im Kanton Schaffhausen selten zu Hassmails oder anderweitigen Angriffen auf uns als Personen. Wir haben durch weite Teile der Politik Rückhalt. Aber es ist wie überall in der Gesellschaft: Man spricht eher selten über schwierigste private Lebenssituationen und darüber, wie sie gelöst worden sind, etwa von der KESB. Das führt dazu, dass man vor allem dann von der KESB hört, wenn etwas angeprangert wird. Dazu kommt, dass wir zwar das Gesamtbild einer konkreten Situation kennen…

… Sie aber ans Amtsgeheimnis gebunden sind.

Genau. Das verbietet uns, selber proaktiv zu informieren. Und ein anderer Grund ist, dass wir in einem hochsensiblen Bereich arbeiten: Familie und Persönlichkeit. Da kann es sein, dass unsere Unterstützungsangebote anders aufgefasst werden als intendiert – nämlich als Eingriff.

«Ich nehme Kritik nicht als bedrohlich wahr, sondern als Möglichkeit zur Reflexion.»

Ist das nicht frustrierend für Sie?

Nein, nein. Kritik an unserer Arbeit nehmen wir ernst. In schwierigen Lebenssituationen gibt es nicht nur einen Weg, wie man vorgehen kann. Dies müssen wir bei unserer Arbeit immer wieder hinterfragen. Und wo gearbeitet wird, passieren Fehler – dort müssen wir ansetzen und in dem Sinne weiterkommen, dass wir das Beste für unsere Klientinnen und Klienten wollen. Ich nehme Kritik also nicht als bedrohlich wahr, sondern als Möglichkeit zur Reflexion und Veränderung. Sonst würde ich diesen Job nicht machen.

Wovor graut es Ihnen?

Davor, dass Menschen zu Schaden kommen. Ich hoffe inständig, dass das nicht passiert. Gleichzeitig weiss ich, dass wir nicht alles verhindern können. Von dieser Angst dürfen wir uns nicht leiten lassen. Was wir tun können und müssen, ist menschenwürdig und mit aller Sorgfalt mit den Leuten umzugehen. Das ist unsere Verantwortung – und ein Grund dafür, dass wir zum Beispiel bei Hausbesuchen immer das Vier-Augen-Prinzip anwenden. Aber zu denken, wir hätten alles im Griff, wäre vermessen. Ich nehme an, Sie sprechen den Fall Flaach an?

Nein. Ich dachte eher an den Fall Ken.

Ich weiss, wovon Sie reden. Ich lese die AZ.

Er war 18, als seine heroinabhängige Mutter erstochen wurde. Der Staat kümmerte sich jedoch kaum um ihn; er rutschte selber in den Drogensumpf, verschuldete sich (hier lesen Sie seine Geschichte). Am 7. September dieses Jahr nahm er sich, nicht ganz 30, das Leben.

Das habe ich nicht gewusst. Es ist leider so: Kinder von schwer suchtmittelabhängigen Eltern haben enorm schwierige Startbedingungen ins Leben – und oftmals eine Disposition für eine eigene Abhängigkeit. Wenn Jugendliche in solchen Verhältnissen so viel Verantwortung übernehmen müssen, ist der Umgang ganz schwierig. Ein junger Mann kann das emotional gar nicht tragen.

Als Kens Mutter getötet wurde, gab es die KESB ja noch nicht. Wie würde sie einen Fall wie seinen heute behandeln?

Wir achten darauf, dass Jugendliche wie er jede mögliche Form der Unterstützung erhalten, sodass sie eine gesunde Tagesstruktur haben. Hier ist eine ausserfamiliäre Wohnsituation oft die bessere Lösung. Eltern wollen zwar in den allermeisten Fällen das Beste für ihre Kinder. Gleichzeitig können Suchtmittelabhängige oft weniger zuverlässig für ihre Kinder da sein. Wir würden heute also jemanden suchen, der Jugendliche wie ihn begleitet. Das gelingt manchmal, manchmal aber leider nicht, weil die Voraussetzungen zu schwierig sind. Die Geschichte macht mich gerade sehr betroffen.

(Wir schweigen einen Moment.)

Sie haben eingangs das Kindeswohl genannt. Davon war in den letzten Monaten immer wieder die Rede, etwa in Bezug auf die Ehe für alle, aber auch in Bezug auf die Coronamassnahmen. Was bedeutet Kindeswohl überhaupt?

Kindeswohl bedeutet kurz und knapp, dass ein Kind sich entwickeln und entfalten kann. Wir sind – nebst allen vorgelagerten Stellen – also dann zuständig, wenn ein Kind in seiner Entwicklung behindert wird oder gefährdet ist. Dass heute so viel über das Kindeswohl gesprochen wird, begrüsse ich grundsätzlich. Es gab Zeiten, in denen das nicht diese Relevanz genoss.

Aber?

Man muss aufpassen. Hinter dem Begriff des Kindeswohls stehen sehr viele verschiedene Ebenen: das körperliche und psychische Wohl, die sexuelle Integrität, das Recht auf Bildung, auf Beziehungsbindung und Sicherheit, auf Beziehungen auch ausserhalb des Familiensystems, heisst: zu anderen Kindern. All diese Aspekte sind für sich wichtig, aber eben auch in ihrer Gesamtheit.

«Was das Beste fürs Kind ist: Darüber gehen die Wahrnehmungen auseinander.»

Wir haben kürzlich über eine Gruppe Mütter geschrieben, die darüber nachdenken, ihre Kinder aus der Schule zu nehmen. Ihr Argument war gerade das Kindeswohl.

Ja. Auch hier ist wichtig zu sagen: Grundsätzlich wollen Eltern für ihre Kinder das Beste. Das attestiere ich allen Eltern. Aber was das Beste ist: Hier gehen die Wahrnehmungen auseinander. Mit dem von Ihnen genannten Beispiel hat die KESB jedoch kaum zu tun, das beschäftigt eher die Schulen. Bei uns stets ein grosses Thema ist das Besuchsrecht, vor allem während des Lockdowns.

Inwiefern?

Es kam vor, dass ein Elternteil dem anderen das Besuchsrecht verweigerte – mit der Begründung, Angst vor einer Covid-Ansteckung zu haben. Und da müssen wir klar sagen, dass allein die Möglichkeit einer Ansteckung kein Grund ist, dass das Kind den anderen Elternteil nicht sehen darf. Wir stützen uns dabei auf die Empfehlungen der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz.

Wird hier ein Aspekt des Kindeswohls vorgeschoben, um Konflikten innerhalb der Beziehung aus dem Weg zu gehen?

Das kommt leider auch vor. Wenn es Konflikte zwischen den Eltern gibt, dann ist ihnen meiner Meinung nach klar zuzutrauen, diese Probleme zu bearbeiten. Im Interesse ihres Kindes müssen sie mit ihrer Situation ein Stück weit umgehen können. Das Kind steht im Mittelpunkt.

Sie sind den ganzen Tag mit Menschen konfrontiert, die teilweise enorm komplexe Probleme haben. Wie schalten Sie ab?

Mein Geheimnis ist, nicht abzuschalten. Es geht einfach anders weiter. Ich habe drei Kinder, davon leben noch zwei zuhause. Wenn ich bei ihnen bin, kann ich mit dem Kopf nicht in der Arbeit stecken bleiben. Meine Familie braucht mich. Das gibt mir eine natürliche Barriere, damit ich nicht zum Workaholic werde. Daneben schaue ich gut zu mir, oder sagen wir, ich versuche es.

Yoga über die Mittagspause?

Ja, ich versuche, morgens vor der Arbeit und manchmal über Mittag zu meditieren. Das ist mir wichtig, auch wenn ich es in keinem grossen Ausmass machen kann. Es ist mir wichtig, mich ständig weiterzuentwickeln, an den Anforderungen des Lebens zu wachsen. Und mein Fazit auch jetzt, nach – wie viel haben Sie gesagt?

Neun Monaten.

Genau. Ich machs ungebrochen gern. Unsere Arbeit ist ein Spiegel der Gesellschaft, das ist sehr vielseitig. Wir haben keine Routine, jeder Tag bringt neue Situationen und Fälle hervor – darunter natürlich auch belastende. Aber ich gehe grundsätzlich vom Guten aus. Mir kommt wohl zugute, dass ich ein von Grund auf optimistischer und zuversichtlicher Mensch bin.

Zur Person

Die Schaffhauserin Denise Freitag (*1969) schloss im Jahr 1994 ihr Jurastudium ab und absolvierte 2001 das Anwaltspatent. Zwischen 1997 und 2014 war sie Gerichtsschreiberin am kantonalen Obergericht. Ab 2013 war sie ein Jahr lang Ersatzbehördenmitglied bei der KESB, danach wurde sie Behördenmitglied. Per 1. Januar 2021 übernahm sie das KESB-Präsidium, nachdem ihre Vorgängerin Christine Thommen für die Amtsperiode 2021–2024 in den Stadtrat gewählt worden war.

Nebenberuflich hat Freitag die Kinderschutzgruppe des Kantons Schaffhausen aufgebaut und war über Jahre Vorstandsmitglied des Vereins Zweidihei, der sich mit Kinderbetreuung, SOS-Platzierungen und der Pflegekinderaufsicht befasste. Denise Freitag ist verheiratet und hat drei teilweise bereits erwachsene Kinder.